European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0030OB00241.12F.0313.000
Spruch:
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen, soweit sie den mj S***** F***** betreffen, werden aufgehoben und die Pflegschaftssache insoweit an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.
Die Revisionsrekursbeantwortung des Vaters A***** F***** wird zurückgewiesen.
Begründung
Die Zwillinge L***** und S*****, geboren am ***** 1995, sowie S*****, geboren am ***** 1999, entstammen der Ehe ihrer Eltern, die mit Urteil des Erstgerichts vom 27. Juli 2012 ‑ noch nicht rechtskräftig ‑ geschieden wurde.
Am 31. August 2011 teilte der Jugendwohlfahrtsträger dem Erstgericht mit, dass die Familie seit Oktober 2010 intensiv betreut werde, zwischen den Kindeseltern massive Konflikte herrschten und die Kinder ständig hin‑ und hergeschoben würden.
Die Mutter stellte am 29. November 2011 den Antrag, dem Vater die Obsorge für alle Kinder zu entziehen und diese einstweilig an sie alleine zu übertragen. Der Vater erklärte sich am 1. Dezember 2011 damit einverstanden, dass mit der Obsorge für L***** ‑ entsprechend der Empfehlung des Sachverständigen ‑ vorläufig der Jugendwohlfahrtsträger betraut werde.
Mit einstweiliger Verfügung vom gleichen Tag entzog das Erstgericht den Eltern einstweilen die Obsorge für L***** und übertrug diese einstweilen dem Jugendwohlfahrtsträger.
Am 12. September 2012 entzog das Erstgericht schließlich den Eltern die Obsorge für L***** und betraute damit die nach dem jeweiligen Wohnsitz des Kindes örtlich zuständige Bezirkshauptmannschaft als Jugendwohlfahrtsträger; hob in Ansehung der beiden Söhne die gemeinsame Obsorge der Eltern auf und betraute mit der Obsorge des mj S***** alleine die Mutter und für den anderen Sohn allein den Vater. Die Obsorgeentscheidung betreffend die Tochter und einen Sohn erwuchs in Rechtskraft und ist daher nicht mehr Gegenstand des weiteren Verfahrens.
In Ansehung des mj S***** legte das Erstgericht folgenden wesentlichen Sachverhalt seiner Entscheidung zugrunde:
Im massiven Konflikt der Eltern schlug sich dieser Sohn auf die Seite des Vaters. Er ist im Lehrbetrieb gut verankert und verbesserte sich in der Berufsschule. Aufgrund des ausdrücklichen, nachhaltigen und überlegten Wunsches dieses Sohns beim Vater zu bleiben, ist davon auszugehen, dass er eine Obsorgeentscheidung zugunsten der Mutter nicht akzeptieren und sich ihrer Autorität widersetzen würde. Seit dem Auszug des Vaters aus dem Elternhaus kam es zu keinen gewalttätigen Übergriffen seinerseits mehr. Sein Alkoholmissbrauch und sein Ausgehverhalten haben auf den Sohn, abgesehen von der negativen Vorbildwirkung, deshalb keinen nachteiligen Einfluss mehr, weil er in seinem Lebensalter (17) bereits eine solche Autonomie in seiner Lebensführung erreicht hat, dass es für ihn nicht mehr erforderlich ist, vom Vater in Pflege und Erziehung durchwegs betreut zu werden. Daraus folgerte das Erstgericht rechtlich, dass im Sinn des Kindeswohls die Entscheidung des Kindes, im Loyalitätskonflikt zum Vater zu stehen, akzeptiert werden müsse, wenngleich belastende Faktoren im Umfeld des Vaters vorhanden wären.
