OGH 28Ns1/19i

OGH28Ns1/19i8.2.2021

Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter hat am 8. Februar 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden, die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Kalivoda als weitere Richterin und durch die Rechtsanwälte Dr. Stortecky und Mag. Wagner als Anwaltsrichter in der Disziplinarsache gegen *, Rechtsanwalt in *, AZ D 3/17, über den Antrag des Disziplinarbeschuldigten auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH-Geo 2019 den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130760

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

 

Gründe:

[1] Mit Erkenntnis des Disziplinarrats der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich vom 19. März 2018, AZ D 3/17, wurde Rechtsanwalt * der Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre oder Ansehen des Standes nach § 1 Abs 1 erster und zweiter Fall DSt schuldig erkannt.

[2] Danach hat er

1./ im Zeitraum 5. April 2013 bis 24. Jänner 2014 im Verfahren AZ * des Bezirksgerichts Liesing grob sorgfaltswidrig unterlassen, ein Vorbringen zu § 27a KSchG zu erstatten, wodurch es zum Prozessverlust seiner Mandantin, der B* GmbH, kam;

2./ ohne Auftrag seiner Mandantin, der B* GmbH, am 16. September 2013 eine Berufung gegen das Urteil des Bezirksgerichts Liesing vom 5. August 2013, AZ *, erhoben;

3./ den durch das zu den Schuldsprüchen 1./ und 2./ beschriebene Verhalten entstandenen Schaden trotz der ihm mit Urteil des Bezirksgerichts Mödling vom 10. Juni 2016, AZ * auferlegten Zahlungsverpflichtung ab 10. Juni 2016 nicht ersetzt.

[3] Über den Disziplinarbeschuldigten wurde hierfür eine Geldbuße von 3.000 Euro verhängt. Zudem wurde er zum Ersatz der Verfahrenskosten verpflichtet.

Rechtliche Beurteilung

[4] Gegen dieses Erkenntnis richtete sich die Berufung des Disziplinarbeschuldigten vom 22. Juni 2018 wegen Nichtigkeit und wegen des Ausspruchs über die Schuld und die Strafe. Der Oberste Gerichtshof gab mit Erkenntnis vom 17. Jänner 2019, AZ 28 Ds 4/18d, der Berufung des Disziplinarbeschuldigten keine Folge.

[5] Mit dem beim Obersten Gerichtshof eingebrachten Antrag begehrt * mit der Behauptung der Verletzung der EMRK die Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO.

[6] Im Wesentlichen bringt er dazu vor, dass der Disziplinarrat befangen gewesen sei, weil dieser sich selbst am 14. März 2005 im Verfahren AZ D 39/04 wegen Kritik für befangen erklärt hätte. Auch die am Verfahren AZ 28 Ds 4/18d mitwirkende Anwaltsrichterin * hätte sich als damalige Präsidentin des Disziplinarrats selbst für befangen erklärt. Auch würde das erstinstanzliche Erkenntnis des Disziplinarrats und mit ihr das im Verfahren AZ 28 Ds 4/18d ergangene Erkenntnis des Obersten Gerichtshofs das Bestimmtheitsgebot nach Art 7 EMRK verletzen. Darüber hinaus wäre im erstinstanzlichen Verfahren die Anzeige dem Kammeranwalt unverzüglich zuzuleiten gewesen, wobei eine unterbliebene Information um die Verjährung zu verhindern gegen das Willkürverbot verstoßen würde und das Gebot eines fairen Verfahrens nach Art 6 EMRK verletzen würde. Weiters wäre dem Einleitungsbeschluss und auch sonst aus den Akten beider Instanzen kein ausreichend konkreter Vorwurf zu entnehmen, was nach den Umständen dieses Falls disziplinär gewesen sein solle. Außerdem dürfe ein Rechtsanwalt ohne Zustimmung des Versicherers einen Haftpflichtanspruch nicht anerkennen oder befriedigen, wobei die „wiederholten Rechtfertigungsversuche in beiden Instanzen ignoriert“ worden seien.

