OGH 10ObS51/17y

OGH10ObS51/17y10.10.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Schramm und Mag. Ziegelbauer, sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Josef Putz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei N*****, Deutschland vertreten durch Dr. H. Burmann, Dr. P. Wallnöfer, Dr. R. Bacher, Rechtsanwälte in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15–19, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 26. Jänner 2017, GZ 25 Rs 40/16t‑14, mit dem infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 10. November 2015, GZ 76 Cgs 37/15f‑9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00051.17Y.1010.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR (darin 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin war seit 1. 6. 2008 bei einem österreichischen Arbeitgeber in Österreich beschäftigt.

Das erste Kind der Klägerin wurde am 1. 9. 2011 geboren. Die Klägerin bezog von 27. 7. 2011 bis 10. 11. 2011 Wochengeld. Sie vereinbarte mit ihrem Arbeitgeber eine daran anschließende Karenz nach dem MSchG bis 28. 2. 2013 und bezog vom 11. 11. 2011 bis zum 28. 2. 2013 Kinderbetreuungsgeld.

In der Zeit vom 1. 3. 2013 bis zum 10. 7. 2013 befand sich die Klägerin in einer mit ihrem Arbeitgeber vereinbarten Bildungskarenz gegen Entfall des Arbeitsentgelts. Sie setzte in dieser Zeit ihr Studium an einer österreichischen Universität fort. In der Zeit vom 1. 3. 2013 bis zum 8. 7. 2013 bezog die Klägerin aus der Arbeitslosenversicherung Weiterbildungsgeld in Höhe von 48,16 EUR täglich.

Das zweite Kind der Klägerin wurde am 27. 8. 2013 geboren. Die Klägerin bezog vom 9. 7. 2013 bis 29. 10. 2013 Wochengeld. Mit ihrem Arbeitgeber vereinbarte sie eine Karenz nach dem MSchG vom 23. 7. 2013 bis zum 26. 8. 2015. Eine Gefälligkeitsbestätigung über das Bestehen einer Karenz wurde vom Arbeitgeber der Klägerin nicht ausgestellt.

Das Arbeitsverhältnis der Klägerin endete durch Mutterschaftsaustritt zum 30. 4. 2015.

Seit 5. 7. 2013 lebt die Klägerin mit ihrem Ehegatten und ihren beiden Kindern in Deutschland. Der Ehegatte der Klägerin ist in Deutschland erwerbstätig.

Aus Anlass der Geburt ihres zweiten Kindes bezog die Klägerin in Deutschland Elterngeld für den Zeitraum vom 27. 4. 2013 bis zum 26. 8. 2014 in Höhe von insgesamt 3.713,71 EUR. Seit 30. 10. 2013 bestand für die Klägerin in Deutschland Krankenversicherungsschutz im Rahmen einer Familienversicherung.

Die Klägerin beantragte nach ihrem diesbezüglich nicht bestrittenen Vorbringen am 15. 10. 2013 bei der Beklagten zunächst die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens. Am 27. 10. 2013 beantragte sie den Umstieg auf die Gewährung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Kurzleistung bis zum 1. Geburtstag ihres zweiten Kindes (§ 5c KBGG idF BGBl I 2009/116). Mit Schreiben vom 28. 6. 2014 beantragte die Klägerin die Ausstellung eines Bescheids über diesen Antrag. Die Beklagte erließ einen solchen Bescheid nicht.

