OGH 10ObS105/12g

OGH10ObS105/12g2.10.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Horst Nurschinger (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei O*****, vertreten durch Dr. Johannes Schuster und Mag. Florian Plöckinger, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere, Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 20. März 2012, GZ 10 Rs 25/12p‑17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 28. September 2011, GZ 21 Cgs 64/11x‑14, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 427,99 EUR (darin 71,33 EUR USt) bestimmten anteiligen Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu bezahlen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 28. 12. 1951 geborene Kläger hat den Beruf eines Malers und Anstreichers erlernt und in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (also seit 1. 8. 1995) insgesamt 35 Beitragsmonate in der Pflichtversicherung erworben. Davon waren 32 Beitragsmonate der Pflichtversicherung solche der Umschulung im Rahmen des AMFG und 3 Beitragsmonate der Pflichtversicherung als Angestellter. Im Rahmen der Pflichtversicherung für die Umschulung nach dem AMFG hat der Kläger als Maler und Anstreicher gearbeitet und war danach 3 Monate beim BFI als angestellter Trainer tätig.

Es handelte sich um eine praxisorientierte Kursmaßnahme mit der Bezeichnung „Arbeiten und Lernen“, die später umbenannt wurde auf „Learning by Doing“. Zielgruppe dieses Kurses waren langzeitbeschäftigungslose Notstandshilfeempfänger, die im Rahmen des Kurses wieder die Routine für das Arbeitsleben erwerben sollten, nämlich insbesondere jeden Tag pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, die Arbeitsdisziplin einzuhalten etc.

Ziel dieses Kurses war die Wiedereingliederung der Teilnehmer in den Arbeitsmarkt und nicht die Erbringung wirtschaftlicher Leistungen. Im Rahmen des Kurses wurden von den Teilnehmern praktische Arbeiten erledigt, nämlich insbesondere die Sanierung öffentlicher Gebäude. Es wurden Schulen und Amtsgebäude hergerichtet und auch ausgemalt.

Der Kläger war als Teilnehmer dieser Kursmaßnahme eine Ausnahmeerscheinung. Er hat die Übung und das Erwerben von Pünktlichkeit und Disziplin nicht gebraucht. Er war der erste am Arbeitsplatz, ist meistens als Letzter gegangen und hat die anderen Teilnehmer angeleitet. Er war der beste Mann in seinem Kurs, quasi der Vorarbeiter, hat die anderen „mitgerissen“ und die beste Arbeit geleistet.

Im Allgemeinen war es so, dass die Arbeiten, die von den Kursteilnehmern im Rahmen dieses Kurses in drei Monaten fertiggestellt wurden, von Mitarbeitern im ersten Arbeitsmarkt, das heißt von Arbeitnehmern gewerblicher Unternehmen, in 14 Tagen erledigt werden.

Der Kläger hat insgesamt viermal an dem Kurs teilgenommen und wurde später als Trainer für diese Kursmaßnahme vom Berufsförderungsinstitut (BFI) aufgenommen. Er war dann 3 Monate beim BFI als angestellter Trainer für solche Kursmaßnahmen tätig. Danach wurden sie nicht mehr durchgeführt.

Seit spätestens Juli 2010 kann der Kläger nur mehr körperlich leichte Arbeiten und darüber hinaus halbzeitig mittelschwere Arbeiten verrichten. Arbeiten in gebückter, gebeugter oder Zwangshaltung kann er nur mehr halbzeitig diskontinuierlich, maximal 30 Minuten in einem Zug ausführen. Der Kläger kann keine Arbeiten an höher exponierten Stellen mehr verrichten.

Arbeiten mit einem der bisherigen Berufslaufbahn des Klägers entsprechenden geistigen Anforderungsprofil kann er unter maximal drittelzeitig besonderem Zeitdruck verrichten. Er kann Arbeiten mit durchschnittlicher psychischer Belastung ausüben, ist einordenbar und Aufsichtstätigkeiten sind möglich. Wenn der Kläger im Rahmen dieses Leistungskalküls arbeitet, sind keine Krankenstände zu erwarten. Den Arbeitsplatz kann der Kläger unbeschränkt erreichen.

