European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:E115074
Spruch:
Die Revisionen werden zurückgewiesen.
Die Beklagten sind jeweils schuldig, der Klägerin die mit 2.712,42 EUR (darin 452,07 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten deren Revisionsbeantwortungen binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die ordentliche Revision nicht zulässig:
1. Das Berufungsgericht hat seinen Zulässigkeitsausspruch damit begründet, es fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, inwieweit die in einem Vertragsformular vereinbarte Unwiderruflichkeit einer Bürgschaft auch für künftig fällig werdende Forderungen im Hinblick auf die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 30. 5. 2013, C-397/11 (Erika Jörös/Aegon Magyarország Hitel Zrt) die Nichtigkeit des gesamten Vertrags und nicht bloß der einzelnen Vertragsbestimmung bewirkt. Auf die Beantwortung dieser Frage kommt es hier jedoch gar nicht an.
1.1. Nach der Entscheidung des EuGH ist Art 6 Abs 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. 4. 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen dahin auszulegen, dass das nationale Gericht, das die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel feststellt, zum einen – ohne einen entsprechenden Antrag des Verbrauchers abwarten zu müssen – alle Konsequenzen ziehen muss, die sich nach nationalem Recht aus dieser Feststellung ergeben, um sicher sein zu können, dass diese Klausel für den Verbraucher unverbindlich ist, und zum anderen – grundsätzlich anhand objektiver Kriterien – prüfen muss, ob der betreffende Vertrag ohne diese Klausel bestehen kann. Die Richtlinie 93/13 ist dahin auszulegen, dass das nationale Gericht, das von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel festgestellt hat, das innerstaatliche Prozessrecht nach Möglichkeit so anzuwenden hat, dass alle Konsequenzen gezogen werden, die sich nach nationalem Recht aus der Feststellung der Missbräuchlichkeit der fraglichen Klausel ergeben, damit es sicher sein kann, dass diese Klausel für den Verbraucher unverbindlich ist.
Sowohl Richtlinie als auch Entscheidung des EuGH beziehen sich somit ausschließlich auf Verbraucherverträge.
1.2. Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist die Verbraucher- beziehungsweise Unternehmereigenschaft eines Gesellschafters in wirtschaftlicher Betrachtungsweise zu beurteilen (7 Ob 315/01a; 3 Ob 141/03m; 6 Ob 12/03p; 9 Ob 27/05v; 8 Ob 91/09d; 6 Ob 105/10z; 1 Ob 99/10f; 6 Ob 43/13m GesRZ 2014, 193 [Hackl]; 6 Ob 170/14i). Darin liegt der Sache nach eine teleologische Reduktion (4 Ob 232/12i; 6 Ob 43/13m; 6 Ob 170/14i). Maßgeblich ist demnach, ob der betroffene Vertragspartner angesichts der Interessenidentität zwischen Gesellschafter und Gesellschaft in Wahrheit selbst unternehmerisch tätig wird (6 Ob 43/13m; 6 Ob 170/14i).
Demgemäß stellte der erkennende Senat bereits in der Entscheidung 6 Ob 105/10z darauf ab, ob der Gesellschafter maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidungen und Handlungen der Gesellschaft ausüben konnte (ebenso 6 Ob 43/13m; 6 Ob 170/14i); dieser Fall betraf eine Konstellation, in der beide Gesellschafter jeweils 50 % der Anteile hielten. Auf diese Entscheidung Bezug nehmend erachtete es der 2. Senat als für die Unternehmerqualifikation eines (geschäftsführenden) GmbH-Gesellschafters für erforderlich, dass dieser die Mehrheit der Geschäftsanteile oder zumindest 50 % hievon hält; eine geringere Beteiligung (ohne gesellschaftsvertraglich eingeräumte Sperrminorität) verschaffe dem Gesellschafter typischerweise keinen entscheidenden Einfluss auf die Geschäftsführung (2 Ob 169/11h).
