OGH 10ObS59/05g

OGH10ObS59/05g6.9.2005

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Wolf (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Robert Hauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Leopold S*****, ohne Beschäftigung, *****, vertreten durch Mairhofer & Gradl, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich- Hillegeist-Straße 1, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 8. März 2005, GZ 11 Rs 15/05p-13, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 6. Dezember 2004, GZ 8 Cgs 137/04m-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 16. 2. 2004 wies die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 20. 1. 2004 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ab.

Das auf diese Leistung ab 1. 2. 2004 gerichtete Klagebegehren stützt sich im Wesentlichen darauf, dass der Kläger zuletzt als Goldschmiedehilfsarbeiter tätig gewesen und infolge einer krankhaften Persönlichkeitsstörung nicht mehr in der Lage sei, seine bisherige berufliche Tätigkeit oder eine Tätigkeit innerhalb der gleichen Berufsgruppe auszuüben.

Die beklagte Partei wendete im Wesentlichen ein, der Kläger sei mit diesem Leiden in das Berufsleben eingetreten, und beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Nach seinen Feststellungen leidet der am 29. 11. 1979 geborene Kläger, ohne dass eine sichere psychiatrische Diagnose gestellt werden kann, an einer gravierenden krankheitswertigen Störung, die sich in Form eines massiven sozialen Rückzugs und einer massiven Leistungsverweigerung äußert. Der Lebensstil des Klägers ist mehr oder weniger autistisch. Die beim Kläger vorliegende gravierende Biorhythmusstörung (Umkehr des Schlaf-Wach-Rhythmus - tagsüber schläft der Kläger, in der Nacht beschäftigt er sich mit Computerspielen) spricht am ehesten für das Vorliegen einer Prozesspsychose im Sinne einer Schizophrenie simplex, bei der es ausschließlich zur Ausbildung schizophrener Negativsymptome kommt. Die Erkrankung hat sich in den letzten Jahren als therapieresistent gezeigt. Der Kläger ist auf Grund dessen vollständig arbeitsunfähig. Effiziente Behandlungsmaßnahmen bestehen nicht. Der Eintritt dieser Arbeitsunfähigkeit liegt spätestens im September oder Oktober 1997.

Der Kläger hat die Volksschule, 3 Klassen Gymnasium und 1 Jahr Hauptschule absolviert. Danach hat er die Schule für Informatik-Kaufleute in Korneuburg im Schuljahr 1995/96 besucht und dieses Schuljahr positiv abgeschlossen. Im Sommer 1996 hat er eine Ferialtätigkeit in der VOEST begonnen, diese jedoch nach 2 Tagen wieder abgebrochen. Im September 1996 begann er eine weitere Klasse in der Schule für Informatik-Kaufleute, hat dieses Schuljahr jedoch im November 1996 abgebrochen, um eine Berufstätigkeit zu ergreifen. Da er aber zu dieser Zeit keine Lehrstelle gefunden hat, absolvierte er im Mai 1997 eine Umschulung und begann dann ab 1. 9. 1997 als kaufmännischer Lehrling bei einer Kfz-Werkstätte zu arbeiten. Das Lehrverhältnis wurde bereits im Oktober 1997 wieder beendet. Danach hat der Kläger in den Monaten April bis Juli 1998 über das AMS eine Umschulung absolviert. Von Juli bis September 2003 wurde ein letzter Arbeitsversuch bei einem Goldschmied gestartet, der jedoch scheiterte.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, ein Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension bestehe nur, wenn der Versicherte ursprünglich in der Lage gewesen sei, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben und zufolge einer negativen Veränderung des körperlichen oder geistigen Zustandes außer Stande gesetzt werde, nunmehr einer geregelten Beschäftigung - zu der er vorher in der Lage war - nachzugehen. Diese Voraussetzungen seien beim Kläger nicht erfüllt. Wegen der den Kläger treffenden Beweislast für das Herabsinken seiner Leistungsfähigkeit müsse der Eintritt der Arbeitsunfähigkeit spätestens im September 1997 angenommen werden, wobei der Kläger zur gleichen Zeit die kaufmännische Lehre bei einer Kfz-Werkstätte begonnen habe. Die vorher an zwei Tagen ausgeübte Ferialpraktikantentätigkeit bei der VOEST sei für die Beurteilung zu vernachlässigen.Gleichzeitig mit Beginn der Lehre sei auch die Erkrankung beim Kläger in dem Ausmaß aufgetreten, dass er arbeitsunfähig gewesen sei. Es sei somit nicht zu einem Herabsinken der Leistungsfähigkeit des Klägers im Sinn des § 273 Abs 1 ASVG gekommen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es treffe zwar zu, dass der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung SSV-NF 11/47 eine Ferialtätigkeit von acht Tagen als Eintritt in das Erwerbsleben gewertet habe. Nach Ansicht des Berufungsgerichtes könne aber eine zweitägige Ferialtätigkeit, wie sie der Kläger nach den Feststellungen im Sommer 1996 ausgeübt habe, noch nicht als Eintritt in das Erwerbsleben gewertet werden, wobei es gleichgültig sei, ob er diese Tätigkeit wegen einer Grippe oder wegen der bereits damals bei ihm bestehenden psychischen Störung abgebrochen habe. Der Eintritt in das Erwerbsleben sei beim Kläger vielmehr durch die Aufnahme des Lehrverhältnisses anfangs September 1997 anzunehmen. Nach den Feststellungen liege der Eintritt der Arbeitsunfähigkeit bei ihm spätestens im September oder Oktober 1997. Den Kläger treffe die objektive Beweislast dafür, dass zum Zeitpunkt seines Eintritts in das Erwerbsleben seine Arbeitsfähigkeit mehr als die Hälfte der eines gesunden Versicherten ausgemacht habe und in der Folge durch Verschlechterung seines Zustandes auf weniger als die Hälfte der Arbeitsfähigkeit eines gesunden Versicherten gesunken sei. Durch die Feststellung, dass gänzliche Arbeitsunfähigkeit des Klägers spätestens im September oder Oktober 1997 eingetreten sei, sei ihm der Beweis, dass zum Zeitpunkt seines Eintritts in das Erwerbsleben seine Arbeitsfähigkeit über der Hälfte der eines gesunden Versicherten gelegen sei, nicht gelungen. Zutreffend sei daher das Erstgericht zum Ergebnis gelangt, dass der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit beim Kläger nicht vorliege.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, dass eine zweitägige Ferialtätigkeit noch nicht als Eintritt in das Erwerbsleben anzusehen sei, möglicherweise mit der vom Obersten Gerichtshof in der Entscheidung SSV-NF 11/47 vertretenen Rechtsansicht nicht übereinstimme.