Mit der am 24. 3. 2015 beim Erstgericht eingelangten und im Revisionsverfahren allein noch zu behandelnden Säumnisklage begehrte die Klägerin zuletzt die Zahlung von Kinderbetreuungsgeld aus Anlass der Geburt ihres zweiten Kindes als Ausgleichszahlung in Form der Pauschalvariante gemäß § 5c KBGG (idF BGBl I 2009/116) unter Anrechnung des deutschen Elterngeldes vom 30. 10. 2013 bis 26. 8. 2014 (300 Tage) in Höhe von insgesamt 6.186,29 EUR (9.900 EUR abzüglich 3.713,71 EUR). Die Voraussetzungen für diesen Anspruch seien erfüllt. Die Klägerin habe sich in einem aufrechten Arbeitsverhältnis zu ihrem österreichischen Dienstgeber befunden. Bis unmittelbar vor Beginn der Schutzfrist vor der Geburt ihres zweiten Kindes, am 8. 7. 2013, habe die Klägerin unmittelbar anschließend an die Mutterschaftskarenz nach dem ersten Kind eine Weiterbildung in Form eines Universitätsstudiums in Österreich im Rahmen einer Bildungskarenz absolviert. Bis zu diesem Zeitpunkt sei der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in Österreich gelegen. Bis zum Ende des Bezugs von Wochengeld für ihr zweites Kind am 29. 10. 2013 sei sie in Österreich bei der Beklagten krankenversichert gewesen.

Die Beklagte wandte dagegen ein, dass die Klägerin seit etwa vier Jahren keine Beschäftigung in Österreich mehr ausgeübt habe und in Österreich nicht mehr verwurzelt sei. Sie habe darüber hinaus im Zeitraum vom 1. 3. 2013 bis 8. 7. 2013 Weiterbildungsgeld, und daher eine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung, bezogen. Nach dem Unionsrecht bestimme sich der für die Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in weiterer Folge: VO 883/2004 ) maßgebliche Beschäftigungsbegriff nach den Vorschriften des nationalen Rechts. Die Klägerin erfülle weder die Voraussetzungen einer Beschäftigung noch einer gleichgestellten Situation gemäß § 24 Abs 2 KBGG. Es liege eine Scheinkarenz vor. Die Klägerin sei in den letzten sechs Monaten vor der Geburt ihres zweiten Kindes am 27. 8. 2013 keiner Beschäftigung in Österreich nachgegangen.

Das Erstgericht sprach der Klägerin Kinderbetreuungsgeld als Ausgleichszahlung in Form der Pauschalvariante gemäß § 5c KBGG unter Anrechnung des deutschen Elterngeldes vom 30. 10. 2013 bis 26. 8. 2014 (300 Tage) in Höhe von insgesamt 6.186,29 EUR (9.900 EUR abzüglich 3.713,71 EUR) zu. Es ging von der Anwendbarkeit der VO 883/2004 auf den vorliegenden Sachverhalt aus. Die Klägerin sei seit 2008 in Österreich sozialversicherungspflichtig beschäftigt und durchgehend gegen zumindest ein Risiko, das von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst wird, pflichtversichert gewesen. Ihr müsse daher die Arbeitnehmereigenschaft gemäß Art 11 Abs 3 lit a iVm Abs 2 VO 883/2004 durchgehend zugestanden werden. Da die Voraussetzungen der Säumnisklage gemäß § 67 Abs 1 Z 2 ASGG erfüllt seien, sei dem Klagebegehren stattzugeben.

Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten gegen dieses Urteil erhobenen Berufung Folge und wies das Klagebegehren ab. Bei Beurteilung der Frage des unionsrechtlichen Vorliegens einer Beschäftigung der Klägerin sei gemäß Art 11 Abs 3 lit a iVm Art 1 lit a VO 883/2004 auf den nationalen Beschäftigungsbegriff abzustellen. Diesen definiere im vorliegenden Fall § 24 Abs 2 KBGG. Danach seien nur Zeiten eines Beschäftigungsverbots oder einer gesetzlichen Karenz nach dem MSchG (VKG) bis maximal zum zweiten Geburtstag des Kindes einer tatsächlich ausgeübten Beschäftigung gleichgestellt. Die Zeit der von der Klägerin in Anspruch genommenen Bildungskarenz, während derer sie vom 1. 3. 2013 bis 8. 7. 2013 Weiterbildungsgeld aus der Arbeitslosenversicherung bezog, gehöre nicht zu diesen Zeiten und sei der Ausübung der Beschäftigung daher nicht gleichgestellt. Dies gelte auch für die zweite von der Klägerin in Anspruch genommene Karenz aus Anlass der Geburt ihres zweiten Kindes, weil dieser nicht eine mindestens sechs Monate andauernde Erwerbstätigkeit im Sinn des § 24 Abs 2 Satz 2 KBGG vorangegangen sei. Die von der Klägerin in Anspruch genommene Bildungskarenz unterbreche darüber hinaus die Zuständigkeit Österreichs zur Gewährung von Familienleistungen, weil sie aufgrund ihrer Dauer von vier Monaten nicht als bloß vorübergehend anzusehen sei. Es könne daher auch nicht von einer Fiktion einer durchgehenden, einer Beschäftigung gleichgestellten Zeit im Ausmaß der von der Klägerin in Anspruch genommenen gesetzlichen Karenzen nach dem MSchG ausgegangen werden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Klägerin, mit der sie die Stattgebung ihrer Klage anstrebt. Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und berechtigt.

