European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E133147
Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerden werden zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht * zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen, auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhenden Urteil wurde der Angeklagte M* eines Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB und eines solchen Verbrechens nach §§ 15, 75 StGB schuldig erkannt.
[2] Danach hat er am 23. Februar 2020 in *
1) seine ehemalige Lebensgefährtin S* durch mehrere Schüsse in den Oberkörper mit einer Faustfeuerwaffe getötet, sowie
2) deren Bruder J* durch einen Schuss in den Bereich des Oberkörpers zu töten versucht, wobei es infolge einer Ausweichbewegung des Genannten beim Versuch blieb.
[3] Die Geschworenen haben die Hauptfragen 1 und 2 in Richtung Verbrechen des Mordes nach § 75 StGB (fortlaufende Nr 1) und nach §§ 15, 75 StGB (fortlaufende Nr 4) bejaht. Die zur Hauptfrage 1 gestellte Zusatzfrage 1 (fortlaufende Nr 2) nach Notwehr (§ 3 erster Satz StGB) und Notwehrüberschreitung (§ 3 Abs 2 StGB) haben die Geschworenen verneint, sodass die für den Fall deren Bejahung gestellte Eventualfrage 1 (fortlaufende Nr 3) nach dem Vergehen der fahrlässigen Tötung nach § 80 Abs 1 StGB unbeantwortet blieb. Weitere Fragen wurden nicht gestellt.
Rechtliche Beurteilung
[4] Dagegen richten sich die auf § 345 Abs 1 Z 5, 6 und 9 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten und die aus § 345 Abs 1 Z 13 StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft.
Zur Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten:
[5] Nichtigkeit aus § 345 Abs 1 Z 4 StPO liegt ausschließlich bei in der Hauptverhandlung erfolgter Verletzung oder Missachtung einer der in dieser Gesetzesstelle taxativ aufgezählten – oder in (nach Inkrafttreten der StPO erlassenen) Nebengesetzen enthaltenen, ausdrücklich bei sonstiger Nichtigkeit zu beobachtenden – Bestimmungen vor (RIS‑Justiz RS0099118, RS0099128, RS0099088; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 193).
[6] Gutachten im Sinn des § 252 Abs 1 StPO sind nur solche staatsanwaltschaftlich oder gerichtlich bestellter Sachverständiger (RIS‑Justiz RS0098450; Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 39). Der Einwand, der Untersuchungsbericht des Landeskriminalamtes vom 26. Februar 2021 (ON 135) sei in der Hauptverhandlung trotz Widerspruchs der Verteidigung (ON 143 S 21) unter Verletzung von Art 6 Abs 3 lit d EMRK verlesen worden, weil es sich dabei „der Sache nach“ um ein „waffentechnisches Gutachten“ handle und der Angeklagte keine Möglichkeit gehabt habe, Fragen an den Sachbearbeiter zu stellen und dadurch „auf eine Änderung des Gutachtensergebnisses hinzuwirken“, geht daher schon im Ansatz fehl.
[7] Die Abweisung eines auf Vernehmung des Verfassers des Untersuchungsberichts (nach dem acht bei der Spurensicherung am Tatort vorgefundene und gesicherte Patronenhülsen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus der vom Angeklagten verwendeten Waffe verfeuert wurden – ON 135 S 5, 9, 21) gerichteten Antrags releviert die Rüge im Übrigen nicht.
[8] Entgegen weiterer Kritik (Z 5) wurden die in der Hauptverhandlung am 9. März 2021 gestellten Beweisanträge ohne Verletzung von Verteidigungsrechten abgewiesen (ON 143 S 18):
[9] Jener auf „Beiziehung eines Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Schalltechnik, welchem die Auswertung der Audiodatei mit dem Notruf aufgetragen werden möge“, zum Beweis dafür, „dass der Angeklagte am 23. Februar 2020 im Haus von S* lediglich sieben Schüsse abgegeben hat“ und „sich J* zum Zeitpunkt der Abgabe dieser Schüsse nicht im Gang befunden haben kann“ (ON 141 S 69 f, womit auch kein Bezug zu der vom Angeklagten zugestandenen [ON 142 S 13, 45] Schussabgabe in der Küche hergestellt wurde), ließ – auch unter Berücksichtigung des ergänzenden Vorbringens in der Hauptverhandlung am 11. März 2020 (ON 143 S 14) – nicht erkennen, weshalb die begehrte Beweisaufnahme geeignet wäre, die auf Notwehr abzielende Einlassung des Angeklagten (ON 140 S 18 f, 22, 24 f, 33, 37, 45; ON 142 S 11 ff, S 17; ON 143 S 3 f) zu stützen und die Täterschaft des Beschwerdeführers infrage zu stellen (vgl RIS‑Justiz RS0118444). Solcherart war er auch unter dem Aspekt der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen J* ohne Relevanz (RIS‑Justiz RS0120109 [T3]).
[10] Soweit das Begehren darauf gerichtet war, „dass S* vor Abgabe des ersten Schusses im Bereich der Schleuse, als sich der Angeklagte bereits im Katzenzimmer befunden hat, gegenüber J* äußerte, dass sie die Waffe holen wird“ (ON 141 S 70), konnte dieser Umstand – wie das Erstgericht ausführte (ON 143 S 19) – nach Abspielen der Audiodatei des Notrufs in der Hauptverhandlung als (ausreichend) klargestellt angesehen werden (§ 55 Abs 1 Z 3 StPO; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 342).