In der Entscheidung 4 Ob 232/12i übertrug der 4. Senat im Fall eines atypischen Kommanditisten, der zusammen mit seinem Bruder die Geschäfte der KG führte, diese Auffassung auch auf den geschäftsführenden Gesellschafter einer Personengesellschaft. In der Entscheidung 8 Ob 72/14t stellte der 8. Senat klar, es sei maßgeblich, ob der betroffene Vertragspartner angesichts der Interessenidentität zwischen Gesellschafter und Gesellschaft in Wahrheit selbst unternehmerisch tätig wird und dementsprechend einen entscheidenden Einfluss auf die Geschäftsführung nehmen kann.
In den Entscheidungen 6 Ob 43/13m und 6 Ob 170/14i erachtete es auch der erkennende Senat als für die Unanwendbarkeit konsumentenschutzrechtlicher Vorschriften in erster Linie maßgeblich, inwieweit der Gesellschafter Einfluss auf die Geschäftsführung der Gesellschaft nehmen kann, wobei der bloße Umstand, ob der Gesellschafter „darüber hinaus“ auch Geschäftsführer ist, demgegenüber nicht ausschlaggebend sei.
1.3. Im vorliegenden Fall waren die Beklagten zum Zeitpunkt der Unterfertigung der Bürgschaftserklärungen zugunsten der K* GmbH jeweils selbstständig vertretungsbefugte Geschäftsführer, der Erstbeklagte darüber hinaus Mehrheitsgesellschafter mit 51 % und der Zweitbeklagte Minderheitsgesellschafter mit 49 %. Angesichts der in den Entscheidungen 4 Ob 232/12i, 6 Ob 43/13m und 6 Ob 170/14i angestellten Erwägungen und unter Bedachtnahme auf den Grundsatz, dass maßgeblich der Einfluss des Gesellschafters auf die Geschäftsführung ist (vgl dazu den Sachverhalt der Entscheidung 6 Ob 170/14i, wo der wirtschaftlich erfahrene Hälftegesellschafter zwar nicht Geschäftsführer war, jedoch in sämtlichen Angelegenheiten und in wirtschaftlichen Belangen die Entscheidungen gemeinsam mit seinem Mitgesellschafter traf), sind beide Beklagte nicht als Verbraucher anzusehen. Für eine (allfällige) Dominanz des Erstbeklagten als (Mehrheits‑)Gesellschafter gegenüber dem Zweitbeklagten als 49 %‑Gesellschafter und Geschäftsführer finden sich in den Feststellungen keine Anhaltspunkte. Die Entscheidung 2 Ob 169/11h ist aufgrund der später ergangenen Rechtsprechung als überholt anzusehen.
1.4. Damit ist die Entscheidung des EuGH für den vorliegenden Fall nicht relevant. Die vom Berufungsgericht als erheblich bezeichnete Rechtsfrage ist hier nicht zu beantworten.
2. Aber auch den Beklagten gelingt es nicht, eine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO aufzuzeigen.
2.1. Die Beklagten unterfertigten am 19. 8. 2011 gleichlautende Bürgschaftsverträge mit folgendem Inhalt:
Ich ..., geb. am …, wohnhaft in ... (bitte keine Firmenstempel verwenden) erkläre hiermit, dass ich aus freien Stücken gegenüber der [Klägerin] für die am Tage des Vertragsabschlusses von der [Gesellschaft] geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge inkl. aller Nebengebühren sowie für alle künftig fällig werdenden Sozialversicherungsbeiträge, Beitragsnachträge, Beitragszuschläge, Verzugszinsen und andere Nebengebühren iSd § 1357 ABGB vorbehaltlos und unwiderruflich die Haftung als Bürge und Zahler übernehme. Eine Kündigung dieses Vertrages ist nur mit Zustimmung der [Klägerin] möglich. Nebenabreden jeder Art, die diesen Vertrag betreffen, sind nur dann gültig, wenn sie in schriftlicher Form getroffen werden. Zugleich erkläre ich, dass ich zahlungsfähig bin.
Wird die Verjährung der Einforderung festgestellter Beitragsschulden gemäß § 68 Abs 2 ASVG unterbrochen, so gilt diese Unterbrechung auch gegen den Bürgen.
Als Gerichtsstand wird * vereinbart.
