OGH 1Ob65/16i

OGH1Ob65/16i28.4.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer als weitere Richter in der Pflegschaftssache des P***** S*****, geboren am *****, sowie der minderjährigen J***** und M***** S*****, beide geboren am 30. August 2002, alle vertreten durch Mag. Robert Stadler, Rechtsanwalt in Gallneukirchen, wegen Unterhalt, über den Revisionsrekurs des Vaters H***** S*****, vertreten durch Dr. Johann Grandl, Rechtsanwalt in Mistelbach, gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom 3. November 2015, GZ 20 R 232/15f‑91, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Mistelbach vom 29. April 2015, GZ 1 Pu 136/10w‑80, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0010OB00065.16I.0428.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

 

Begründung:

Mit Beschluss des Erstgerichts vom 15. 12. 2012 wurde der Vater verpflichtet, für den Erstantragsteller einen Unterhalt von monatlich 46 EUR und für die Zweit- und den Drittantragsteller einen solchen von monatlich je 37 EUR zu leisten. Bei der Unterhaltsbemessung wurden damals eine Arbeitslosenunterstützung bzw ein Krankengeld von monatlich 871,80 EUR sowie weitere gesetzliche Sorgepflichten des Vaters berücksichtigt.

Nunmehr begehrten die Antragsteller für den Zeitraum 1. 12. 2013 bis 31. 8. 2014 eine Unterhaltserhöhung auf monatlich je 85 EUR; die Zweit- und der Drittantragsteller begehrten darüber hinaus ab 1. 9. 2014 eine Erhöhung auf monatlich 200 EUR. Der Vater sei bei Anspannung seiner Kräfte in der Lage, monatlich 1.100 EUR zuzüglich Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu beziehen.

Der Erstantragsteller absolvierte eine Lehre als Einzelhandelskaufmann und war im Zeitpunkt der Beschlussfassung durch das Erstgericht noch minderjährig. Er erklärte, den Unterhalterhöhungsantrag auch nach Erlangung der Volljährigkeit aufrechtzuhalten.

Das Erstgericht verpflichtete den Vater für die Zeit von 1. 12. 2013 bis 31. 8. 2014 zur Zahlung eines monatlichen Unterhalts von 85 EUR an den Erstantragsteller, von je 75 EUR an die Zweit- und den Drittantragsteller sowie ab 1. 9. 2014 bis auf Weiteres zur Zahlung eines monatlichen Unterhalts von je 120 EUR an die Zweit- und den Drittantragsteller.

Dabei ging es unter anderem von folgendem Sachverhalt aus:

Der Vater hat nach der Pflichtschule keine Berufsausbildung abgeschlossen und betätigte sich zunächst in der Lager- und Logistikbranche. Seit 2008 gibt es keine konstanten Beschäftigungsverhältnisse mehr. Seit 1. 1. 2010 war er lediglich für den Zeitraum vom 15. 8. 2011 bis 31. 10. 2012 als Arbeiter in einem Beschäftigungsverhältnis gemeldet.