Das Rekursgericht bestätigte über Rekurs der Mutter die Obsorgezuweisung an den Vater und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zulässig sei. Die von der Mutter geltend gemachte Nichtigkeit, weil lediglich sie den Antrag auf einstweilige Übertragung der Obsorge gestellt, der Vater die Obsorgeübertragung an ihn aber gar nicht beantragt habe, verneinte das Rekursgericht. Infolge dauernder Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft und des Antrags der Mutter, ihr die Obsorge (einstweilen) zu übertragen, habe das Gericht entscheiden müssen. Die Obsorgeregelung habe unter Berücksichtigung des Kindeswohls von Amts wegen zu erfolgen, eine Bindung an einen Antrag eines Elternteils bestehe nicht. Von der Mutter geltend gemachte Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens (unvollständige Befundaufnahme) verneinte das Rekursgericht. In Erwiderung der Rechtsrüge der Mutter verwies es im Übrigen auf das für die Obsorgeentscheidung maßgebliche Kindeswohl und den insbesondere bei einem älteren Kind zu berücksichtigenden Wunsch, bei wem es wohnen und von wem es versorgt werden wolle. Die Zuteilung der Obsorge gegen den Widerstand des mündigen Kindes sei abzulehnen, sofern der Richter zur Überzeugung gelange, dass dieser Widerstand auf eigener Willensbildung des Kindes und nicht auf Beeinflussung durch den anderen Elternteil zurückzuführen sei und nicht schwerwiegende Gründe dagegen sprechen. Auch wenn die Lebensbedingungen beim Vater nicht in jeder Hinsicht optimal seien, sei hier die Zuteilung der Obsorge an die Mutter gegen den Willen des Kindes abzulehnen. Die von der Mutter in ihrem Rechtsmittel behaupteten Umstandsänderungen (nunmehriger Wunsch, doch bei der Mutter betreut zu werden) bildeten keine Grundlage für eine abändernde Entscheidung, weil sie vielmehr Ausdruck dafür seien, dass es zu einer gewissen Entspannung der Situation gekommen sei und S***** den Kontakt mit seiner Mutter nicht verlieren wolle.
Rechtliche Beurteilung
Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter, mit dem sie weiter die Übertragung der Obsorge auf sie anstrebt, ist im Hinblick auf zwischenzeitige aktenkundige Änderung der tatsächlichen Voraussetzungen, welche das Kindeswohl betreffen, zulässig und im Sinn der hilfsweise beantragten Aufhebung des angefochtenen Beschlusses auch berechtigt.
1. Die Mutter macht erneut als Nichtigkeit geltend, dass die Obsorgeentscheidung ohne diesbezüglichen Antrag des Vaters und entgegen ihrem Antrag auf bloß einstweilige Zuteilung der Obsorge zugunsten des Vaters getroffen worden sei.
Zwar kann im neuen Außerstreitverfahren eine vom Rekursgericht verneinte Nichtigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens wegen der ausdrücklichen Anordnung in § 66 Abs 1 AußStrG und des Fehlens einer § 519 ZPO vergleichbaren Bestimmung neuerlich geltend gemacht werden (RIS‑Justiz RS0121265, RS0107248), die geltend gemachte Nichtigkeit liegt aber nicht vor.
§ 177b ABGB schloss lediglich ein amtswegiges Vorgehen des Pflegschaftsgerichts, also die Zuteilung der alleinigen Obsorge ohne Antrag eines Elternteils aus, beschränkte aber die amtswegige Berücksichtigung des Kindeswohls und die dementsprechende Entscheidung nicht. Nur in einem Außerstreitverfahren, in dem das Antragsprinzip uneingeschränkt anzuwenden ist, wäre § 405 ZPO sinngemäß anzuwenden (RIS‑Justiz RS0008751). Der Antrag der Mutter, ihr einstweilen die alleinige Obsorge zuzuweisen, reichte aus, um die vom Grundsatz der Amtswegigkeit beherrschte Tätigkeit des Pflegschaftsgerichts auszulösen. Nach nunmehr geltender Rechtslage (seit Inkrafttreten des Kindschaftsrechtsänderungsgesetzes BGBl I 2013/15 mit 1. Februar 2013 § 1503 ABGB) bedarf es auch im Fall bloßer Auflösung der häuslichen Gemeinschaft der Eltern keines Antrags auf Zuteilung alleiniger Obsorge mehr, wenn nach Auflösung der Ehe oder der häuslichen Gemeinschaft der Eltern binnen angemessener Frist eine Vereinbarung über die alleinige Obsorge für das Kind nicht zustande kommt, obwohl dies dem Wohl des Kindes entspricht (§ 180 Abs 1 Z 1 ABGB idgF).
2. Ein vom Rekursgericht verneinter Mangel des außerstreitigen Verfahrens erster Instanz bildet grundsätzlich keinen Revisionsgrund (RIS‑Justiz RS0050037, RS0030748). Die diesen Grundsatz einschränkende, von der Rechtsprechung entwickelte Negativvoraussetzung, „sofern eine Durchbrechung dieses Grundsatzes nicht aus Gründen des Kindeswohls erforderlich ist“, hat im Regelfall nur in Obsorge‑ und Besuchsrechtsverfahren Bedeutung (RIS‑Justiz RS0030748 [T2, T4, T6]), besondere Umstände, die eine Durchbrechung im vorliegenden Verfahren angezeigt erscheinen ließen, liegen aber nicht vor. Inwieweit die vom Rekursgericht für die Verneinung der gerügten Verfahrensmängel gegebene Begründung aktenwidrig sein soll ‑ so die Behauptung der Revisionsrekurswerberin ‑ lässt sich ihrem weiteren Revisionsrekursvorbringen nicht entnehmen.