Der Kläger macht in seiner Revision unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragt, das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagestattgebung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages auch berechtigt.

Der Kläger macht im Wesentlichen geltend, die von ihm im Sommer 1996 ausgeübte zweitägige Ferialarbeit sei entsprechend der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes SSV-NF 11/47 als Eintritt in das Erwerbsleben anzusehen und die Vorinstanzen hätten ausgehend davon prüfen müssen, ob zu diesem Zeitpunkt seine Arbeitsfähigkeit gegeben gewesen sei. Aus der Feststellung des Erstgerichtes, der Zeitpunkt des Eintrittes der Arbeitsunfähigkeit sei spätestens im September oder Oktober 1997 gelegen, lasse sich im Umkehrschluss ableiten, dass der Kläger bei Ausübung der Tätigkeit im Sommer 1996 arbeitsfähig gewesen sei. Da er somit die Arbeitsunfähigkeit nicht in das Erwerbsleben eingebracht habe, sondern die anfänglich vorhandene Arbeitsfähigkeit nach Eintritt in das Erwerbsleben auf das nunmehrige Ausmaß herabgesunken sei, liege der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit vor.

Diesen Ausführungen kommt im Sinne der beschlossenen Aufhebung Berechtigung zu.

Nach der bereits vom Berufungsgericht zitierten ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes hat der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit allgemein zur Voraussetzung, dass eine zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit, die zumindest die Hälfte der eines körperlich und geistig gesunden Versicherten erreicht haben musste, durch nachfolgende Entwicklungen beeinträchtigt wurde. Es kommt darauf an, ob die trotz Behinderung zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit durch nachfolgende Entwicklungen beeinträchtigt wurde, wobei der körperliche und geistige Zustand des Versicherten bei Aufnahme der Berufstätigkeit und Eintritt in das Versicherungsverhältnis jenem bei Antragstellung gegenüberzustellen ist. Die Ursache für die Verschlechterung (Minderung) der Arbeitsfähigkeit muss der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten sein. Ein bereits vor dem Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann daher nach ständiger Rechtsprechung bei Leistungen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit nicht zum Eintritt des Versicherungsfalles führen (SSV-NF 17/2; 16/102 mwN). In der Entscheidung SSV-NF 11/47 hat der Oberste Gerichtshof eine Ferialtätigkeit von acht Tagen als Eintritt in das Erwerbsleben gewertet.