Diese Bürgschaftsverträge waren jeweils mit Name, Geburtsdatum und Anschrift der Beklagten ausgefüllt und auch von der Klägerin gefertigt.
Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über die Gesellschaft und Abschluss eines Sanierungsplans nimmt die Klägerin die Beklagten nunmehr für die offenen Beitragsrückstände in Anspruch.
2.2. Beide Beklagte meinen im Revisionsverfahren, es sei rechtswidrig, dass ihre Haftung in den Bürgschaftserklärungen auch auf „alle künftig fällig werdenden Sozialversicherungsbeiträge (…)“ ausgedehnt worden sei.
2.2.1. Es ist in der Rechtsprechung zwar tatsächlich anerkannt, dass eine in ein umfangreiches Vertragsformblatt aufgenommene Klausel, wonach der Bürge, der die Haftung für einen zeitlich und der Höhe nach begrenzten Kredit übernimmt, darüber hinaus auch für alle mit dem Kreditnehmer abgeschlossenen oder künftig abzuschließenden Kreditverträge hafte, ungewöhnlich im Sinn des § 864a ABGB sein kann (RIS-Justiz RS0014606). Im vorliegenden Fall ist aber zu berücksichtigen, dass die Bürgschaftserklärung kurz gehalten und die verwendete Formulierung eindeutig ist. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen haben die Beklagten im Übrigen die Bürgschaftsverträge durchgelesen und deren Inhalt auch erfasst.
2.2.2. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Verbürgung für bedingte oder künftige Forderungen zulässig (RIS‑Justiz RS0032149, RS0032062, RS0032143), was auch bereits explizit zu Sozialversicherungsbeiträgen festgehalten wurde (5 Ob 42/69 SZ 42/36; 6 Ob 603/83 SZ 57/112; 9 Ob 285/00b).
Auch wenn etwa eine Klausel gemäß § 879 Abs 3 ABGB unwirksam ist, wonach der Bürge für alle künftigen Forderungen der Bank gegen den Schuldner haftet (6 Ob 212/09h), so enthalten doch die hier zu beurteilenden Bürgschaftserklärungen eine inhaltliche Umschreibung der Forderungen (Sozialversicherungsbeiträge, Beitragsnachträge, Beitragszuschläge, Verzugszinsen und andere Nebengebühren), für die die Beklagten haften sollen. Ein von „vorneherein unabschätzbares Zahlungsrisiko“ besteht demnach entgegen der in den Revisionen vertretenen Auffassungen nicht, wobei in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen ist, dass die Beklagten als Gesellschafter und Geschäftsführer der Gesellschaft jederzeit wussten, wieviele Mitarbeiter sie beschäftigten und welche Sozialversicherungsbeiträge (zumindest größenordnungs‑mäßig) anfallen würden (vgl 9 Ob 285/00b; dazu, dass die künftigen Forderungen hinreichend „bestimmbar“ sind, etwa auch 4 Ob 601/89; 6 Ob 603/83; konkret zu Sozialversicherungsbeiträgen schon 5 Ob 42/69, wo auch auf die Regelung von Verzugszinsen und Nebengebühren im ASVG hingewiesen wurde). Dass – wie die Beklagten meinen – die Bestimmungen des ASVG häufig novelliert werden, ändert daran nichts.