Die Revisionswerberin führt zusammengefasst aus, dass für die Beurteilung der Frage, ob eine Beschäftigung im Sinn des Art 1 lit a VO 883/2004 vorliege, nicht ausschließlich auf § 24 KBGG zurückgegriffen werden dürfe. Diese Bestimmung verwende den Begriff der Erwerbstätigkeit, der grundsätzlich keine Anspruchs-voraussetzung des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes sei. Es sei daher davon auszugehen, dass eine freiwillige Bildungskarenz eine Beschäftigung im Sinn des Art 1 lit a VO 883/2004 sei, denn die Klägerin habe auch während dieser Zeit eine Geldleistung infolge ihrer Beschäftigung bezogen, nämlich Weiterbildungsgeld, sodass eine gleichgestellte Zeit im Sinn des Art 11 Abs 2 VO 883/2004 vorliege. Dies ergebe sich im konkreten Fall umsomehr deshalb, weil auch durch die Weiterbildungskarenz von der Klägerin keine längere Karenz als die nach dem MSchG höchstzulässige von zwei Jahren in Anspruch genommen worden sei. Dass der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld auch länger als zwei Jahre bestehen könne, habe der Oberste Gerichtshof bereits in der Entscheidung 10 ObS 117/14z ausgesprochen. Persönliche Gründe für die Verlängerung einer Karenz dürften nach der Entscheidung des EuGH C‑516/09, Borger, darüber hinaus keine Rolle spielen; maßgeblich sei das objektive Kriterium des Bestehens der Versicherung in einer Sparte des Systems der sozialen Sicherheit. Die Klägerin sei durch den Bezug von Weiterbildungsgeld während der Bildungskarenz gemäß § 6 Abs 2 AlVG in der Kranken‑, Unfall‑ und Pensionsversicherung pflichtversichert gewesen. Allenfalls bedürfe es für die Klärung dieser Fragen der Einleitung eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH).

Dazu ist auszuführen:

1. Die Beklagte hat das Vorbringen in der Klage, dass die Klägerin den Umstieg auf Zuerkennung pauschalen Kinderbetreuungsgeldes fristgerecht (§ 26a KBGG) geltend gemacht hat, nicht bestritten. Die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass für diesen Anspruch die Voraussetzungen der Säumnisklage nach der im Zeitpunkt der Klageeinbringung noch allein anwendbaren Bestimmung des § 67 Abs 1 Z 2 ASGG gegeben waren, ist nach den Feststellungen des Erstgerichts zutreffend und wurde von der Beklagten bereits in der Berufung – und auch in der Revisionsbeantwortung – nicht mehr bestritten.

2.1 Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld als Ausgleichszahlung aus Anlass der Geburt ihres zweiten Kindes am 27. 8. 2013. Die Klägerin begehrt diesen Anspruch für den auf den Bezug des Wochengeldes unmittelbar anschließenden Zeitraum vom 30. 10. 2013 bis zum 26. 8. 2013, dem Ende ihres Bezugs von deutschem Elterngeld (zur Vergleichbarkeit des Sinns und Zwecks dieser Leistung mit jenem des Kinderbetreuungsgeldes vgl 10 ObS 27/08f, SSV‑NF 22/65). Die Klägerin war zu dieser Zeit bereits in Deutschland wohnhaft und dort ab 30. 10. 2013 auch krankenversichert. Ihr – karenziertes – Dienstverhältnis zu ihrem österreichischen Arbeitgeber bestand hingegen bis zum 30. 4. 2015 aufrecht fort.

