European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00199.21V.0329.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Der am 30. Oktober 1962 geborene Kläger hat eine Ausbildung zum Rettungssanitäter und am 3. Mai 2004 eine darauf aufbauende Ausbildung zum Notfallsanitäter nach der Sanitäter‑Ausbildungsverordnung (San‑AV) absolviert. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. Mai 2019) war er durchgehend als Notfallsanitäter beschäftigt. Es handelt sich dabei um einen medizinischen Assistenzberuf mit kurzer Ausbildung zur Unterstützung medizinischer Berufe im Notarztsystem bzw im Krankentransportwesen.
[2] Das Erstgericht wies die auf Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension gerichtete Klage ab. Auch wenn der Kläger als Angestellter beschäftigt gewesen sei, habe er inhaltlich Arbeitertätigkeiten verrichtet. Da die Ausbildung zum Notfallsanitäter nur 740 Ausbildungseinheiten umfasse, sei sie iSd § 255 Abs 2 ASVG quantitativ nicht mit einem Lehrberuf vergleichbar. Der Kläger genieße daher keinen Berufsschutz, weshalb er auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sei. Dort könne er aufgrund seines medizinischen Leistungskalküls noch eine Reihe von Verweisungstätigkeiten ausüben.
[3] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Auf Basis des in den §§ 9 und 10 Sanitätsgesetz (SanG) beschriebenen Berufsbildes des Notfallsanitäters teilte es die Ansicht des Erstgerichts, dass das Klagebegehren nach § 255 ASVG zu beurteilen sei. Selbst unter Berücksichtigung der Zusatzausbildung „Venenzugang und Infusion“ (§ 11 Abs 1 Z 2, § 40 Abs 1 SanG iVm § 64 Abs 2 San‑AV) habe die vom Kläger ausgeübte Berufstätigkeit eine Ausbildungszeit von nur 790 Stunden erfordert, was nicht zu einem einem Lehrberuf vergleichbaren Ausbildungsniveau führe.
Rechtliche Beurteilung
[4] In seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung (§ 502 Abs 1 ZPO) auf.
[5] 1. Vom Berufungsgericht verneinte Mängel des Verfahrens erster Instanz können – auch in Sozialrechtssachen (RIS‑Justiz RS0043061) – in dritter Instanz nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden (RS0042963). Soweit sich der Kläger darauf beruft, das Berufungsverfahren selbst sei mängelbehaftet, weil sich das Berufungsgericht unzureichend mit der Mängel- undBeweisrüge in der Berufung auseinandergesetzt hat, ist ihm zu entgegnen, dass die Vorinstanzen ohnedies ihren Entscheidungen das in §§ 9 bis 11 SanG gesetzlich geregelte Tätigkeitsprofil eines Notfallsanitäterszugrunde gelegt haben. Ein für den Ausgang der Sache entscheidender Mangel des Berufungsverfahrens liegt daher nicht vor. Im Übrigen fehlte es der Berufung insofern auch an der Darlegung der Relevanz des behaupteten Mangels (RS0043049 [T6]).
[6] Der Vorwurf, das Berufungsgericht habe dieMangelhaftigkeit der Tatsachenfeststellungen des Erstgerichts nur unzureichend aufgegriffen, lässt außer Betracht, dass in der Berufung keine Beweisrüge ausgeführtwurde.
[7] 2. In der Sache zieht der Kläger nicht in Zweifel, dass für die Beurteilung des Berufsschutzes die tatsächlich verrichtete Tätigkeit maßgeblich ist (RS0083723 [T1]).Vor diesem Hintergrund ist im Revisionsverfahren nur die vom Berufungsgericht implizit verneinte Frage strittig, ob Notfallsanitäter eine höhere nichtkaufmännische Tätigkeit iSd § 1 Abs 1 AngG verrichten und deshalb Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG genießen.
[8] 3. Ob Arbeiter- oder Angestelltentätigkeiten verrichtet werden, ist einzelfallbezogen zu beurteilen. Es begründet daher in der Regel keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung, dass der Oberste Gerichtshof zu einer konkreten Berufstätigkeit noch nicht Stellung genommen hat (10 ObS 63/21v).
[9] 4. Für höhere nicht kaufmännische Dienste fordert die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs im Allgemeinen eine größere Selbständigkeit und Denkfähigkeit, höhere Intelligenz, Genauigkeit und Verlässlichkeit, die Fähigkeit der Beurteilung der Arbeiten anderer, Aufsichtsbefugnis sowie überwiegend nicht‑manuelle Arbeiten und gewisse Einsicht in den Produktionsprozess (Arbeitsablauf), wobei diese Kriterien Indizien sind und keineswegs zur Gänze im Einzelfall vorliegen müssen (RS0027992).
[10] Diese Grundsätze haben die Vorinstanzen ohne Fehlbeurteilung auf den Anlassfall übertragen:
[11] 5.1. Der Oberste Gerichtshof hat sich bislang noch nicht mit der Einordnung eines Notfallsanitäters als Arbeiter oder Angestellter befasst. Zu 10 ObS 97/17p war diese Frage nicht näher zu prüfen, weil beide Parteien davon ausgingen, dass es sich beim dortigen Kläger nach den von ihm ausgeführten Tätigkeiten um einen Angestellten handelt. Zu 9 ObA 305/89 musste wegen Irrelevanz für das restliche Ergebnis nicht entschieden werden, ob ein Sanitäter als Arbeiter oder Angestellter zu qualifizieren ist.
