European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0140OS00119.14B.1216.000
Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung wegen Schuld werden zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die gegen den Ausspruch über die Strafe und die privatrechtlichen Ansprüche gerichtete Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Alexander B***** im zweiten Rechtsgang des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 und Abs 3 erster Fall StGB (I), jeweils mehrerer Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (I) und des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (II) sowie mehrerer Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 und 2 StGB (III) schuldig erkannt.
Danach hat er in Y*****
(I) ab dem Jahr 2007 bis 5. November 2010 mit einer unmündigen Person, nämlich seiner am 6. November 1996 geborenen Stieftochter Tanja B***** den Beischlaf und diesem gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, indem er mehrmals einen Finger in deren Scheide einführte und mehrmals, davon einmal anal, mit ihr den Geschlechtsverkehr vollzog, wobei eine der Taten eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB), und zwar eine posttraumatische Belastungsstörung mit einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung, zur Folge hatte;
(II) von Juni 2006 bis 5. November 2010 außer dem Fall des § 206 Abs 1 StGB geschlechtliche Handlungen an einer unmündigen Person unternommen, indem er Tanja B***** mehrmals, teils wöchentlich, im Brust‑ und Genitalbereich, meist auf der nackten Haut, berührte und sie streichelte;
(III) durch die zu I und II angeführten Taten mit seinem minderjährigen Stiefkind Tanja B***** geschlechtliche Handlungen vorgenommen.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen aus den Gründen der Z 3 und 4 des § 281 Abs 1 StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten verfehlt ihr Ziel.
Entgegen dem Einwand der Verfahrensrüge (Z 3) erfolgte die Vorführung der Ton- und Bildaufnahme der kontradiktorischen Vernehmung des Tatopfers Tanja B***** (ON 26) in der Hauptverhandlung am 3. Juli 2014 (ON 70 S 9) ohne Verletzung des in § 252 Abs 1 StPO verankerten Unmittelbarkeitsprinzips, weil die Zeugin, die anlässlich dieser ‑ in Anwesenheit des Angeklagten und seines Verteidigers durchgeführten ‑ Befragung gemäß § 156 Abs 1 Z 1 und 2 StPO belehrt worden war (ON 26 S 3 und 5 f), mit ‑ in der Hauptverhandlung verlesenem (ON 70 S 9) ‑ Schriftsatz vom 15. Juni 2014 (unmissverständlich) erklärt hatte, „in einer Hauptverhandlung nicht mehr aussagen zu wollen“ (ON 67 S 5), womit insoweit die Voraussetzungen des § 252 Abs 1 Z 2a StPO vorlagen.
Dem Beschwerdestandpunkt zuwider kann nämlich die ‑ an keine besonderen Förmlichkeiten gebundene ‑ Erklärung eines Zeugen, von dem ihm zustehenden Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, schon vor der Hauptverhandlung (auch schriftlich und ‑ wie hier ‑ durch einen ausgewiesenen Rechtsvertreter) wirksam abgegeben werden.
Nur in den ‑ hier gerade nicht vorliegenden ‑ Fällen, dass das Gericht, dem alleine diese Beurteilung obliegt (RIS-Justiz RS0111315; Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 74), die Erklärung für nicht unmissverständlich, unbedenklich oder endgültig erachtet oder dass in einem ‑ hier gar nicht gestellten ‑ Antrag auf (neuerliche) Vernehmung des Zeugen Anhaltspunkte vorgebracht werden, welche dessen nunmehrige Aussagebereitschaft plausibel erscheinen lassen, hat die Abklärung der Aussagebereitschaft nach § 248 Abs 1 erster Satz StPO ‑ gegebenenfalls nach § 250 Abs 3 StPO ‑ in der Hauptverhandlung zu erfolgen.
Die weitere, eine Verletzung des § 250 StPO behauptende Verfahrensrüge (Z 3) verabsäumt die erforderliche (RIS-Justiz RS0110266; Kirchbacher, WK-StPO § 250 Rz 11; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 249) deutliche und bestimmte Bezeichnung der vermissten Inhalte der Aussagen der in Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen Karin B*****, Renate K*****, Nathalie I***** und Astrid S*****, deren unterbliebene Mitteilung sich nachteilig ausgewirkt hätte, indem sie die angeblichen Depositionen der Genannten auszugsweise wiedergibt und die diesbezügliche Information des Angeklagten durch das Gericht pauschal als „nicht ausreichend“ bezeichnet.
Im Übrigen konnte sich die Mitteilung der Vorsitzenden über den Inhalt der Aussagen auch auf die wesentlichen Aspekte beschränken (RIS-Justiz RS0098250), zumal es dem Verteidiger freigestanden wäre, auf eine ihm notwendig erscheinende ergänzende Information des Angeklagten hinzuwirken (Kirchbacher, WK‑StPO § 250 Rz 9).