[7] Dieser gegen das Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 17. Jänner 2019, AZ 28 Ds 4/18d, erhobene Antrag ist unzulässig.

[8] Wird in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine Verletzung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl 1998/210, oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichts festgestellt, so ist gemäß § 363a Abs 1 StPO das Verfahren auf Antrag insoweit zu erneuern, als nicht auszuschließen ist, dass die Verletzung einen für den hievon Betroffenen nachteiligen Einfluss auf den Inhalt einer strafgerichtlichen Entscheidung ausüben konnte.

[9] Läge nun in einem Disziplinarverfahren ein verurteilendes Erkenntnis des EGMR vor, so käme der zwar im 16. Hauptstück der StPO, jedoch unabhängig von den Bestimmungen über die Wiederaufnahme des Verfahrens geregelte Rechtsbehelf der Erneuerung des Strafverfahrens als Remedium gegen die Verletzung eines durch die EMRK und ihre Zusatzprotokolle gewährleisteten Rechts schon deshalb gemäß § 77 Abs 3 DSt sinngemäß zur Anwendung, weil er als Instrument zu dessen Umsetzung mit den Grundsätzen und Eigenheiten des Disziplinarverfahrens vereinbar ist (vgl bereits VfSlg 16.747, B942/02). Es kann daher insoweit dahingestellt bleiben, ob es sich bei Disziplinarverfahren der österreichischen Rechtsanwälte – unter Berücksichtigung der sogenannten Engel‑Kriterien (RIS‑Justiz RS0120945; vgl Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 24 Rz 19 ff) – um Strafverfahren handelt (vgl RIS‑Justiz RS0130576 [T1]; EGMR 19. 2. 2013 47195/06, Müller‑Hartburg/Österreich).

[10] Anders verhält es sich jedoch bei dem durch die Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 1. August 2007, 13 Os 135/06m (EvBl 2007/154, 832 = JBl 2008/62) erweiterten Anwendungsbereich der Erneuerung des Strafverfahrens, der einen darauf gerichteten Antrag auch ohne vorausgegangenes Urteil des EGMR als grundsätzlich zulässig ansieht.

[11] Wie die seither ständige Rechtsprechung ging diese Entscheidung nämlich vor dem Hintergrund des Rechts auf eine wirksame Beschwerde vor einer nationalen Instanz nach Art 13 EMRK davon aus, dass die Feststellung einer Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch den EGMR nicht bloß als notwendige, sondern auch als hinreichende Bedingung für die Erneuerung des Strafverfahrens verstanden werden kann und sich seit Einführung der §§ 363a bis 363c StPO durch das StRÄG 1996 die Rechtsprechung des EGMR zu den das gerichtliche Verfahren betreffenden Garantien signifikant verändert hat, sodass eine (jedenfalls nachträglich entstandene) Planwidrigkeit des § 363a Abs 1 StPO nicht von der Hand zu weisen und eine Lückenschließung dahin gerechtfertigt ist, dass es eines Erkenntnisses des EGMR als Voraussetzung für eine Erneuerung des Strafverfahrens nicht zwingend bedarf. Vielmehr kann auch eine vom Obersten Gerichtshof selbst – aufgrund eines Antrags auf Erneuerung des Strafverfahrens – festgestellte Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines untergeordneten Strafgerichts zur Zulässigkeit eines solchen Antrags führen (RIS‑Justiz RS0122228; Reindl‑Krauskopf, WK-StPO Vor §§ 363a–c Rz 11).

