Spruch:
Ali M***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.
Dem Bund wird der Ersatz der Beschwerdekosten von 800 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.
Text
Gründe:
Das Landesgericht für Strafsachen Graz verhängte mit Beschluss vom 12. Mai 2011 (ON 9) über Ali M***** die Untersuchungshaft aus den Gründen der Verdunkelungs‑ und der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 2 und 3 lit a und b StPO und setzte diese mehrfach (ON 14, 25, 40) ‑ nach Wegfall des Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr ab 12. Juli 2011 ‑ aus jenem der Tatbegehungsgefahr fort.
Mit dem ‑ einen rechtskräftigen Teilfreispruch enthaltenden ‑ Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 3. November 2011 (ON 64) wurde der Genannte zweier Verbrechen des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB und zweier Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 achter Fall, Abs 4 Z 1 SMG schuldig erkannt.
Am 13. März 2012 (ON 1/S 25) verfügte die Vorsitzende die Vorlage der Akten an den Obersten Gerichtshof zur Entscheidung über eine dagegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten (ON 71).
Aufgrund eines am 30. März 2012 eingelangten Antrags des Angeklagten auf Enthaftung (ON 75) ordnete die Vorsitzende mit Beschluss vom 11. April 2012 (einem Mittwoch) die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO an (ON 77).
Mit Erkenntnis vom 19. April 2012, GZ 11 Os 37/12v‑4 (ON 83), hob der Oberste Gerichtshof in Stattgebung sowie aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde das angefochtene Urteil in den Schuldsprüchen auf und verwies die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Graz, bei dem die vorläufige Verständigung von dieser Entscheidung noch am selben Tag einlangte (ON 80; einjournalisiert am 19. April 2012).
Am 20. April 2012 (ON 1/S 27 verso) verfügte die Vorsitzende die Vorlage der Akten an das Oberlandesgericht Graz zur Entscheidung über eine ebenfalls am 19. April 2012 eingelangte, am 16. April 2012 zur Post gegebene Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss auf Fortsetzung der Untersuchungshaft vom 11. April 2012. In dieser Beschwerde verwies der Angeklagte auf die zu seiner Nichtigkeitsbeschwerde erstattete, ihm zwischenweilig zugegangene Stellungnahme der Generalprokuratur, der zufolge die Schuldsprüche unter Anordnung der Verfahrenserneuerung aufzuheben wären (ON 79).
Mit Beschluss vom 27. April 2012, AZ 10 Bs 150/12b (ON 82), gab das Oberlandesgericht dieser Beschwerde nicht Folge und ordnete die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus dem vom Erstgericht genannten Haftgrund an.
Dabei ging das Beschwerdegericht davon aus, dass ihm eine Prüfung der Dringlichkeit des Tatverdachts angesichts der Verurteilung des Beschwerdeführers in erster Instanz verwehrt sei.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen gerichtete Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten erweist sich ‑ in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur ‑ als berechtigt.
Nach ständiger Judikatur ist die Dringlichkeit des Tatverdachts ab Fällung des Urteils erster Instanz im Grundrechtsbeschwerdeverfahren zwar nicht mehr zu überprüfen (RIS‑Justiz RS0061112, RS0108486). Verhängung und Fortsetzung der Untersuchungshaft nach Feststellung der Schuld einer Person in einer Hauptverhandlung, die den Erfordernissen des Art 6 Abs 1 MRK entsprochen hat, finden nämlich ihre Rechtfertigung (nicht in Art 5 Abs 1 lit c MRK, sondern) in Art 5 Abs 1 lit a MRK (RIS‑Justiz RS0119511). Auch die Aufhebung des erstgerichtlichen Urteils im Rechtsmittelverfahren macht die bis zu diesem Zeitpunkt erlittene Freiheitsentziehung nicht konventionswidrig (vgl Frowein/Peukert EMRK3 Art 5 Rz 39; 13 Os 82/11z, EvBl‑LS 2011/160, 980 mwN). Nach Kassation der hafttragenden Schuldsprüche kommt jedoch ‑ wie der Beschwerdeführer im Ergebnis zutreffend einwendet ‑ die genannte Eingriffsnorm nicht mehr zum Tragen, sodass ab diesem Zeitpunkt der dringende Tatverdacht nicht auf das (gar nicht mehr existierende) Urteil erster Instanz gestützt werden durfte (vgl Kier in WK2 GRBG § 2 Rz 37; 12 Os 15/93).
Indem das Oberlandesgericht ohne eine eigenständige Prüfung des dringenden Tatverdachts die Fortsetzung der Untersuchungshaft beschloss, wurde Ali M***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Eine Aufhebung des angefochtenen Beschlusses war jedoch nicht erforderlich (RIS‑Justiz RS0120790 [T13]). Mit Blick auf die zwischenzeitlich erfolgte Prüfung des dringenden Tatverdachts im Rahmen der (dem angefochtenen Beschluss nachfolgenden) am 31. Mai 2012 durchgeführten Haftverhandlung durch das Landesgericht für Strafsachen Graz wurde dem Gebot des § 7 Abs 2 GRBG nämlich bereits Rechnung getragen.
Der Kostenausspruch beruht auf § 8 GRBG.
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