Damit ist es ohne Relevanz, ob dem Beschwerdeführer die Aussagen der Zeugen nach seiner Wiedereinführung jeweils „zusammenfassend mitgeteilt“ wurden, wie im Protokoll über die Hauptverhandlung vermerkt (ON 63 S 30, 61, 72), oder sich die Vorsitzende dabei auf den (aktenkonformen) Hinweis beschränkte, dass die Genannten bei ihren ‑ teilweise kurz zusammengefassten, dem Angeklagten bereits (aus dem ersten Rechtsgang) bekannten ‑ früheren Aussagen blieben (vgl dazu erneut RIS‑Justiz RS0098250 [T3]), wie der Beschwerdeführer in seinem Antrag auf diesbezügliche Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls behauptet (ON 75 S 2 f; vgl dazu auch § 271 Abs 1 Z 4 und Abs 3 zweiter Satz StPO; [neuerlich] RIS‑Justiz RS0098250 [T5], RS0110266 [T3]; Kirchbacher, WK-StPO § 250 Rz 10; Danek, WK‑StPO § 271 Rz 44; RIS‑Justiz RS0123941).
Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten vom 4. September 2014, GZ 20 Hv 13/13w-76, mit dem der Berichtigungsantrag abgewiesen wurde, ist somit durch die Entscheidung über die Nichtigkeitsbeschwerde miterledigt (14 Os 10/10t [14 Os 11/10i], SSt 2010/24; RIS-Justiz RS0126057, RS0120683).
Dem weiteren gegen den Ausschluss der Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung am 21. Mai 2014 und am 3. Juli 2014 gerichteten Vorbringen der Verfahrensrüge (Z 3) ist zunächst zu erwidern, dass eine Nichtigkeit nach sich ziehende Verletzung des § 228 StPO nur dann vorliegt, wenn die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung sachlich ungerechtfertigt ausgeschlossen wird. Die Missachtung der Formvorschriften des § 229 StPO ist demgegenüber nicht mit Nichtigkeit bedroht (RIS-Justiz RS0098132, RS0109959; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 256).
Davon abgesehen ist dem (insoweit ungerügten) Hauptverhandlungsprotokoll ausdrücklich zu entnehmen, dass die Beschlussfassung am 21. Mai 2014 gemäß § 229 Abs 1 Z 2 StPO „nach Umfrage“ (ON 61 S 4 Mitte) ‑ und demnach durch Beschluss des Schöffengerichts (§ 229 Abs 2 erster Satz StPO) ‑ erfolgt ist, während auch aus dem Protokoll vom 3. Juli 2014 nicht hervorgeht, dass der Beschluss auf Ausschluss der Öffentlichkeit durch die Vorsitzende (allein) gefasst worden wäre (ON 70 S 4).
Mit der Behauptung, der Ausschluss der Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung am 3. Juli 2014 sei auch sachlich ungerechtfertigt gewesen, verkennt die Beschwerde, dass bei Prüfung der tatsächlichen Voraussetzungen der kritisierten (ersichtlich [wie bereits in der Hauptverhandlung am 21. Mai 2014: ON 61 S 4] auf § 229 Abs 1 Z 2 StPO gestützten) Beschlussfassung auf deren Zeitpunkt abzustellen ist. Eine (erneute) Erörterung des persönlichen Lebensbereichs des Tatopfers durch die bevorstehenden Beweisaufnahmen (insbesondere durch die in Aussicht genommene Vorführung dessen kontradiktorischer Vernehmung) war vom Erstgericht schon mit Blick auf den Verhandlungsgegenstand zwanglos anzunehmen. Diese (erkennbar) herangezogene Sachverhaltsgrundlage wird vom Beschwerdeführer nicht substantiiert bekämpft (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 49 f und 256). Dass laut Protokoll über die Hauptverhandlung vom 3. Juli 2014 (ON 70 S 4) der Beschluss nicht samt Gründen (vgl § 229 Abs 3 StPO) verkündet wurde, ist ‑ wie bereits dargelegt ‑ unter dem Aspekt des § 281 Abs 1 Z 3 StPO unbeachtlich (vgl erneut RIS-Justiz RS0098132, RS0109959).
Der auf Z 4 gestützten Verfahrensrüge zuwider wurden durch die Abweisung des Antrags auf Vernehmung des Dominik G***** zum Beweis dafür, dass Evelyne W***** diesem „erzählt hat, dass Tanja B***** nach der Anzeigenerstattung gegen den Angeklagten die belastenden Angaben, er habe sie sexuell missbraucht und vergewaltigt, nicht aufrecht hielt“ (ON 70 S 10), Verteidigungsrechte nicht verletzt.
Derartige ihr gegenüber getätigte Äußerungen des Tatopfers hatte die Zeugin Evelyne W***** anlässlich ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung in Abrede gestellt (ON 70 S 5 ff), womit der Antrag ‑ erkennbar ‑ primär darauf gerichtet war, deren Verlässlichkeit und (mittelbar) die Glaubwürdigkeit der einzigen unmittelbaren Belastungszeugin Tanja B***** zu erschüttern (vgl dazu RIS-Justiz RS0098429, RS0028345).