Der Antragsgegner leidet seit 1990 unter temporären Schmerzen in der Lendenwirbelsäule, die immer wieder durch Infiltrationen beim Hausarzt für längere Zeit gebessert werden konnten. Seit einer wegen akuter Schmerzen indizierten Operation vom 23. 11. 2012 ist er im Wesentlichen beschwerdefrei und litt lediglich für den Zeitraum eines halben Jahres bei längerem Sitzen oder bei Anstrengungen zeitweilig an Schmerzen in der Lendenwirbelsäule. Hals- und Brustwirbelsäule weisen keine wesentlichen, die Lendenwirbelsäule lediglich eine geringgradige Funktionseinschränkung auf. Er ist in der Lage, einen Beruf auszuüben, auch wenn damit fallweise schwere Hebe- und Trageleistungen und vorwiegend Arbeiten in gebückter/gebeugter oder Zwangshaltung verbunden sind. Bei Arbeit im Sitzen sind unregelmäßige Ausgleichsbewegungen ohne absolute Arbeitspausen notwendig, weil diese auch im Sitzen erfolgen können. Zum Zeitpunkt der Befundaufnahme durch den berufskundigen Sachverständigen im September 2014 waren für Wien und das südliche Niederösterreich 53 offene Stellen angeboten, mit welchen Tätigkeiten einhergehen, die dem Vater möglich sind. Je nach Branche sind dabei Einkommen von 900 EUR (als Wachmann) bis zu 1.400 EUR (als Fluggastkontrollorgan) pro Monat zu erreichen.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, den Unterhaltspflichtigen treffe die Obliegenheit, im Interesse seiner Kinder alle persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft, so gut wie möglich einzusetzen. Unterlasse er dies, sei er so zu behandeln, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können. Zwar habe der Vater im Verfahren umfangreiche Bewerbungsunterlagen bereitgestellt. Diesen könne jedoch nur ein allgemeines Interesse des Vaters an den offenen Stellen entnommen werden. Darin werde kein Argument angeführt, warum gerade er optimal für den ausgeschriebenen Arbeitsplatz geeignet wäre. Beharrlichkeit und gutes Eingehen für [richtig wohl: auf] die Bewerbungen seien jedoch nötig, um gute Chancen bei der Bewerberauswahl zu haben. Damit habe der Vater der ihn treffenden Obliegenheit, sich mit allen Kräften für die Erlangung eines Arbeitsplatzes zu bemühen, nicht entsprochen. Es fehle an einem Hinweis auf die tatsächliche Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen. Zur Ermittlung seiner Unterhaltspflicht sei daher von einem fiktiven Einkommen des Vaters von monatlich 1.100 EUR zuzüglich Sonderzahlungen auszugehen, woraus sich unter Berücksichtigung seiner übrigen Sorgepflichten die im Spruch genannten Unterhaltsleistungen errechneten.

Das Rekursgericht gab dem Rechtsmittel des Vaters nicht Folge und ließ den Revisionsrekurs über dessen Antrag gemäß § 63 Abs 1 AußStrG zu. Zur Rechtsansicht, dass seine Bewerbungen nur allgemeines Interesse an den jeweiligen offenen Stellen, nicht aber Argumente, warum er besonders geeignet wäre, erkennen ließen und dies mangels besonderer Beharrlichkeit der Bewerbungen zur Anspannung führe, fehle ‑ soweit ersichtlich ‑ höchstgerichtliche Rechtsprechung.

Rechtliche Beurteilung

Der von den Antragstellern beantwortete Revisionsrekurs des Vaters ist zulässig und ist im Sinn des eventualiter gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

1. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass der Unterhaltspflichtige alle Kräfte anzuspannen hat, um seiner Verpflichtung zur angemessenen Unterhaltsleistung nachkommen zu können. Er muss alle seine persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft, so gut wie möglich einsetzen und seine Leistungskraft unter Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines Könnens ausschöpfen (RIS‑Justiz RS0047686 [T1, T4]). Zu den ihn treffenden Verhaltenspflichten gehört es, alle zumutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um ein der Sachlage angemessenes Einkommen zu erzielen. Tut er dies nicht, wird er so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit erzielen könnte (RIS‑Justiz RS0047686).

2. Eine Anspannung auf tatsächlich nicht erzieltes Einkommen darf aber nur erfolgen, wenn eine zumindest leicht fahrlässige Herbeiführung des Einkommensmangels durch Außerachtlassung pflichtgemäßer, zumutbarer Einkommensbemühungen vorliegt (RIS‑Justiz RS0047495 [T2]). Der Anspannungsgrundsatz dient somit als eine Art Missbrauchsvorbehalt, wenn schuldhaft die zumutbare Erzielung von Einkünften versäumt wird, sodass der angemessene Unterhalt des Berechtigten nicht mehr gesichert ist (10 Ob 22/15f; weiters RIS‑Justiz RS0047495 [T4]). Die Anforderungen an die Anspannung steigen dabei mit dem Umfang der Sorgepflichten (RIS‑Justiz RS0047568).

3. Bei einem Verlust des Arbeitsplatzes oder ‑ wie hier langjähriger Arbeitslosigkeit ‑ kommt es bei der Ermittlung der Unterhaltsbemessungsgrundlage ganz maßgeblich auf das Verhalten des Unterhaltspflichtigen an (vgl RIS‑Justiz RS0106230). Dabei haben die Vorinstanzen grundsätzlich zutreffend erkannt, dass der Mangel an zielstrebiger und tatkräftiger Arbeitsplatzsuche die Anwendung des Anspannungsgrundsatzes auslöst (RIS‑Justiz RS0106230 [T2]). Die bloße Anmeldung bei Arbeitsvermittlungsstellen allein reicht grundsätzlich nicht aus, sondern hat der Unterhaltsschuldner zur Erzielung eines angemessenen Einkommens auch Eigeninitiativen zu entfalten (1 Ob 58/00m; 1 Ob 165/01y). Neben den Vermittlungsversuchen des für ihn zuständigen Arbeitsamts (nunmehr: Geschäftsstelle des AMS) muss er eigene Anstrengungen unternehmen, ein Arbeitsverhältnis einzugehen (2 Ob 250/97x mwN; 4 Ob 101/13a).