Mit diesem Leistungskalkül kann der Kläger nicht mehr als Maler und Anstreicher auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten. Es gibt auch keine Berufe mit ähnlicher Ausbildung, die vergleichbare Kenntnisse und Fähigkeiten erfordern, die der Kläger mit diesem Leistungskalkül verrichten kann. Er kann auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aber unter anderem noch die Tätigkeit eines Verpackungsarbeiters in Leichtwarenbranchen verrichten, wobei Leichtprodukte in Schachteln zu verpacken sowie Garantiezertifikate und Bedienungsanleitungen beizulegen sind. Dabei handelt es sich um körperlich leichte Arbeiten unter maximal drittelzeitig besonderem Zeitdruck, ohne höhenexponierte Stellen. Bei diesen Arbeiten sind gebückte oder gebeugte Haltungen lediglich punktuell, wenige Male pro Stunde, im Rahmen von Zu‑ und Abtragetätigkeiten einzunehmen. Derartige Arbeitsplätze sind auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in ausreichender Zahl vorhanden.

Mit dem angefochtenen Bescheid lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass aufgrund der von ihm ausgeübten Tätigkeiten kein Berufsschutz vorliege und eine Prüfung nach § 255 Abs 4 ASVG nicht in Betracht komme, weil er keine derartige Tätigkeit durch mindestens 120 Kalendermonate im Zeitraum der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (1. 8. 2010) ausgeübt habe.

Mit der dagegen erhobenen Klage begehrt der Kläger die Gewährung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 8. 2010. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag sei er überwiegend im erlernten Beruf (Maler und Anstreicher) „über das Arbeitsmarktservice“ (kurz: AMS) beschäftigt gewesen.

Die beklagte Partei beantragte Klagsabweisung. Während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag habe der Kläger keine qualifizierten Tätigkeiten ausgeübt, die einen Berufsschutz gemäß § 255 Abs 1 oder 2 ASVG begründen könnten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Eine überwiegende Tätigkeit iSd § 255 Abs 1 ASVG in der hier noch anzuwendenden Fassung liege vor, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag der erlernte Beruf in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate ausgeübt worden sei. In diesem Zeitraum lägen beim Kläger 32 Monate der „AMFG-Umschulung“ und 3 Monate als Angestellter. Nach ständiger Rechtsprechung seien Zeiten von AMFG-Umschulungen zwar Beitragsmonate der Pflichtversicherung, aber als Zeiten unqualifizierter Berufsausübung zu bewerten. Auch wenn dieser Judikatur stets solche Fälle zugrunde gelegen seien, in denen tatsächlich keine qualifizierte Tätigkeit bei der AMFG‑Umschulung ausgeübt worden sei, sei der Rechtssatz auch auf den vorliegenden Sachverhalt zu übertragen: Selbst wenn der Kläger qualifizierte Maler‑ und Anstreicherarbeiten verrichtet habe, habe er diese Tätigkeit nicht im Rahmen einer Berufstätigkeit ausgeübt, sondern im Rahmen einer Schulungsmaßnahme. Gemäß § 255 Abs 1 ASVG müsse der Versicherte aber überwiegend in „erlernten Berufen“ tätig gewesen sein, womit eine Erwerbstätigkeit gemeint sei (vgl auch § 255 Abs 2 letzter Satz und Abs 3a Z 3 ASVG). Der Kläger sei somit nicht überwiegend in seinem erlernten Beruf sondern in einer Schulungsmaßnahme tätig gewesen. § 255 Abs 4 ASVG sei auf den Kläger nicht anzuwenden, weil er in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag keine 120 Kalendermonate hindurch eine Tätigkeit ausgeübt habe.

Das Berufungsgericht gab der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung des Klägers Folge, hob das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Es schloss sich im Ergebnis der Argumentation des Klägers an, dass dann, wenn er im Rahmen der Schulungsmaßnahme die Tätigkeiten eines Malers und Anstreichers ausgeübt habe, eine berufsschutzerhaltende Tätigkeit vorliege: Die im Rahmen des AMFG erworbenen Beitragszeiten dürften nicht generell als unqualifizierte Tätigkeit gewertet werden. Es sei vielmehr danach zu differenzieren, ob der Versicherte tatsächlich nur eine Schulung genossen habe oder ‑ wie hier ‑ in seinem bereits zuvor erlernten Beruf tätig geworden sei. Der Bezeichnung dieser Maßnahme „als Umschulungen, Schulung, Kurs oder ähnliches“, komme unter Berücksichtigung des Tätigkeitsprinzips keine Bedeutung zu, wenn der Versicherte dabei in seinem bereits zuvor erlernten oder vollständig angelernten Beruf tätig geworden sei. Es sei zu unterscheiden, ob ein Berufsschutz erst zu erwerben sei, oder ob ein bereits erworbener Berufsschutz durch später ausgeübte Tätigkeiten weiterhin erhalten bleibe (RIS‑Justiz RS0116791). Nur auf ersteren Fall beziehe sich die (bisherige) Rechtsprechung, wonach AMFG‑Zeiten nicht als qualifizierte Beschäftigung iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG zu beurteilen seien. Würde man einem Versicherten, der bereits früher einen Berufsschutz erworben habe, die Anrechnung der AMFG‑Zeiten als berufsschutzerhaltend verwehren, obwohl er während dieser Zeit in einem erlernten Beruf tätig werde, läge eine unsachliche und damit nicht gerechtfertigte Differenzierung vor.