2.3. Die Vorinstanzen sind von einer Nichtigkeit und einer gröblichen Benachteiligung der Beklagten insoweit ausgegangen, als deren Haftung für künftig fällig werdende Beiträge unwiderruflich übernommen wurde und gleichzeitig eine Kündigung des Bürgschaftsvertrags nur mit Zustimmung der Klägerin möglich ist; die Beklagten würden so „bis in alle Zukunft für alle Sozialversicherungsbeiträge“ und ohne die Möglichkeit, diese Haftung zu beschränken, haften. Dies ist im Revisionsverfahren im Wesentlichen nicht mehr strittig (vgl dazu auch RIS‑Justiz RS0016793 [„Knebelung“]), die Beklagten gehen jedoch davon aus, dass durch diese Nichtigkeit der gesamte Bürgschaftsvertrag zu Fall gebracht werde. Dem ist jedoch nicht zu folgen:
Nach ständiger Rechtsprechung hat die Sittenwidrigkeit einer Klausel noch nicht die Unwirksamkeit des ganzen Vertrags zur Folge (RIS-Justiz RS0016420). Kann bei Fortfall von Nebenabreden das Geschäft ohne weiteres weiter bestehen, sind nur diese Vertragsklauseln unwirksam (RIS-Justiz RS0016420 [T2]). Darüber, ob die Nichtigkeit des Teils das Ganze angreift oder nicht, entscheiden Natur und Zweck des Verbots, wobei im Zweifel Restgültigkeit anzunehmen ist (vgl RIS-Justiz RS0016431). Die Nichtigkeit eines Vertrags tritt nur in jenem Umfang ein, den der Zweck des Verbotsgesetzes erheischt (RIS-Justiz RS0016417). Der Vertrag ist zwar dann absolut unwirksam, wenn andernfalls die Erreichung des vom Gesetzgeber angestrebten Zwecks gefährdet wäre (RIS-Justiz RS0016417 [T13]). Im Fall eines sittenwidrigen Ausschlusses der Geltendmachung der vorzeitigen Auflösung eines Dauerschuldverhältnisses (wie im vorliegenden Fall) erfordert es der Verbotszweck aber nur, dass dieser Verzicht unwirksam ist und der betroffenen Vertragspartei trotz der vereinbarten Klausel das Recht zusteht, die vorzeitige Auflösung des Vertrags zu bewirken (RIS‑Justiz RS0016431 [T2]).
2.4. Ob tatsächlich, wie der Erstbeklagte meint, für Konstellationen wie die vorliegende eine Nachbegrenzungshaftung analog § 160 UGB denkbar ist, bedarf keiner weiteren Erörterung: Eine Begrenzung auf Forderungen, die innerhalb von fünf Jahren nach dem Ausscheiden des Bürgen aus der Gesellschaft fällig werden, würde seine Haftung nicht beseitigen. Der Erstbeklagte schied per 5. 10. 2012 aus der Gesellschaft aus, die Klägerin macht jedoch Beitragsforderungen bloß bis 2013 geltend.
Die Annahme einer Haftungsbegrenzung für die Zeit nach dem Ausscheiden im Wege der Vertragsauslegung hat der Oberste Gerichtshof bereits in der Entscheidung 7 Ob 53/71 abgelehnt, wenn sich im Wortlaut der Bürgschaft dafür – wie im vorliegenden Fall – keine Grundlage findet.
Nach der Entscheidung 7 Ob 618/89 kann die bloße Bekanntgabe von Fakten einer Willenserklärung nicht gleichgehalten werden, sodass aus dem Umstand, dass der Erstbeklagte sein Ausscheiden als Gesellschafter und Geschäftsführer unmittelbar der Klägerin zur Kenntnis brachte, eine außerordentliche Kündigung nicht abgeleitet werden kann; eine sonstige Kündigung des Erstbeklagten konnten die Tatsacheninstanzen jedoch nicht feststellen.
Der Erstbeklagte hat sich zwar in der Klagebeantwortung ausdrücklich auf eine außerordentliche Kündigung berufen. Ob dies im Sinn der Entscheidungen 7 Ob 53/71 und 7 Ob 618/89 selbst als außerordentliche Kündigung interpretiert werden könnte, kann jedoch dahin gestellt bleiben. Eine solche hätte nämlich lediglich zur Folge, dass für ab dem Zeitpunkt der Kündigung entstandene Verbindlichkeiten keine Haftung mehr besteht. Da die Klagebeantwortung des Erstbeklagten am 22. 1. 2015 beim Erstgericht eingebracht und am selben Tag den Klagevertretern übermittelt wurde, die Klägerin jedoch ausschließlich Beitragsschulden für die Zeit vor dem 5. 11. 2013 geltend macht, wäre daraus für den Erstbeklagten nichts gewonnen (7 Ob 618/89).
3. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Die Klägerin hat in den Revisionsbeantwortungen auf die Unzulässigkeit der Revisionen hingewiesen. Die Schriftsätze sind daher als zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendig anzusehen.
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