[11] Aus den gleichen Gründen als für die Lösung der Schuld- und Subsumtionsfrage unerheblich konnte die begehrte „Einholung eines Zeit‑Weg‑Diagramms zum Beweis dafür, dass sich der Angeklagte bei Abgabe des letzten Schusses allenfalls in jenem Bereich des Ganges, in welchem sich der Eingang zur Waschküche befindet, befunden haben kann“ (ON 141 S 70 f) unterbleiben.
[12] Mit ihrem gegen die Abweisung des Antrags „auf Einholung eines gerichtsmedizinischen Gutachtens zur Auswertung einer sichergestellten DNA-Spur“ gerichteten Vorbringen gelangt die Rüge mangels Angabe der Fundstelle der – als argumentative Basis der Nichtigkeitsbeschwerde dienenden – Antragstellung im (213 Seiten umfassenden und vier Verhandlungstage dokumentierenden) Protokoll der Hauptverhandlung nicht zu prozessförmiger Ausführung (RIS‑Justiz RS0124172; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 302). Im Übrigen hat das Erstgericht die zum Nachweis, „dass sich am Griffstück der Pistole Walther P99 DNA-Spuren der S* befanden bzw befunden haben, … bei welchen es sich um Hautabrieb oder Schweiß, nicht jedoch um Blutspuren handelt“, begehrte Beweisaufnahme (ON 143 S 14) – abgesehen von deren fehlender Erheblichkeit – ausgehend von der Verantwortung des Angeklagten, wonach dieser nach der Tat mit der Waffe in Händen im Halsbereich des Opfers den Puls getastet hat (ON 140 S 25, 31, 39; ON 142 S 16, 19, 23), mit der willkürfreien Begründung einer dabei nachvollziehbaren Spurenübertragung unterlassen (ON 143 S 19).
[13] Das die Anträge ergänzende Beschwerdevorbringen (etwa wonach „der Vorwurf des Mordversuchs zum Nachteil von J* nicht aufrecht erhalten werden“ könne) hat mit Blick auf das aus dem Wesen des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes resultierende Neuerungsverbot auf sich zu beruhen (RIS‑Justiz RS0099618, RS0099117).
[14] Soweit die Rüge (Z 6, nominell auch Z 9) die alternative Zusammenfassung der Straflosigkeitsgründe der Notwehr und der Notwehrüberschreitung aus asthenischem Affekt (§ 3 Abs 1 bzw 2 StGB) in der Zusatzfrage 1 beanstandet, macht sie nicht klar, weshalb dies trotz des (den Angeklagten gezielt begünstigenden) Grundsatzes der Totalabstimmung (RIS‑Justiz RS0102740; Lässig, WK‑StPO § 313 Rz 11, § 317 Rz 11) nicht zulässig sein sollte.
[15] Die (bloß) behauptete (Z 6) über „die Tatbestandsmerkmale des Ausnahmesatzes gemäß § 3 StGB“ hinausgehende Anführung von Sachverhaltselementen (dazu Lässig, WK‑StPO § 313 Rz 9 f; RIS‑Justiz RS0100495, RS0117501) ist der Zusatzfrage 1 nicht zu entnehmen. Im Übrigen stellt der Einleitungssatz bloß einen Bezug zur Hauptfrage her, der gänzlich ungeeignet war, die Geschworenen zu beirren.
[16] Die Kritik (der Sache nach Z 8, nominell Z 6) am Unterbleiben eines Hinweises an die Geschworenen, „dass die Zusatzfrage bereits dann zu bejahen ist, wenn sie nur eine der darin genannten Varianten als erwiesen annehmen“, negiert den Inhalt der Rechtsbelehrung (S 28, 32), womit die Rüge nicht zu prozessförmiger Ausführung gelangt (Ratz, WK‑StPO § 345 Rz 65; RIS‑Justiz RS0119549, RS0119071).
[17] Soweit der Beschwerdeführer unterlassene Fragestellung nach Putativnotwehr(‑überschreitung) moniert, übersieht er, dass es zur prozessordnungskonformen Darstellung einer Rüge aus Z 6 des konkreten Hinweises auf in der Hauptverhandlung vorgekommene erhebliche Tatsachen bedarf – und zwar samt Angabe der Fundstelle(n) in den Akten (Ratz, WK‑StPO § 345 Rz 23, 42 f; RIS‑Justiz RS0124172). Der pauschale Verweis auf die „Verantwortung des Angeklagten“ wird diesen Anforderungen nicht gerecht.
Zur Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft:
[18] Die Sanktionsrüge (Z 13 zweiter Fall) beanstandet unter Hinweis auf die Angaben von als Zeuginnen vernommenen ehemaligen Freundinnen des Angeklagten, das Erstgericht hätte entgegen den gutachterlichen Ausführungen zum Schluss kommen und feststellen müssen, dass bei M* eine geistige und seelische Abartigkeit höheren Grades im Sinne des § 21 StGB vorliege. Solcherart stellt sie jedoch nicht den für ein erfolgreiches Rechtsmittel erforderlichen Bezug zu sämtlichen Kriterien des § 21 Abs 2 StGB her (vgl im Übrigen Ratz, WK2 StGB Vor §§ 21–25 Rz 8 f).
[19] Die Nichtigkeitsbeschwerden waren daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der dazu erstatteten Äußerung der Verteidigung – bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§§ 344, 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen folgt (§§ 344, 285i StPO).
[20] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
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