Die AMFG‑Zeiten des Klägers könnten somit grundsätzlich seinen Berufsschutz erhalten, falls er in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend in seinem erlernten Beruf tätig gewesen sei. Eine abschließende Beurteilung dieser Frage auf Basis des festgestellten Sachverhalts sei jedoch noch nicht möglich:

Das Erstgericht habe zwar „generelle“ Feststellungen über die Tätigkeit der Teilnehmer am gegenständlichen Kurs in dem Sinn getroffen, dass von ihnen (ausschließlich oder teilweise?) praktische Arbeiten, insbesondere durch die Sanierung öffentlicher Gebäude, erbracht und Schulen sowie Amtsgebäude „hergerichtet“ und ausgemalt worden seien. Dabei habe es allerdings (beispielsweise) auch festgehalten, dass ihre Arbeiten, die sie innerhalb von 3 Monaten fertiggestellt hätten, von Arbeitern gewerblicher Unternehmen üblicherweise bereits in 14 Tagen erledigt würden. Über die konkret vom Kläger ausgeübte Tätigkeit habe es noch keine Feststellungen getroffen, sondern nur festgehalten, dass er eine „Ausnahmeerscheinung“ gewesen sei, weil er weder die Übung noch das Erwerben der Pünktlichkeit und Disziplin, die den Kursteilnehmern vermittelt werden sollten, benötigt habe. Er sei der beste Mann in seinem Kurs gewesen, quasi der Vorarbeiter, der die anderen „mitgerissen“ und die beste Arbeit geleistet habe. Daraus lasse sich aber seine tatsächliche Tätigkeit weder in qualitativer noch in quantitativer Hinsicht konkretisieren, sodass die Frage des Berufsschutzes nicht beurteilt werden könne (vgl RIS‑Justiz RS0112425).

Nach der Rechtsprechung bleibe der in einem erlernten oder angelernten Beruf erworbene Berufsschutz auch dann erhalten, wenn später überwiegend nur Teiltätigkeiten ausgeübt würden, sofern diese qualitativ und quantitativ nicht ganz unbedeutend gewesen seien (RIS‑Justiz RS0084497). Nach den getroffenen Feststellungen sei daher bereits unklar, ob der Kläger diesen qualitativen Voraussetzungen entsprochen habe. Es fehlten aber auch entsprechende Feststellungen zur quantitativen Beurteilung. In zeitlicher Hinsicht komme es zwar nicht darauf an, ob eine überwiegend qualifizierte Tätigkeit innerhalb der täglichen Arbeitszeit vorliege. Die getroffenen Feststellungen gäben dennoch Anlass zur Überprüfung, weil sich die etwa sechsfache Dauer der Tätigkeiten der Kursteilnehmer im Vergleich zum primären Arbeitsmarkt nicht alleine mit ihrer (zum Teil) allenfalls gegebenen Unerfahrenheit erklären lässt. Vielmehr lägen damit Anhaltspunkte vor, die annehmen ließen, dass die eigentliche Sanierungstätigkeit nur einen Teil des Kursinhalts dargestellt habe.

Im fortzusetzenden Verfahren werde das Erstgericht daher ergänzende Feststellungen zur konkreten Tätigkeit des Klägers im Rahmen der AMFG‑Maßnahme in qualitativer und quantitativer Hinsicht zu treffen haben.

