European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:008OBA00032.22X.0830.000
Spruch:
Der Antrag der Antragstellerin, es werde festgestellt, dass hinsichtlich der angestellten Ärztinnen und Ärzte am LKH Hall in Tirol, die
a) den Sonderfächern Anästhesiologie-Intensivmedizin, Gynäkologie, Orthopädie und Traumatologie (als gemeinsames Nachfolgefach für das Sonderfach Orthopädie und orthopädische Chirurgie und das Sonderfach Unfallchirurgie), Urologie sowie Chirurgie zugehören und
b) einen Sondervertrag mit dem Passus „Für die Abgeltung von Bereitschaftsdiensten mit insgesamt 14- bzw 22-stündiger Dauer gelten folgende Sonderregelungen: (…) Die Überstundenvergütung im Anschluss an einen Bereitschaftsdienst von 6:00 Uhr bis 8:00 Uhr erfolgt von Montag bis Samstag im Verhältnis 1:1,5 und an Sonntagen und Feiertagen im Verhältnis 1:2 Stunden auf das Zeitkonto.“ unterfertigt haben,
für die Abgeltung von „verlängerten Diensten“ von insgesamt 24 Stunden Dauer, die an einem – keinen Feiertag bildenden – Montag bis einschließlich Freitag enden, der Anspruch auf die Überstundenvergütung der zwei Stunden im Anschluss an einen laut Sondervertrag so titulierten 14‑ bzw 22-stündigen Bereitschaftsdienst bestehe, und zwar mittels Gutschrift im Verhältnis 1 : 1,5 auf das Zeitkonto, unabhängig davon, wann ein solcher insgesamt 24‑stündiger Dienst gemäß Dienstplan in der Zeitspanne von 6:00 Uhr bis 8:00 Uhr des Folgetags endet, wird abgewiesen.
Begründung:
[1] Früherbegannendie so genannten „verlängerten Dienste“ im LKH Hall in Tirol stets um 8:00 Uhr und endeten nach 24 Stunden um 8:00 Uhr des Folgetags. Um die Auslastung der Operationssäle zu optimieren, wurden die am Montag bis Freitag (soweit es sich um keinen Feiertag handelt) beginnenden „verlängerten Dienste“ in den Fächern Anästhesie-Intensivmedizin, Gynäkologie, Orthopädie und Traumatologie um 30 Minuten und in den Fächern Chirurgie und Urologie um 45 Minuten vorverlegt, sodass der Dienstbeginn und das Dienstende nunmehr auf 7:30 Uhr bzw 7:15 Uhr fällt. Trotz der Vorverlagerungen des Dienstbeginns blieb es dabei, dass die letzten beiden Stunden der 24‑stündigen Dienste als „fixe Überstunden“ vergütet wurden, und zwar bei Dienstbeginn an einem Montag bis Samstag im Verhältnis 1 : 1,5 und bei Dienstbeginn an Sonn- und Feiertagen im Verhältnis 1 : 2.
[2] Im Jahr 2017 wurden mit den am LKH Hall in Tirol tätigen Ärzten Sonderverträge abgeschlossen, wonach ab 1. 1. 2018 die Überstundenvergütung im Anschluss an den Bereitschaftsdienst mit insgesamt 14- bzw 22-stündiger Dauer von 6:00 Uhr bis 8:00 Uhr gebührt. Unter Berufung auf diese Vereinbarungen wird den angestellten Ärzten seit April 2018 die Überstundenvergütung nur noch bis zum tatsächlichen Dienstende gewährt, also Anästhesisten, Intensivmedizinern, Gynäkologen, Orthopäden und Traumatologen nur noch bis 7:30 Uhr, Chirurgen und Urologen nur noch bis 7:15 Uhr.
[3] Die Antragstellerin begehrt unter Berufung auf diesen von ihr behaupteten Sachverhalt die im Spruch ersichtliche Feststellung. Die Vereinbarung in den Sonderverträgen sei dahin auszulegen, dass das bisherige Entlohnungssystem beibehalten werde und die letzten beiden Stunden eines 24-stündigen Dienstes trotz Vorverlegung des Dienstbeginns als Überstunden zu honorieren seien. Der Wortlaut der Sonderverträge orientiere sich an der ursprünglichen Diensteinteilung, nach welcher „verlängerte Dienste“ stets um 8:00 Uhr begonnen hätten. Da die Diensteinteilung vom Arbeitgeber vorgegeben werde, könne die Vorverlegung des Dienstbeginns nicht zu Lasten der Arbeitnehmer ausschlagen. Der Verlust des Überstundenentgelts würde zu einer Benachteiligung gegenüber den Ärzten in jenen Abteilungen führen, in denen die ursprünglichen Dienstzeiten beibehalten worden seien.