2.2 Entgegen der Rechtsansicht der Beklagten liegt schon im Hinblick darauf, dass die in Deutschland wohnhafte Klägerin eine Leistung aus dem österreichischen System der sozialen Sicherheit begehrt, ein grenzüberschreitender Sachverhalt vor, der den persönlichen Anwendungsbereich der VO 883/2004 gemäß ihrem Art 2 Abs 1 eröffnet (näher Spiegel in Fuchs, Europäisches Sozialrecht6 Art 2 VO 883/2004 Rz 15 mwH). Die auch in der Revisionsbeantwortung aufrecht erhaltene Behauptung der Beklagten, zwischen der Klägerin und ihrem österreichischen Arbeitgeber sei eine „Scheinkarenz“ vereinbart gewesen, findet in den von der Beklagten in der Berufung nicht bekämpften Feststellungen keine Grundlage. Auch der sachliche Anwendungsbereich der Verordnung ist eröffnet, weil das österreichische Kinderbetreuungsgeld eine Familienleistung gemäß Art 1 lit z und Art 3 Abs 1 lit j VO 883/2004 (RIS‑Justiz RS0122905, zuletzt 10 ObS 135/16z; EuGH C‑543/03, Dodl und Oberhollenzer, Rn 50, noch zu Art 4 Abs 1 lit h VO [EWG] Nr 1408/71).

3.1 Im Anwendungsbereich der VO 883/2004 stellt sich zuerst die Frage nach dem anwendbaren Recht. Dieses ist gemäß Art 11 Abs 1 Satz 2 VO 883/2004 nach den den Titel II der Verordnung bildenden Kollisionsnormen der Art 11–16 VO 883/2004 zu bestimmen, die ein geschlossenes und einheitliches System zur Koordinierung darstellen (10 ObS 133/15d mwH).

3.2 Unstrittig liegt kein in den Art 12–16 VO 883/2004 geregelter Fall vor, sodass sich das anwendbare Recht nach der zentralen Kollisionsnorm des Art 11 VO 883/2004 bestimmt. Primär unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, gemäß Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats. In diesem Zusammenhang ist für die Bestimmung des anwendbaren Rechts auch Art 11 Abs 2 VO 883/2004 zu beachten. Nach dieser Bestimmung wird „für die Zwecke des Titels II der VO 883/2004 “, daher für die Bestimmung des anwendbaren Rechts, bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben.

3.3 Den Begriff „Beschäftigung“ definiert Art 1 lit a VO 883/2004 . „Beschäftigung“ ist danach jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt. Der Umstand, dass die Verordnung auf diese Weise den Begriff der „Beschäftigung“ durch Verweisung auf das Sozialrecht des Mitgliedstaats definiert, ändert jedoch nichts daran, dass es sich bei diesem Begriff als solchen um einen unionsrechtlichen handelt (Steinmeyer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht6 Art 3 VO 883/2004 Rz 9; Spiegel, ebenda Art 1 VO 883/2004 Rz 3 mH auf EuGH C‑75/63, Unger, Spruchpunkt 1 zur VO [EWG] Nr 3 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer).

3.4 Dies ist deshalb von Bedeutung, weil der Gerichtshof der Europäischen Union mehrfach entschieden hat, dass die nationalen Rechtsvorschriften nicht dazu führen dürfen, dass eine Person, die unter den Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 fällt (nunmehr: VO 883/2004 ), vom Anwendungsbereich dieser nationalen Rechtsvorschriften ausgeschlossen wird (EuGH C‑2/89, Kits van Heijningen, Rn 20; C‑347/10, Salemink, Rn 40; C‑106/11, Bakker, Rn 33, jeweils zur VO 1408/71 ). Denn auch wenn die Mitgliedstaaten weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig sind, müssen sie dabei gleichwohl das Unionsrecht und insbesondere die primärrechtlichen Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beachten (Art 45 ff AEUV; EuGH C‑347/10, Salemink, Rn 39 mwH; vgl auch 10 ObS 133/15d).