Den Rekurs an den Obersten Gerichtshof ließ das Berufungsgericht zu, weil zur Frage, ob die im Rahmen einer AMFG-Maßnahme erworbenen Beitragszeiten als qualifizierte Beschäftigung iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG zu qualifizieren seien, wenn der Versicherte während dieses Zeitraums eine Tätigkeit in seinem bereits zuvor erlernten Beruf ausgeübt habe, keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Ersturteil wiederherzustellen.

Der Kläger beantragt in der Rekursbeantwortung, den Rekurs „abzuweisen“ und die Berufungsentscheidung zu bestätigen.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt.

Die Rekurswerberin beruft sich auf die ständige Rechtsprechung, dass die während einer Schulung nach dem AMFG erworbenen Versicherungszeiten Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach dem ASVG seien, jedoch nicht Zeiten einer qualifizierten Beschäftigung iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG (RIS‑Justiz RS0051139), und wendet sich gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene Differenzierung, wonach (auch) hier zwischen dem Erwerb und dem Erhalt des Berufsschutzes zu unterscheiden sei. Ausgehend von der Zielsetzung der Kursmaßnahme und der Zielgruppe der Kursteilnehmer habe es sich um eine vom AMS finanzierte Vorbereitung auf den (Wieder‑)Eintritt in das Erwerbsleben gehandelt. Eine Tätigkeit, die außerhalb des Erwerbslebens stattfinde, könne nicht dieselben Rechtsfolgen haben wie ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis im Rahmen eines regulären Arbeitsverhältnisses. Wie in der Entscheidung 10 ObS 144/10i sollte mit dem Kurs „die Arbeitssuche des Klägers gefördert werden“. Einer Maßnahme, deren Ziel ein anderes als die Erbringung wirtschaftlicher Leistungen sei, fehle die Eignung, als qualifiziert ausgeübte Berufstätigkeit zu gelten und einen allenfalls vorher bestandenen Berufsschutz zu erhalten.

Der Rekursgegner zieht die „herrschende Rechtsprechung, dass AMFG‑Zeiten nicht als Zeiten einer qualifizierten Tätigkeit zu bewerten sind“, nicht in Zweifel, vertritt jedoch den Standpunkt, dass sie hier nicht zum Tragen komme. Der große Unterschied zu „normalen“ AMFG‑Kursen liege darin, dass sich der Kläger „ganz offensichtlich“ von anderen Kursteilnehmern unterschieden habe. Aus der Entscheidung 10 ObS 144/10i sei für den vorliegenden Fall nichts zu gewinnen, weil dort die Frage zu beantworten gewesen sei, wann der Eintritt in das Erwerbsleben erfolgt sei. Hier sei aber eine Tätigkeit in einem bereits zuvor erlernten Beruf ausgeübt worden. Der Bezeichnung dieser Maßnahme als Umschulung, Kurs oder Ähnliches komme keine Bedeutung zu, wenn der Versicherte im bereits erlernten Beruf tätig werde. Das Berufungsgericht sei zu Recht davon ausgegangen, dass Zeiten im Rahmen des AMFG nicht „grundsätzlich“ als unqualifizierte Tätigkeit angesehen werden könnten.

Dazu wurde erwogen:

1. Invalidität iSd § 255 Abs 1 ASVG liegt dann vor, wenn ein Versicherter überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig war und seine Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in jedem dieser Berufe herabgesunken ist. Als überwiegend iSd Abs 1 gelten solche erlernten (angelernten) Berufstätigkeiten, wenn sie in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübt wurden (§ 255 Abs 2 Satz 2 ASVG in der hier noch anzuwendenden Fassung vor dem Inkrafttreten des BudgetbegleitG 2011, BGBl I 2010/111).

1.1. Der Versicherte genießt somit nach § 255 Abs 1 ASVG nur dann Berufsschutz, wenn er in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in einem erlernten Beruf tätig war. Wer einen Beruf erlernt, diesen aber im Beobachtungszeitraum nicht oder nicht überwiegend ausgeübt hat, genießt daher keinen Berufsschutz. Der Gesetzgeber billigt die privilegierende Wirkung des Berufsschutzes somit nur dann zu, wenn der Versicherte die erworbenen qualifizierten Kenntnisse und Fähigkeiten auch in der Praxis anwendet (10 ObS 162/09k, SSV‑NF 23/77 mwN). Der Berufsschutz kann daher etwa dann verloren gehen, wenn der Versicherte seinen erlernten Beruf aus gesundheitlichen Gründen (zB als Folge eines Arbeitsunfalls) aufgeben musste und anschließend längere Zeit nichtqualifizierte Arbeit geleistet hat (vgl Tomandl, Sozialrecht6 Rz 258 mwN). Da § 255 Abs 1 und 2 ASVG auf das „Tätigsein“ bzw das „Ausüben einer Tätigkeit“ abstellt, sind auch Zeiten der freiwilligen Versicherung bei der Frage, ob ein Beruf überwiegend ausgeübt wurde, als Beitragszeiten mitzuberücksichtigen; sie sind jedoch nicht als „qualifizierte“ Zeiten anzurechnen (10 ObS 162/09k, SSV‑NF 23/77 mwN).