[12] Bei einem nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag handelt es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf. Demgemäß gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 EMRK sinngemäß auch für derartige Anträge. So kann der Oberste Gerichtshof unter anderem erst nach Rechtswegausschöpfung angerufen werden. Hieraus folgt für die Fälle, in denen die verfassungskonforme Auslegung von Tatbeständen des materiellen Strafrechts in Rede steht, dass diese Problematik vor einem Erneuerungsantrag mit Rechts- oder Subsumtionsrüge (§ 281 Abs 1 Z 9 oder Z 10, § 468 Abs 1 Z 4, § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO) geltend gemacht worden sein muss. Steht die Verfassungskonformität einer Norm als solche in Frage, hat der Angeklagte nunmehr unter dem Aspekt der (vertikalen) Rechtswegausschöpfung(vgl RIS-Justiz RS0122737 [T13]; Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 13 Rz 28 ff) diese Frage an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen und aus Anlass der gegen das erstinstanzliche Urteil erhobenen Berufung einen Antrag auf Normenkontrolle (Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG) zu stellen (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 597; RIS-Justiz RS0130514). Wird der Rechtsweg im Sinn der dargelegten Kriterien ausgeschöpft, hat dies zur Folge, dass in Strafsachen, in denen der Oberste Gerichtshof in zweiter Instanz entschieden hat, dessen unmittelbarer (nicht auf eine Entscheidung des EGMR gegründeter) Anrufung mittels Erneuerungsantrags die Zulässigkeitsbeschränkung des Art 35 Abs 2 lit b erster Fall EMRK entgegensteht, weil der Antrag solcherart „im wesentlichen“ mit einer schon vorher vom Obersten Gerichtshof geprüften „Beschwerde“ übereinstimmt (RIS‑Justiz RS0122737).

[13] Wird die von einem Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens geltend gemachte Konventionsverletzung nicht zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht (horizontale Erschöpfung), geht ein solcher schon aus diesem Grund fehl.

[14] Somit können Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs ohne vorherige Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht Gegenstand eines Erneuerungsantrags sein (RIS‑Justiz RS0130261).

[15] Im Gegensatz zum Strafverfahren nach der StPO entscheidet im Bereich des Disziplinarstatuts für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter gemäß § 46 DSt stets der Oberste Gerichtshof über die Rechtsmittel der Berufung gegen Erkenntnisse des Disziplinarrats sowie der Beschwerde gegen Beschlüsse. Nach dem oben Gesagten sind Anträge auf Erneuerung des Strafverfahrens daher insoweit jedenfalls unzulässig.

[16] In jenen Fällen, in denen das Disziplinarstatut ein (abgesondertes) Rechtsmittel nicht vorsieht (vgl §§ 25 Abs 4, 26 Abs 5, 27 Abs 5, 31 Abs 3, 58 DSt), ist nicht ersichtlich, weshalb behauptete Konventionsverletzungen nicht wirksam iSd Art 13 EMRK im Rahmen der mündlichen Verhandlung – etwa durch geeignete Antragstellung – oder des Berufungsverfahrens durchgesetzt werden könnten (vgl §§ 468 Abs 1 Z 1 und Z 3, 281 Abs 1 Z 4 StPO iVm § 77 Abs 3 DSt), sodass unmittelbar auf den geltend gemachten Verfahrensverstoß gegründete Erneuerungsanträge mangels Opfereigenschaft unzulässig wären (RIS-Justiz RS0126370). Insbesondere der den Tatvorwurf determinierende, einem Rechtsmittel nicht zugängliche (§ 28 Abs 2 letzter Satz DSt) Einleitungsbeschluss wird für den Fall eines den Disziplinarbeschuldigten beschwerenden Schuldspruchs im Rahmen des Berufungsverfahrens vom Obersten Gerichtshof geprüft.

[17] Es ist daher für den Bereich des Disziplinarverfahrens der Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter keine Planwidrigkeit des § 363a Abs 1 StPO erkennbar, die auch dessen analoge Anwendung im Wege des § 77 Abs 3 DSt rechtfertigen würde.

[18] Der Antrag war daher gemäß § 363b Abs 2 Z 2 StPO iVm § 77 Abs 3 DSt schon bei der nichtöffentlichen Beratung als unzulässig zurückzuweisen, ohne dass auf dessen im Übrigen ohnedies im Wesentlichen mit den ursprünglichen Berufungsausführungen übereinstimmende Vorbringen einzugehen gewesen wäre.

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