3.5 § 24 Abs 2 KBGG (hier idF BGBl I 2011/139, § 50 Abs 1 KBGG) stellt nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs gleichzeitig auch eine Definition des Begriffs der „Beschäftigung“ im Sinn des Art 1 lit a VO 883/2004 sowohl für das pauschale als auch für das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld dar (RIS‑Justiz RS0130043). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist jedoch das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt (RIS‑Justiz RS0109951 [T3]). Für die Anwendung des Beschäftigungsbegriffs des § 24 Abs 2 KBGG im Anwendungsbereich der VO 883/2004 ist nach dem Gesagten daher zu beachten, dass, wie der Oberste Gerichtshof bereits in der Entscheidung 10 ObS 117/14z, SSV‑NF 29/13 = EVBl 2016/4, 32 (Niksova) = DRdA 2016/3, 37 (Kunz) = ZAS 2016/5, 33 (Petric), ausgeführt hat, die – ebenso wie Art 11 Abs 3 VO 883/2004 das anwendbare Recht bestimmende! – Regelung des Art 11 Abs 2 VO 883/2004 einen Kernbereich des unionsrechtlichen Begriffs der „Beschäftigung“ darstellt. Geldleistungen, die unter Art 11 Abs 2 VO zu subsumieren sind, sind demnach unabhängig von der nationalen Systematik als Ausübung einer Beschäftigung zu werten (Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 1 VO 883/2004 Rz 4).

4.1 § 24 Abs 2 KBGG idF BGBl I 2011/139 lautete:

„Unter Erwerbstätigkeit im Sinne dieses Bundesgesetzes versteht man die tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit. Als der Ausübung einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt gelten Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 6 Monate andauernden Erwerbstätigkeit während eines Beschäftigungsverbots nach dem Mutterschutzgesetz 1979 (MSchG), BGBl. Nr. 221, oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, sowie Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 6 Monate andauernden Erwerbstätigkeit zum Zwecke der Kindererziehung während Inanspruchnahme einer Karenz nach dem MSchG oder Väter‑Karenzgesetz (VKG), BGBl. Nr. 651/1989, oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, bis maximal zum Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes.“

4.2 In den Entscheidungen 10 ObS 117/14z und 10 ObS 135/16z (RIS‑Justiz RS0130045) hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass im Anwendungsbereich der VO 883/2004 von der Fiktion der (weiteren) Ausübung der Erwerbstätigkeit insbesondere dann auszugehen ist, wenn ein Beschäftigungsverhältnis lediglich vorübergehend (für die Zeit der Karenz bzw des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld) unterbrochen wird, dem Grunde nach aber fortbesteht und dies nach nationalem Recht zu einer Teilversicherung führt. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben:

4.3 Die Klägerin war von 1. 6. 2008 an bis zum Beginn des Wochengeldanspruchs vor der Geburt ihres ersten Kindes am 27. 7. 2011 durchgehend in Österreich erwerbstätig. Seit 1. 6. 2008 bestand das Arbeitsverhältnis der Klägerin bis zu ihrem Mutterschaftsaustritt mit 30. 4. 2015 durchgehend aufrecht fort. Der – durch die Feststellungen nicht begründete – Vorwurf der Beklagten gegenüber der Klägerin in der Revisionsbeantwortung, die Klägerin habe nicht wieder „in den österreichischen Job“ zurückkehren wollen, sondern wolle lediglich „Ausgleichszahlungen zum Kinderbetreuungsgeld lukrieren“ übergeht, dass der Austritt aus Anlass der Geburt eines Kindes ein Recht der Dienstnehmerin ist, dass gemäß § 15r Z 3 MSchG bei Inanspruchnahme einer Karenz nach §§ 15, 15a, 15c, 15d oder 15q MSchG bis spätestens drei Monate vor Ende der Karenz in Anspruch genommen werden kann. Aus dem bloßen Umstand, dass die Klägerin zwei Kinder geboren hat und eine zweite gesetzliche Karenz nach den Regeln des Mutterschutzgesetzes in Anspruch nahm, kann daher im konkreten Fall entgegen den Ausführungen der Beklagten nicht darauf geschlossen werden, dass keine bloß vorübergehende Unterbrechung der Erwerbstätigkeit der Klägerin vorläge.