3. Grundsätzlich herrscht im Revisionsrekursverfahren Neuerungsverbot, sodass neue Tatsachen nur zur Unterstützung der Revisionsrekursgründe vorgebracht werden können (§ 66 Abs 2 AußStrG). Nach der Rechtsprechung können aber neue Entwicklungen dennoch berücksichtigt werden, wenn die Entscheidung das Wohl des Pflegebefohlenen betrifft (1 Ob 46/06f mwN; RIS‑Justiz RS0048056). Obsorgeentscheidungen haben eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt. Sie können nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf einer aktuellen bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen (RIS‑Justiz RS0106312). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Kindeswohls ist der Zeitpunkt der letztinstanzlichen Entscheidung, sodass alle während des Verfahrens eintretenden Änderungen zu berücksichtigen sind (RIS‑Justiz RS0106313). Nur aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, sind zu berücksichtigen, es besteht keine Pflicht zur ständigen amtswegigen Erhebung der jeweiligen aktuellen Umstände (1 Ob 176/07z; 2 Ob 130/08v ua; RIS‑Justiz RS0106313 [T3]).
Der 17‑jährige Minderjährige, der sich im erstinstanzlichen Verfahren zuletzt für den Verbleib beim Vater aussprach, teilte inzwischen dem Gericht brieflich mit, zur Mutter/ins (ursprüngliche) Elternhaus zurückkehren zu wollen. Der Vater wurde vom Erstgericht hiezu zur Äußerung aufgefordert, äußerte sich allerdings zunächst nicht. Darüber hinaus ist eine Kurzmitteilung des Vaters an die Mutter aktenkundig, aus der sein Wunsch hervorzugehen scheint, dass S***** im Dezember 2012 bei der Mutter wohnen soll. Die näheren Umstände, etwa inwieweit die briefliche Mitteilung über Veranlassung der Mutter erfolgte, sind nicht ersichtlich, im Hinblick auf den vor allem maßgeblichen Willen des schon in naher Zukunft volljährigen Minderjährigen aber aufklärungsbedürftig. Ob es überhaupt der Betrauung eines Elternteils allein mit der Obsorge bedarf oder die Obsorge eines Elternteils auf bestimmte Angelegenheiten zu beschränken ist (§ 179 Abs 1 ABGB idgF), und wie allenfalls über die alleinige Obsorge zunächst provisorisch, später endgültig zu entscheiden ist (§ 180 ABGB idgF), kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden.
Das Erstgericht wird daher unter Berücksichtigung der zwischenzeitigen Entwicklungen nach Klärung/Überprüfung des Willensentschlusses des betroffenen Minderjährigen unter Berücksichtigung der derzeitigen Einstellung und Verhaltensweise der Eltern zur Pflege und Betreuung ihres fast volljährigen Kindes und die daraus abzuleitenden Folgen für das Kindeswohl neu zu entscheiden haben.
4. Die Revisionsrekursbeantwortung war beim Obersten Gerichtshof einzubringen (§ 68 Abs 4 Z 2 AußStrG). Bei diesem langte sie erst nach Ablauf der für die Überreichung des Schriftsatzes offenstehenden Frist von 14 Tagen (§ 68 Abs 1 AußStrG) ein. Wird ein Rechtsmittel (eine Rechtsmittelbeantwortung) bei einem funktionell nicht zuständigen Gericht eingebracht, ist für den Zeitpunkt der Rechtzeitigkeit der Zeitpunkt des Einlangens beim zuständigen Gericht maßgebend (RIS‑Justiz RS0043678). Eine entgegen § 68 Abs 4 Z 2 AußStrG beim Erstgericht eingebrachte Revisionsrekursbeantwortung ist daher verspätet, wenn sie beim Obersten Gerichtshof erst nach Ablauf der 14‑tägigen Frist eingelangt ist (6 Ob 221/09g mwN). Die verspätete Revisionsrekursbeantwortung des Vaters war daher zurückzuweisen.
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