Für die Beurteilung der hier strittigen Frage, ob die zweitägige Ferialarbeit des Klägers im Sommer 1996 als Eintritt in das Erwerbsleben zu werten ist, ist nach Ansicht des erkennenden Senates auch auf die mit 1. 1. 2004 in Kraft getretene und gemäß § 273 Abs 2 ASVG auch im vorliegenden Fall entsprechend anzuwendende Bestimmung des § 255 Abs 7 ASVG idF 2. SVÄG 2003, BGBl I 2003/145, Bedacht zu nehmen. Danach gilt der Versicherte auch dann als invalid bzw berufsunfähig im Sinne des Gesetzes, wenn er bereits vor der erstmaligen Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande ist, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen, dennoch aber mindestens 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz erworben hat. In den Gesetzesmaterialien (abgedruckt in Teschner/Widlar, MGA, ASVG 87. Erg-Lfg § 255 Anm 15) wurde ausdrücklich darauf Bezug genommen, dass der Eintritt des Versicherungsfalles der Invalidität/Berufsunfähigkeit eine Änderung, nämlich eine Verschlechterung der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit des Versicherten im Laufe seines Erwerbslebens, also seit dem Zeitpunkt des erstmaligen Eintritts in die Pflichtversicherung, voraussetzt und die (oben zitierte) Judikatur auf Grund des Wortlautes des § 255 Abs 3 ASVG davon ausgeht, dass ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis eingebrachter, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand den Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit nicht bedingen kann. Durch die vorgeschlagene Gesetzesänderung soll nunmehr auch Menschen, die bei Eintritt in die Erwerbstätigkeit auf Grund ihrer starken gesundheitlichen Einschränkungen „arbeitsunfähig" waren, dennoch über lange Zeit einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sind und im Fall einer weiteren Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zum Ausscheiden aus ihrer Tätigkeit gezwungen sind, ermöglicht werden, einen Anspruch auf Leistungen aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit (Erwerbsunfähigkeit) zu erwerben. Voraussetzung hiefür soll sein, dass diese Personen 10 Beitragsjahre der Pflichtversicherung erworben haben.

Sowohl aus dem Wortlaut der Bestimmung des § 255 Abs 7 ASVG als auch aus den zitierten Gesetzesmaterialien ergibt sich somit eindeutig, dass der Gesetzgeber in der Frage des Eintrittes in das Berufs- bzw Erwerbsleben auf die erstmalige Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung abstellt. Diese vom Gesetzgeber nunmehr ausdrücklich getroffene Regelung, wonach als maßgebender Zeitpunkt des Eintrittes in das Erwerbsleben der Zeitpunkt des erstmaligen Eintritts in die Pflichtversicherung anzusehen ist, ist nach Ansicht des erkennenden Senates auch für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgebend. Sie entspricht im Übrigen auch der vom Obersten Gerichtshof in der Entscheidung SSV-NF 11/47 vertretenen Auffassung, wonach auch eine 8-tägige Ferialarbeit als Eintritt in das Erwerbsleben gewertet werden könne. Es bedarf daher im vorliegenden Fall zur Beurteilung der Frage, ob die zweitägige Ferialarbeit des Klägers im Sommer 1996 als Eintritt in das Erwerbsleben zu werten ist, einer ausdrücklichen Feststellung darüber, ob durch diese Beschäftigung des Klägers eine Pflichtversicherung begründet wurde. Sollte dies der Fall sein, wird weiters zu berücksichtigen sein, dass nach zutreffender Ansicht des Berufungsgerichtes der Kläger die objektive Beweislast (vgl SSV-NF 11/47) dafür trägt, dass zum Zeitpunkt seines Eintritts in das Erwerbsleben seine Arbeitsfähigkeit zumindest die Hälfte der eines gesunden Versicherten erreichte und in der Folge durch Verschlechterung seines Zustandes auf weniger als die Hälfte eines gesunden Versicherten gesunken ist. Auch diese Frage kann auf Grund der bisherigen Feststellungen noch nicht beurteilt werden. Das Verfahren erweist sich daher in dem aufgezeigten Umfang als ergänzungsbedürftig.

Da somit dem Revisionsgericht erheblich scheinende Tatsachen schon in erster Instanz weder erörtert noch festgestellt wurden, waren die Urteile beider Vorinstanzen aufzuheben und war die Sozialrechtssachen zur Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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