2. Ebenso sind nach ständiger Rechtsprechung auch Schulungszeiten nach dem AMFG (zwar) Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach dem ASVG, jedoch nicht Zeiten einer qualifizierten Beschäftigung iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG (10 ObS 125/94, SSV‑NF 8/57; RIS‑Justiz RS0051139 [T1]; 10 ObS 236/98y; 10 ObS 155/01v; 10 ObS 339/02d; 10 ObS 139/09b).

2.1. Ständiger Rechtsprechung entspricht es auch, dass ein Beschäftigter während der Lehr‑ bzw Anlernzeit nicht im erlernten (angelernten) Beruf tätig ist; er übt also keine (qualifizierte) Berufstätigkeit iSd § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG aus, sodass die (Lehr‑)Zeit bei Prüfung der Frage, ob in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG eine erlernte Berufstätigkeit ausgeübt wurde, außer Betracht zu bleiben hat (10 ObS 14/05i; 10 ObS 200/01m mwN). Auch ein angelernter Beruf wird erst ab dem Zeitpunkt ausgeübt, an dem die Anlernung abgeschlossen ist (RIS‑Justiz RS0084450; 10 ObS 14/05i; 10 ObS 200/01m, SSV-NF 15/90).

3. Von diesen Grundsätzen ausgehend, hat der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 Ob 139/09b die vom dortigen Kläger nach einiger Zeit der Arbeitslosigkeit absolvierte Umschulung im Rahmen des AMFG (die er mit bestandener Lehrabschlussprüfung im Lehrberuf Maurer abschloss [sieben Beitragsmonate]), wie folgt qualifiziert: Die Versicherungszeiten, die der Kläger während seiner Ausbildung zum Maurer als Maßnahme nach dem AMFG erwarb, sind Versicherungszeiten der Ausübung einer nichtqualifizierten Beschäftigung.

3.1. Daran hat der erkennende Senat auch zuletzt festgehalten und in der, die Qualifikation des Besuchs von Schulungskursen nach dem AMFG betreffenden Entscheidung 10 ObS 144/10i, SSV‑NF 24/82 (zum für § 255 Abs 7 ASVG maßgebenden Beginn der Erwerbskarriere), ausgeführt, dass nicht allein auf die Begründung einer Pflichtversicherung (etwa im Rahmen von „Schulungsmaßnahmen“ nach dem AMFG) abzustellen ist, sondern auf beide Elemente, nämlich die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und den Eintritt in die Pflichtversicherung kombiniert. Mangels exakter Feststellungen darüber, welche Tätigkeiten der dortige Kläger im Rahmen der festgestellten Schulungsmaßnahmen verrichtet hatte, war davon auszugehen, dass es sich um diverse Kurse handelte, mit denen die Arbeitssuche des Klägers gefördert werden sollte. Auf dieser Grundlage konnten die 14 Beitragsmonate der Pflichtversicherung, die der Kläger als Umschüler im Rahmen des AMFG erworben hatte, nicht dazu führen, dass bereits von einem die Pflichtversicherung begründenden Eintritt in das Erwerbsleben auszugehen war.

4. Umso weniger kann im vorliegenden Fall davon ausgegangen werden, dass der Kläger ‑ entgegen den dargelegten Grundsätzen ‑ mit seinen Schulungszeiten nach dem AMFG nicht nur Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach dem ASVG, sondern auch Zeiten einer qualifizierten Beschäftigung iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG erworben hätte.