4.4 Die Zeiten der Beschäftigungsverbote infolge der Geburten der beiden Kinder der Klägerin sind ebenso wie die Zeiten der Inanspruchnahme von Karenz nach dem Mutterschutzgesetz schon nach dem Wortlaut des § 24 Abs 2 KBGG als lediglich vorübergehende Unterbrechung des Beschäftigungsverhältnisses und gleichgestellte Zeiten auch im Sinn des Art 11 Abs 2 VO 883/2004 anzusehen. Die Klägerin hätte die gesetzliche Karenz nach dem Mutterschutzgesetz nach der Geburt ihres ersten Kindes bis zum 31. 8. 2013 in Anspruch nehmen können (§ 15 Abs 1 MSchG). Die von ihr mit ihrem Arbeitgeber vereinbarte Bildungskarenz lag zur Gänze in diesem Zeitraum. Hätte die Klägerin im konkreten Fall von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, wäre schon daher von einer lückenlosen Aneinanderreihung von Mutterschutz‑ und Karenzzeiten auch im Sinn des § 24 Abs 2 KBGG auszugehen gewesen („Gleichstellungskette“, Holzmann‑Windhofer in Holzmann‑Windhofer/Weißenböck, KBGG [2017], 154). Dass es sich dabei im konkreten Fall um keine „Scheinkarenz“ handelte, wurde bereits dargelegt.

4.5 Die Klägerin war, worauf das Erstgericht zutreffend hingewiesen hat, ab Beginn des Wochengeldbezugs nach der Geburt ihres ersten Kindes bis zum Beginn des hier zu beurteilenden Zeitraums in der gesetzlichen Sozialversicherung zumindest teilversichert (als Bezieherin von Wochengeld in der Pensionsversicherung, § 8 Abs 1 Z 2 lit a ASVG; als Bezieherin von Kinderbetreuungsgeld in der Krankenversicherung, § 8 Abs 1 Z 1 lit f ASVG; in der Kranken‑ und Unfallversicherung als Bezieherin von Weiterbildungsgeld, § 6 Abs 2, §§ 40 und 40a AlVG).

5.1 Auch für die Bestimmung des anwendbaren Rechts während der Zeit der freiwillig vereinbarten Bildungskarenz kommt es wie ausgeführt gemäß Art 11 Abs 2 VO 883/2004 nicht auf die nationale Systematik an. Es bedarf daher keiner näheren Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Bildungskarenz eine zum MSchG oder VKG „gleichartige andere österreichische Rechtsvorschrift“ im Sinn des § 24 Abs 2 KBGG ist. Wesentlich ist nach Art 11 Abs 2 VO 883/2004 vielmehr, ob eine Person „aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung“ eine Geldleistung bezieht. Zu Art 11 Abs 2 VO 883/2004 hat der Oberste Gerichtshof in den Entscheidungen 10 ObS 117/14z und 10 ObS 135/16z (jeweils mwH) ausgeführt, dass diese Bestimmung eine Neuerung gegenüber der VO 1408/71 darstellt und kurzfristige Zuständigkeitsänderungen bei vorübergehender Einstellung der Erwerbstätigkeit und kurzfristigem Bezug von Geldleistungen der sozialen Sicherheit (zB Krankengeld, Lohnfortzahlung) verhindern soll.

