OGH 10ObS116/22i

OGH10ObS116/22i13.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Christina Hartl‑Wach (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Vodera (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*, geboren * 1997, *, vertreten durch Dr. Fabian Blumberger, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 26. Juli 2022, GZ 11 Rs 42/22 h‑16, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00116.22I.0913.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die 1997 geborene Klägerin hat vom 9. bis 14. Juli 2012 eine geringfügige Beschäftigung ausgeübt. Damit war sie nach dem ASVG in der Unfallversicherung pflichtversichert. Weiters war die Klägerin als arbeitslos (ohne Bezug) gemeldet; zeitweise hat sie auch Arbeitslosengeld bezogen. Sie hat damit insgesamt sechs Beitragsmonate in der Pflichtversicherung-Teilversicherung (APG) erworben.

[2] Mit Bescheid vom 25. Oktober 2021 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 29. Juni 2021 auf Zuerkennung einer Invaliditätspension ab, weil Invalidität nicht dauerhaft vorliege. Weiters liege vorübergehende Invalidität von zumindest sechs Monaten ebenfalls nicht vor, weshalb auch kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung und auch kein Anspruch auf medizinische oder berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe.

[3] Die Vorinstanzen wiesen das dagegen gerichtete Klagebegehren auf Gewährung der Invaliditätspension ab 1. Juli 2021 ab. Grundsätzliche Voraussetzung für die Gewährung einer Invaliditätspension sei der Eintritt in das Erwerbsleben. Diese Voraussetzung liege bei der Klägerin nicht vor, weil sie durch die Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung nicht in die Pflichtversicherung und in den Zeiträumen der Arbeitslosigkeit nicht in das Erwerbsleben eingetreten sei.

Rechtliche Beurteilung

[4] In der außerordentlichen Revision macht die Klägerin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO geltend.

[5] 1.1. Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit iSd § 255 Abs 1 bis 4 ASVG setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn einer Erwerbstätigkeit in einem für die Arbeitsfähigkeit im wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat (RIS‑Justiz RS0085107; RS0084829). Es ist daher immer auch entscheidungswesentlich, ob der Versicherte ursprünglich arbeitsfähig war und seine Arbeitsfähigkeit durch eine nachträglich eingetretene Verschlechterung beeinträchtigt wurde („herabgesunken“ ist). Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis eingebrachter, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit führen (RS0085107 [T1]; RS0084829 [T1]).

[6] 1.2. Maßgebend für den Zeitpunkt des Eintritts in das Berufsleben (Erwerbsleben) ist die „erstmalige Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung“ (vgl § 255 Abs 7 ASVG; RS0085107 [T13]). Der Besuch von Schulungsmaßnahmen nach dem AMFG bedeutet nach der Rechtsprechung etwa keinen Eintritt in das Erwerbsleben, auch wenn damit die Begründung einer Pflichtversicherung verbunden ist (10 ObS 69/17w SSV‑NF 31/40; 10 ObS 45/13k SSV‑NF 27/45; 10 ObS 105/12g SSV‑NF 26/65). Ist der Versicherte dementsprechend noch nicht in das Erwerbsleben eingetreten, kann ein Versicherungsfall iSd § 255 Abs 1 bis 4 ASVG somit nicht eingetreten sein (vgl 10 ObS 44/21z).

[7] 1.3. Nach dieser Rechtsprechung bedürfte es für das von der Klägerin geltend gemachte Vorliegen einer Invalidität nach § 255 Abs 1 bis 4 ASVG der Feststellung, dass sie tatsächlich eine die Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nach dem ASVG begründende Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts (10 ObS 45/13k SSV‑NF 27/45; 10 ObS 114/01i SSV‑NF 15/62) aufgenommen hätte, in welchem Fall ein maßgeblicher Vergleichszeitpunkt für die Veränderung der Arbeitsfähigkeit heranzuziehen und in weiterer Folge gegebenenfalls für diesen Zeitpunkt das Maß der Arbeitsfähigkeit der Klägerin festzustellen gewesen wäre.

[8] 1.4. Wenn die Vorinstanzen das Vorliegen dieser Voraussetzung verneinten, ist dies angesichts des festgestellten Sachverhalts nicht korrekturbedürftig.

[9] 1.4.1. Soweit die Klägerin den Eintritt in das Erwerbsleben in der von ihr ausgeübten geringfügigen Tätigkeit sieht, ist ihr mit den Vorinstanzen zu entgegnen, dass diese Tätigkeit nicht der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung unterlag. Ihre Bezugnahme auf die Rechtsprechung, nach der sogar eine bloß zweitägige Ferialarbeit als Eintritt in das Erwerbsleben gewertet werden könne, übergeht, dass auch danach vorausgesetzt wird, dass durch diese Beschäftigung eine Pflichtversicherung begründet wurde (10 ObS 59/05g SSV‑NF 19/49).

[10] 1.4.2. Dass die Klägerin überdies sechs Beitragsmonate der Pflichtversicherung-Teilversicherung (APG) erwarb und deswegen die Wartezeit nach § 236 Abs 4 Z 3 ASVG erfüllt, mag zutreffen. Der Revision lässt sich aber nicht nachvollziehbar entnehmen, welchen Einfluss dies auf die Beurteilung des Versicherungsfalls nach § 255 Abs 1 bis 4 ASVG haben soll. Die Klägerin bringt vielmehr selbst vor, dass es sich bei diesen Versicherungszeiten um durch das AMS durchgeführte Maßnahmen (Kurse) gehandelt habe, mit denen ein Eintritt in das Erwerbsleben somit nicht verbunden sein konnte.

[11] 2. War die von der Klägerin behauptete Arbeitsunfähigkeit somit bereits vor dem Eintritt in das Erwerbsleben vorhanden, könnte sie nur dann nach § 255 Abs 7 ASVG als invalid gelten, wenn sie mindestens 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit nach dem ASVG oder einem anderen Bundesgesetz erworben hätte. Dass diese Voraussetzung bei der Klägerin erfüllt wäre, behauptet sie nicht, sodass eine unrichtige Beurteilung durch die Vorinstanzen auch insofern nicht dargetan wird.

[12] 3. Soweit die Klägerin in der außerordentlichen Revision verfassungsrechtliche Bedenken hegt, ist sie auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu verweisen nach der solche weder gegen die Voraussetzung des § 255 Abs 1 bis 4 ASVG, dass während einer versicherten Tätigkeit Arbeitsfähigkeit bestanden haben muss (RS0085107 [T8]; RS0084829 [T16]), noch gegen die Voraussetzung des Erwerbs von 120 Beitragsmonaten der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit in § 255 Abs 7 ASVG (10 ObS 154/17w SSV‑NF 32/7; 10 ObS 13/15g SSV‑NF 29/16; 10 ObS 6/14a SSV‑NF 28/9) bestehen. Eine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO liegt nicht vor, wenn der Oberste Gerichtshof die verfassungsrechtlichen Bedenken des Rechtsmittelwerbers nicht teilt (RS0116943).

[13] 4. Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision somit zurückzuweisen.

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