4.1. Es trifft zwar zu, dass im Zusammenhang mit der Prüfung der Verweisbarkeit eines Versicherten nach § 255 Abs 1 und 2 ASVG unterschieden werden muss, ob ein Berufsschutz im Sinn eines gelernten oder angelernten Berufs erst zu erwerben ist oder ob ein bereits erworbener Berufsschutz durch später ausgeübte Teiltätigkeiten weiterhin erhalten bleibt (RIS‑Justiz RS0116791; 10 ObS 85/09m, SSV‑NF 23/57 mwN uva). Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs geht der Berufsschutz auch dann nicht verloren, wenn in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag in der Praxis nur noch Teiltätigkeiten des erlernten bzw angelernten Berufs ausgeübt werden, sofern diese quantitativ und qualitativ nicht ganz unbedeutend waren (RIS‑Justiz RS0084497). Entscheidend ist, ob ein Kernbereich der Ausbildung auch bei Ausübung der Teiltätigkeit verwertet werden muss (10 ObS 85/09m, SSV‑NF 23/57 mwN).

4.2. Für den vorliegenden Fall ist daraus jedoch nichts zu gewinnen, weil den hier maßgebenden Maler‑ und Anstreichertätigkeiten, die der Kläger im Rahmen der AMFG‑Kurse (auch) erbracht hat, schon die erforderliche Eigenschaft einer qualifizierten Berufsausübung im erlernten Beruf fehlt:

5. Zutreffend verweist die beklagte Partei hier auf den Umstand, dass der Kläger schon nach der Zielsetzung und der Zielgruppe der vom Kläger besuchten Kurse jedenfalls keine (qualifizierte) Erwerbstätigkeit leisten konnte; steht doch fest, dass mit diesen AMFG‑Schulungen langzeitbeschäftigungslose Notstandshilfeempfänger durch praktische Arbeiten (insbesondere die Sanierung öffentlicher Gebäude, auch durch Ausmalen) in Form eines „Learning by Doing“ wieder die Routine für das Arbeitsleben (pünktliches Erscheinen, Arbeitsdisziplin) erwerben sollten, dass es sich also lediglich um „praxisorientierte Kursmaßnahmen“ handelte.

5.1. Demgemäß ist unstrittig, dass die von den Kursteilnehmern im Rahmen dieses Kurses in drei Monaten fertiggestellten Arbeiten von Arbeitnehmern gewerblicher Unternehmen in (nur) 14 Tagen erledigt würden. Auch daraus ist abzuleiten, dass die Kurse ‑ wie ohnehin ausdrücklich feststeht ‑ allein dem Ziel der Wiedereingliederung der Teilnehmer in den Arbeitsmarkt dienten und nicht der „Erbringung wirtschaftlicher Leistungen“.

5.2. In diesem Sinne sieht auch § 255 Abs 2 zweiter Satz ASVG in der seit 1. 1. 2011 geltenden Fassung des BudgetbegleitG 2011, BGBl I 2010/111, nunmehr ausdrücklich vor, dass eine überwiegende Tätigkeit iSd Abs 1 vorliegt, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellte/r ausgeübt wurde.

5.3. Damit scheidet aber ‑ entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ‑ jedenfalls auch die Möglichkeit einer Anrechnung der AMFG‑Zeiten als berufsschutzerhaltend von vornherein aus:

5.4. Es ist nämlich auch sachlich gerechtfertigt, zwischen den am allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeübten, allenfalls berufsschutzerhaltenden Berufstätigkeiten und den im Rahmen von AMFG-Schulungen ausgeübten Tätigkeiten zu unterscheiden, die ‑ wie hier ‑ ausdrücklich nicht dem Ziel der „Erbringung wirtschaftlicher Leistungen“ sondern dem angeführten Schulungszweck dienten (vgl auch 10 ObS 155/01v).

5.5. Da die Verweisbarkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gar nicht bestritten wird, wurde ihm die begehrte Pensionsleistung von der beklagten Partei somit zu Recht verweigert.

5.6. Der Oberste Gerichtshof hat bei Spruchreife in der Sache selbst zu erkennen, weil mit der Erhebung des Rekurses die Entscheidungskompetenz auf ihn übergegangen ist (§ 519 ZPO). Mangels Berufsschutzes des Klägers ist daher das sein Begehren auf Gewährung einer Invaliditätspension abweisende Ersturteil wiederherzustellen.

5.7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Da die Entscheidung von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO abhängt, entspricht es der Billigkeit, dem Kläger, der in angespannten Einkommensverhältnissen lebt, die Hälfte seiner Kosten im Rechtsmittelverfahren zuzusprechen.

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