[4] Die Antragsgegnerin beantragt, den Feststellungsantrag abzuweisen, hilfsweise zurückzuweisen. Der Antrag sei unzulässig, weil die Auslegung der jeweiligen Sonderverträge nur nach den konkreten Umständen, insbesondere nach dem Wissen und der Parteiabsicht im Einzelfall erfolgen könne. Die Rechtsansicht der Antragstellerin würde bedeuten, dass die Ärzte Überstundenentgelte für nicht geleistete Arbeitszeiten beanspruchen könnten. Die zuvor geübte Praxis sei für die Auslegung der getroffenen Vereinbarungen irrelevant, weil mit den Sonderverträgen eine Neuregelung geschaffen worden sei.
Rechtliche Beurteilung
[5] Der Feststellungsantrag ist nicht berechtigt.
[6] 1. Nach § 54 Abs 2 ASGG können kollektivvertragsfähige Körperschaften der Arbeitnehmer im Rahmen ihres Wirkungsbereichs gegen eine kollektivvertragsfähige Körperschaft der Arbeitgeber beim Obersten Gerichtshof einen Antrag auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens von Rechten oder Rechtsverhältnissen anbringen, die einen von namentlich bestimmten Personen unabhängigen Sachverhalt betreffen. Der Antrag muss eine Rechtsfrage des materiellen Rechts auf dem Gebiet der Arbeitsrechtssachen nach § 50 ASGG zum Gegenstand haben, die für mindestens drei Arbeitgeber oder Arbeitnehmer von Bedeutung ist. Nach § 54 Abs 4 ASGG hat der Oberste Gerichtshof über den Feststellungsantrag auf der Grundlage des darin angegebenen Sachverhalts zu entscheiden.
[7] 2. Der Antragstellerin obliegt nach § 84 Abs 3 Z 1 ÄrzteG die Wahrnehmung und Förderung der beruflichen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen der angestellten Ärzte, insbesondere der Abschluss und die Lösung von Vereinbarungen, die Entgelte (im Speziellen Gehälter und Zulagen) der angestellten Ärzte betreffen. Die Antragstellerin ist damit eine kollektivvertragsfähige Körperschaft der Arbeitnehmer und als solche nach § 54 Abs 2 ASGG antragslegitimiert (RIS-Justiz RS0051116 [T2]). Die Antragsgegnerin ist eine nach § 7 ArbVG kollektivvertragsfähige juristische Person des öffentlichen Rechts und als solche passivlegitimiert (RS0050846).
[8] 3. Der Antrag nach § 54 Abs 2 ASGG dient der Prävention und der Prozessökonomie (RS0109383). Schon der historische Gesetzgeber hat darauf hingewiesen, dass der Feststellungsantrag nach § 54 Abs 2 ASGG ebenso wie die Feststellungsklage nach § 228 ZPO ein Feststellungsinteresse erfordert (ErlRV 7 BlgNR 16. GP 48). Das Feststellungsinteresse ist auf der Grundlage des vom Antragsteller behaupteten Sachverhalts zu prüfen (RS0085712). Feststellungsanträge zur Klärung abstrakter Rechtsfragen, welchen bloß theoretische Bedeutung zukommt, erfüllen diese Voraussetzung nicht (RS0109383).
[9] 4. Für ein Feststellungsverfahren nach § 54 Abs 2 ASGG eigenen sich deshalb nur Sachverhalte, aus denen eindeutige Rechtsfolgen abgeleitet werden können (RS0085635). Sachverhalte, bei deren Beurteilung die Rechtsordnung dem richterlichen Ermessen Spielraum gewährt und die „nach den Umständen des Einzelfalls“ zu entscheiden sind, können nicht zum Gegenstand eines Feststellungsverfahrens nach § 54 Abs 2 ASGG gemacht werden (RS0085635 [T4]). Es ist nicht Gegenstand eines Verfahrens gemäß § 54 Abs 2 ASGG, zu bloß allgemein aufgeworfenen Rechtsfragen Gutachten zu erstatten, und auch nicht die Aufgabe des Obersten Gerichtshofs, mögliche Fallgruppen zu variieren und rechtlich zu beurteilen (RS0085664).
[10] 5. Nach § 914 ABGB ist bei der Auslegung von Verträgen nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften, sondern die Absicht der Parteien zu erforschen und der Vertrag so zu verstehen, wie es der Übung des redlichen Verkehrs entspricht. Bei der Auslegung des einzelnen Vertrags sind auch objektive Umstände, die der Vertragserrichtung und den Erklärungen zugrunde lagen, zu beachten (RS0017817; RS0017857; RS0017915). Dazu gehören insbesondere Vertragsverhandlungen, die dem Abschluss des konkreten Vertrags vorausgegangen sind (RS0044358 [T45]; RS0017817 [T7]).
[11] 6. Die Auslegung eines Individualvertrags kann sohin immer nur anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls erfolgen (RS0017817 [T3, T5]). Der Oberste Gerichtshof hat deshalb bereits ausgesprochen, dass ein Feststellungsverfahren nach § 54 Abs 2 ASGG grundsätzlich nicht für Fragen geeignet ist, die von der Auslegung von Einzelvereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern abhängen (9 ObA 155/12b = RS0085702 [T1]). Das Fehlen eines Feststellungsinteresses führt zur Abweisung des Antrags (RS0117528; RS0085712 [T1]).
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