5.2 Das Weiterbildungsgeld gebührt gemäß § 26 Abs 1 AlVG nur für die vereinbarte Dauer einer Bildungskarenz gemäß § 11 AVRAG, daher mindestens zwei Monate bis zu höchstens einem Jahr (§ 11 Abs 1 AVRAG). Die Arbeitsfreistellung während einer Bildungskarenz ist zweckgewidmet für die Weiterbildung; nicht nur § 26 Abs 1 Z 1 AlVG verlangt den Nachweis an der Teilnahme, der anderweitige Verbrauch der Freizeit durch den Dienstnehmer kann auch arbeitsrechtliche Folgen wie etwa den Ausspruch einer Entlassung wegen Vertrauensunwürdigkeit (§ 27 Z 1 AngG) nach sich ziehen (Binder/Mair in Binder/Burger/Mair, AVRAG³, Stand: 1. 1. 2017, rdb.at § 11, Rz 11). Die Klägerin hat dementsprechend die vereinbarte Bildungskarenz zur Fortsetzung ihres Studiums an einer österreichischen Universität genützt. Der Bezug von Weiterbildungsgeld bewirkt wie ausgeführt einen Kranken‑ und Unfallversicherungsschutz und – nach Vollendung des 45. Lebensjahres – die Anerkennung als Ersatzzeit in der Pensionsversicherung (§ 227 Abs 1 Z 5 ASVG; Binder/Mair, AVRAG³, § 11 Rz 29).

5.3 Weiterbildungsgeld wird nur gewährt, wenn die in § 11 AVRAG genannten arbeitsvertraglichen Voraussetzungen erfüllt sind (näher Binder/Mair, AVRAG³, § 11 Rz 23). Es handelt sich deshalb um eine zeitlich jedenfalls begrenzte Geldleistung im Sinn des Art 11 Abs 2 VO 883/2004 , die eine Person nur „aufgrund oder infolge“ ihrer Beschäftigung beziehen kann. Der Bezug von Weiterbildungsgeld erfolgte im konkreten Fall zur Gänze in einem Zeitraum, in dem die Klägerin Anspruch auf gesetzliche Karenz nach dem Mutterschutzgesetz nach der Geburt ihres ersten Kindes gehabt hätte. Vor diesem Hintergrund ist der Bezug von Weiterbildungsgeld vom 1. 3. 2013 bis 8. 7. 2013 im konkreten Fall als einer Beschäftigung gleichgestellte Zeit im Sinn des Art 11 Abs 2 VO 883/2004 anzusehen, die keine kurzfristige Änderung der unionsrechtlichen Zuständigkeit bewirkt.

6.1 Zutreffend ist das Erstgericht daher davon ausgegangen, dass die Klägerin auch im hier zu beurteilenden Zeitraum vom 30. 10. 2013 bis zum 26. 8. 2014 noch als eine eine Beschäftigung ausübende Person im Sinn des Art 11 Abs 3 lit a iVm Art 11 Abs 2 VO 883/2004 anzusehen war, woraus sich die Anwendbarkeit österreichischen Rechts nach der Verordnung auch für diesen Zeitraum ergibt. Dem Argument der Beklagten, es handle sich bei der Zeit der Weiterbildungskarenz nicht um eine erforderliche (neuerliche) Erwerbstätigkeit im Sinn des § 24 Abs 1 Z 2 KBGG ist entgegenzuhalten, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens geltend macht. Für die Prüfung der Frage, ob im Anwendungsbereich der VO 883/2004 neben dem – unstrittig anwendbaren – deutschen Recht (subsidiär) auch das österreichische Recht auf die von der Klägerin begehrte Familienleistung des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes als Ausgleichszahlung zur Anwendung gelangt, kommt es auf die Anspruchsvoraussetzung des § 24 Abs 1 Z 2 KBGG nicht an.

6.2 Die Klägerin hat unter Anwendung des § 6 Abs 3 KBGG nur den Differenzanspruch des ihr zustehenden pauschalen Kinderbetreuungsgeldes geltend gemacht (Art 10, 68 Abs 2 VO 883/2004 ). Diesen hat die Beklagte der Höhe nach nicht bestritten. Der erstmals in der Berufung der Beklagten vorgetragene Einwand, die Klägerin habe keinen einzigen Originalnachweis der erforderlichen Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen vorgelegt, sodass ihr in Österreich nur ein Kinderbetreuungsgeldbetrag von insgesamt 16,50 EUR zustehe, ist infolge des auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Neuerungsverbots unbeachtlich (RIS‑Justiz RS0042049).

Der Revision war daher Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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