[12] 5.2. Im Gesundheitsbereich wurde etwa die Tätigkeit als OP-Gehilfe (RS0084962 [T6]), ein Pflegehelfer (nun Pflegeassistent) in einem Krankenhaus (10 ObS 33/97v SSV‑NF 11/67; 10 ObS 404/97b SSV‑NF 12/6) oder als Prosekturgehilfe(RS0084962 [T15]) nicht als Angestelltentätigkeit qualifiziert, obwohl diese Tätigkeiten durchaus ein höheres Maß an Selbständigkeit, Denkfähigkeit, Intelligenz, Genauigkeit und Verlässlichkeit erfordern. Demgegenüber leisten diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger höhere nichtkaufmännische Dienste (vgl 10 ObS 357/00y SSV‑NF 15/15, RS0084962 [T7]). Dafür spricht zum einen die hohe fachliche Durchdringung der Tätigkeit, die sich in der Dauer der Ausbildung von 4.600 Stunden widerspiegelt (§ 41 Abs 1 und 2 GuKG). Zum anderen handelt es sich dabei um eine weitgehend selbständige und auch beaufsichtigende Tätigkeit (Drs in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 1 AngG Rz 25).
[13] 6. Die Aufgaben des Rettungssanitäters bestehen vorrangig in der Betreuung kranker, verletzter und sonstiger hilfsbedürftiger Personen vor und während eines Transports (§ 9 Abs 1 Z 1 SanG), reichen aber auch von der Hilfestellung bei Akutsituationen bis hin zur Durchführung lebensrettender Sofortmaßnahmen (§ 9 Abs 1 Z 3 und 4 sowie Abs 2 SanG). Notfallsanitäter haben zusätzlich Notfallpatienten zum Teil eigenverantwortlich zu versorgen sowie im Rahmen der Erstversorgung von Akutfällen diagnostische Tätigkeiten zu verrichten und den Patienten bis zur Übernahme der Behandlung durch den (Not-)Arzt zu betreuen (§ 10 SanG; ErläutRV 872 BlgNR 21. GP 42).
[14] 6.1. Im Vordergrund stehen daher primär den (Not-)Arzt unterstützende Tätigkeiten, wohingegen das eigenverantwortlicheSetzen therapeutischer Maßnahmen nur sehr eingeschränkt vorgesehen ist. Auch die Anwendung besonderer Notfallkompetenzen nach § 11 SanG setzt voraus, dass der Notfallsanitäter auf sich alleine gestellt und ärztliche Hilfe nicht rechtzeitig gegeben ist oder ein anwesender (Not-)Arzt eine entsprechende Anordnung trifft (ErläutRV 872 BlgNR 21. GP 42). Erklärtermaßen verfolgte der Gesetzgeber mit Schaffung des Tätigkeitsbereichs des Notfallsanitäters auch nicht das Ziel, „Paramedics“ anstelle von Notärzten einzusetzen. Vielmehr sollten diesen „bloß“ hoch qualifizierte Assistenten zur Seite gestellt werden, die bei Abwesenheit des Notarztes eine qualifizierte Erstversorgung durchführen können und dürfen (ErläutRV 872 BlgNR 21. GP 41). Notfallsanitätern kommen auch keine Aufsichts-, Prüfungs- oder Koordinationsbefugnisse gegenüber anderen Personen zu, was im Zusammenhang mit ihrer überwiegend nur assistierenden Rolle gegen die Verrichtung von Angestelltentätigkeiten spricht.
[15] 6.2. Auch die fachliche Durchdringung gebietet keine Einstufung als Angestellter. Ein Ausbildungsumfang von – inklusive Notfallkompetenz – selbst 790 Stunden ist mit jenem von diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegern (von 4.600 Stunden)nicht vergleichbar. Er bleibt aber auch deutlich hinter jenem von Pflegeassistenten zurück, die ungeachtet einer 1.600 Stunden (§ 92 Abs 1 GuKG) dauernden Ausbildung keine Angestelltentätigkeit verrichten.
[16] 7. Obwohl die Revision zu Recht betont, dass es sich bei der Tätigkeit eines Notfallsanitäters um eine verantwortungsvolle und sozial wertvolle Tätigkeit handelt, hält sich die Beurteilung der Vorinstanzen im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung. Angesichts der in erster Linie nur unterstützenden Funktion des Notfallsanitäters, des Fehlens von Aufsichts-, Prüfungs- und Koordinationstätigkeiten sowie der verhältnismäßig kurzen Ausbildungszeit ist nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanzen die Tätigkeit des Klägers nicht als Angestelltentätigkeit qualifizierten.
[17] 8. Die daran anschließende Beurteilung des Berufungsgerichts, dass mangels einer mit einem Lehrberuf vergleichbaren Ausbildungsdauer kein Berufsschutz nach § 255 Abs 1 ASVG besteht (vgl RS0084778 [T7, T13]) und der Kläger nicht invalid iSd § 255 Abs 3 ASVG ist, wird in der Revision nicht bekämpft.
[18] 9. Die außerordentliche Revision des Klägers ist daher zurückzuweisen.
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