Berechtigt sind solche ‑ an sich zulässigen ‑ Anträge aber nur dann, wenn sich aus dem Antragsvorbringen konkrete Anhaltspunkte für die Annahme ergeben, die betreffende Zeugin habe in Bezug auf eine entscheidende Tatsache die Unwahrheit gesagt (RIS-Justiz RS0120109). Vorliegend geht - der Beschwerdeinterpretation zuwider ‑ aus dem zur Antragsfundierung vorgelegten Chatverkehr (Beilage ./1 zu ON 70) eine Dominik G***** gegenüber aufgestellte Behauptung der Evelyne W*****, Tanja B***** habe ihr persönlich mitgeteilt, den Beschwerdeführer zu Unrecht belastet zu haben, gerade nicht hervor (Beilage ./1 zu ON 70 S 24 [= 26]). Vielmehr ließ der Genannte die ausdrückliche Frage seines Chatpartners, ob Evelyne W***** „das auch nur gehört oder direkt von der Tanja gehört“ habe, unbeantwortet (Beilage ./1 zu ON 70 S 30 ff). Dass im Dorf viel über den Vorfall geredet wurde und sie von vielen Leuten gehört habe, „die einerseits gesagt haben, das stimmt und andere haben gesagt, das stimmt nicht“, hat Evelyne W***** im Übrigen ohnehin bestätigt (ON 70 S 6 f).
Sohin ließ sich dem Antrag nicht entnehmen, warum die beantragte Beweisaufnahme das behauptete Ergebnis erwarten lasse, womit er auf eine nach ständiger Rechtsprechung unzulässige Erkundungsbeweisführung (RIS‑Justiz RS0118123; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 330 ff mwN) abzielte.
Die Abweisung des weiters thematisierten ‑ unter gleichzeitiger Namhaftmachung zweier anderer Sachverständiger aus dem Bereich der forensischen Psychologie gestellten ‑ Antrags auf Enthebung der dem Verfahren beigezogenen Sachverständigen Mag. Andrea P*****, „da ihre Sachkunde im Hinblick auf die mangelnde berufliche Erfahrung und fehlende fachliche Qualifikation in Zweifel steht“ (ON 70 S 10), erfolgte gleichfalls ohne Verletzung von Verteidigungsrechten.
Zwar besteht ein Einwendungsrecht des Angeklagten grundsätzlich auch gegen die ‑ in dessen Befragung bestehende ‑ Beiziehung eines Sachverständigen zur Hauptverhandlung. Auf mangelnde Sachkunde eines Sachverständigen gegründete Einwendungen sind nach Erstattung von Befund und Gutachten jedoch nicht mehr zulässig (RIS-Justiz RS0126626, RS0115712 [insbesonders T10]; Hinterhofer, WK‑StPO § 126 Rz 58, 67 f; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 373).
Liegt ‑ wie hier ‑ ein dem Beschwerdeführer nachteiliges Gutachten bereits vor, ist die Beiziehung eines weiteren Sachverständigen gemäß § 127 Abs 3 StPO vielmehr nur dann vorgesehen, wenn sich die dort beschriebenen Mängel von Befund oder Gutachten durch Befragung des bereits bestellten Experten nicht beseitigen lassen.
Mängel des bereits am 20. Juni 2013 schriftlich erstatteten Gutachtens der Sachverständigen (ON 34) ‑ gegen deren Bestellung (ON 13 und 14) vom Angeklagten im Ermittlungsverfahren keine Einwände erhoben wurden ‑ wurden weder im Rahmen der Antragstellung (ON 70 S 10), noch anlässlich der mündlichen Gutachtenserstattung (ON 70 S 12 ff) und -erörterung (vgl insbesondere ON 70 S 25 ff) in der Hauptverhandlung substantiiert dargelegt (RIS-Justiz RS0120023 [T1]). Im Übrigen ist die Frage der Befähigung eines Sachverständigen ‑ mit Ausnahme von Mängeln nach § 127 Abs 3 StPO ‑ Gegenstand freier Beweiswürdigung und solcherart nicht der Nichtigkeitsbeschwerde (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 351).
Die Kritik am Unterbleiben einer Befragung der Expertin „zu ihrer Erfahrung und Qualifikation“ in der Hauptverhandlung vor der mündlichen Gutachtenserstattung kann damit auf sich beruhen. Im Übrigen hat der Beschwerdeführer diesen Umstand ohne Widerspruch hingenommen (ON 70 S 11 f), womit ihm eine dagegen gerichtete Verfahrensrüge (Z 4) nicht mehr offensteht.
Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher ‑ ebenso wie die angemeldete (ON 70 S 41), im kollegialgerichtlichen Verfahren gesetzlich jedoch nicht vorgesehene Berufung wegen Schuld ‑ bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die gegen die Aussprüche über die Strafe und die privatrechtlichen Ansprüche gerichtete Berufung folgt (§ 285i StPO).
Die Kostenersatzpflicht beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
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