4.1 Die Anspannung darf nicht zu einer bloßen Fiktion führen. Daher bedarf es zum einen konkreter Feststellungen, welches reale Einkommen der Unterhaltspflichtige in den Zeiträumen, für die die Unterhaltsbemessung erfolgt, unter Berücksichtigung seiner konkreten Fähigkeiten und Möglichkeiten bei der gegebenen Arbeitsmarktlage erzielen könnte (vgl 1 Ob 223/98w). Zum anderen müssen auch ausreichende Anhaltspunkte vorhanden sein, die es erlauben, dem Vater ein Außerachtlassen des pflichtgemäßen Verhaltens anzulasten. Dabei gilt, dass der Unterhaltsschuldner darzutun hat, dass und wie er seine Verpflichtungen, nach Kräften zum Unterhalt beizutragen, nachgekommen ist (RIS‑Justiz RS0047536). Ausgehend davon lässt sich die Frage, ob der Vater angespannt werden kann, noch nicht abschließend beantworten.

4.2 Fest steht lediglich, dass er aufgrund seiner gesundheitlichen Situation in der Lage wäre, einer Tätigkeit nachzugehen, bei der er ein durchschnittliches Monatseinkommen von 1.100 EUR zuzüglich Sonderzahlungen erzielen könnte, und die für ihn als ungelernte Kraft in Betracht kommenden Tätigkeiten in erreichbarer Entfernung von seinem Wohnort am Arbeitsmarkt auch tatsächlich nachgefragt sind. Er hat aber bereits im Verfahren vor dem Erstgericht geltend gemacht, dass er sich wiederholt um eine Arbeitsstelle bemüht habe, was jedoch stets ergebnislos verlaufen sei. Dazu hat er nicht nur darauf verwiesen, dass seine Bewerbungen (auch) aus Eigeninitiative erfolgt seien, sondern zum Nachweis eine umfangreiche Liste über seine Bemühungen in der jüngeren Vergangenheit vorgelegt und damit seiner subjektiven Behauptungslast (dazu grundsätzlich RIS‑Justiz RS0006261) entsprochen. Feststellungen zu diesem Vorbringen haben die Tatsacheninstanzen nicht getroffen, sodass die Schlussfolgerungen des Erstgerichts, aus der vorgelegten Liste der Bewerbungen lasse sich lediglich ein allgemeines Interesse des Vaters an den offenen Stellen entnehmen, nicht aber die vom Sachverständigen ganz grundsätzlich für Bewerbungen als erforderlich angesehene Hervorhebung der eigenen Eignung für die angestrebte Stelle, nicht nachvollzogen werden können.

4.3 Das Erstgericht erkennt selbst, dass es sich bei den vorgelegten Ausdrucken lediglich um eine Auflistung der archivierten Bewerbungsversuche handelt. Eine solche Auflistung gibt aber nicht notwendig den tatsächlichen Inhalt der darin angeführten Bewerbungen wieder, sodass daraus auch nicht auf den Mangel einer zielstrebigen und entschlossenen Arbeitsplatzsuche geschlossen werden kann. Das Erstgericht wird sich daher im fortgesetzten Verfahren mit diesem Vorbringen des Vaters auch in tatsächlicher Hinsicht auseinanderzusetzen und Feststellungen zu den von ihm geltend gemachten Bewerbungen zu treffen haben. Erst wenn auch durch Verfahrensergänzung keine ausreichende Tatsachengrundlage zur Beurteilung der Frage, ob dem Vater Versäumnisse in der Ernsthaftigkeit bei der Arbeitsplatzsuche anzulasten wären, käme zum Tragen, dass ihn grundsätzlich die Beweislast dafür, ein adäquates Einkommen (unverschuldet) nicht erzielen zu können, trifft (vgl dazu 4 Ob 101/13a), weswegen verbleibende Unklarheiten zu seinen Lasten gingen.

5. Dem hilfsweise gestellten Aufhebungsantrag ist daher Folge zu geben.

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