OGH 10ObS37/12g

OGH10ObS37/12g5.6.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau, sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Zeitler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AR Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei L*****, vertreten durch Stolz & Schartner Rechtsanwälte GmbH in Radstadt, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 14. Dezember 2011, GZ 12 Rs 176/11f-18, womit das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 22. August 2011, GZ 17 Cgs 264/10i-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 20. 7. 2010 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 7. 6. 2010 auf Gewährung der Invaliditätspension ab.

Dagegen richtet sich die vorliegende Klage, in der der Kläger im Wesentlichen vorbringt, er habe 1971 eine Ausbildung zum Eisenbieger bzw Eisenbinder begonnen und 1975 in Zagreb mit einem Diplom beendet. Bis 1993 sei er als Eisenbieger bzw Eisenbinder in Kroatien tätig gewesen, danach habe er die erlernte Tätigkeit in Österreich ausgeübt. Dennoch sei er immer nur als Hilfsarbeiter angemeldet worden. Wenngleich in Österreich der Beruf des Eisenbiegers bzw Eisenflechters kein eigenständiger Lehrberuf sei, erfolge die theoretische Ausbildung im Rahmen der Pflichtgegenstände des Lehrplans der Bauhandwerkerschule für Maurer; die weitere Ausbildung werde im Zuge des praktischen Einsatzes in einer Eisenflechterpartie erworben. Nach einer Ausbildungszeit von vier bis fünf Jahren könne der Eisenbieger/-flechter zum Hilfspartieführer und nach Sammlung entsprechender Erfahrung an verschiedenen Bauwerken zum Partieführer aufsteigen. Der Eisenbieger/-flechter müsse ein „Profi“ auf seinem Gebiet sein, um die ihm gestellten Aufgaben in Maßarbeit bewerkstelligen zu können. Es werde somit festzustellen sein, ob der Kläger die Anforderungen, welche üblicherweise an einen gelernten Arbeiter in diesem Beruf gestellt werden, erfülle.

Die beklagte Partei wendete im Wesentlichen ein, einem Eisenbieger komme kein Berufsschutz iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG zu. Dem Kläger seien unter Berücksichtigung seines Gesundheitszustands auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch eine Reihe von Beschäftigungen zumutbar.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf folgende Feststellungen:

„Der Kläger war in den letzten 15 Jahren vorwiegend bei verschiedenen Baufirmen tätig und wurde stets als Eisenbieger/-flechter eingesetzt. Ob er eine Ausbildung zum Eisenbieger/-flechter im Jahr 1971 in Zagreb (Kroatien) begonnen und mit einem Diplom im Jahr 1975 abgeschlossen habe, könne nicht festgestellt werden. Unter Berücksichtigung der bestehenden Gesundheitsschädigungen sind ihm Arbeiten zumutbar, die mit einem Tragen bis 5 kg und einem Heben bis 7 kg verbunden sind; dies für einen halbzeitigen Zeitraum. Die Arbeiten sind vorzugsweise im Stehen und Sitzen, gelegentlich auch im Gehen zu verrichten. Nach einer Stunde sollte ein Wechsel der Körperhaltung für die Dauer von drei bis fünf Minuten vorgenommen werden, wobei die Arbeit hiefür nicht unterbrochen werden muss. Durchschnittlicher Zeitdruck ist möglich. Es bestehen zahlreiche weitere - im einzelnen näher festgestellte - Ausschlüsse (so etwa Arbeiten in gebückter Körperhaltung, mit Zwangshaltung der Hals- und Lendenwirbelsäule etc). Trotz seines eingeschränkten Leistungskalküls kann der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch als Museumsaufseher, Portier, Parkgaragenkassier, Telefonist und Etikettierer berufstätig sein. Bei diesen Verweisungstätigkeiten handelt es sich um körperlich leichte, geistig einfache Arbeiten, bei denen es nicht zu ständig erhöhtem Zeitdruck kommt; Überstunden fallen nicht an.“

Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass die Tätigkeit des Klägers als Eisenbieger keinen Lehrberuf darstelle und - auch wenn selbstständiges Planlesen erforderlich sei - über bloße Teiltätigkeiten erlernter artverwandter Berufe (etwa eines Bauschlossers oder Schmieds) nicht hinausgehe. Der Zeitaufwand, der für die Erlernung der artverwandten Lehrberufe notwendig sei, sei weit höher als die für den Beruf des Eisenbiegers erforderliche Ausbildung. Die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten seien nicht derart qualifiziert, wie die für einen erlernten Beruf vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten. Der Beruf des Eisenbiegers sei somit kein angelernter Beruf. Mit dem ihm verbliebenen Leistungskalkül sei der Kläger in der Lage, sämtliche der in den Feststellungen genannten Verweisungstätigkeiten zu verrichten. Die an diese Tätigkeiten gestellten Berufsanforderungen würden das Leistungskalkül des Klägers jeweils nicht überschreiten. Es seien Arbeitsplätze in ausreichender Anzahl am Arbeitsmarkt vorhanden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Berufsschutz nach § 255 Abs 1 ASVG komme nicht in Betracht, weil der Beruf des Eisenbiegers bzw Eisenflechters in Österreich kein gesetzlich geregelter Lehrberuf sei. Auch die Voraussetzungen der Anlernqualifikation nach § 255 Abs 2 ASVG seien nicht erfüllt. Zwar müsse ein angelernter Beruf keinem gesetzlich geregelten Lehrberuf entsprechen. Es sei jedoch vorausgesetzt, dass die im konkret erlernten Beruf in der Praxis erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten an Qualität und Umfang jenen in einem Lehrberuf gleichzuhalten seien. Auch dann, wenn die Kenntnisse oder Fähigkeiten an einem bestimmten Lehrberuf zu messen seien, sei der Berufsschutz nicht erst dann zu bejahen, wenn der Versicherte alle Kenntnisse oder Fähigkeiten besitze, die nach den Ausbildungsvorschriften zum Berufsbild dieses Lehrberufs zählten. Es komme vielmehr darauf an, dass der Versicherte über jene Kenntnisse oder Fähigkeiten verfüge, die üblicherweise von ausgelernten Facharbeitern des jeweiligen Berufs in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten unter Berücksichtigung einer betriebsüblichen Einschulungszeit verlangt werden. Die Nichtbeherrschung untergeordneter Techniken schade nicht. Umgekehrt reiche es jedoch nicht aus, wenn die Kenntnisse und Fähigkeiten nur ein Teilgebiet eines Tätigkeitsbereichs umfassen, der von gelernten Arbeitern ganz allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht werde. Das Anfertigen und Verlegen von Bewehrungen aus Eisenteilen zur Erhöhung der Zugfestigkeit bestimmter Bauteilen stelle aber nur ein ganz kleines und eingeschränktes Teilgebiet jener viel umfassenderen Kenntnisse und Fähigkeiten dar, die nach den gesetzlichen Ausbildungsvorschriften im Lehrberuf Maurer vermittelt und in der Praxis von ausgelernten Facharbeitern in der Baubranche auch tatsächlich verlangt werden. Die Tätigkeit eines Eisenbiegers/-flechters entspreche daher keinem angelernten Beruf iSd § 255 Abs 2 ASVG. Aus diesem Grund stelle es keinen wesentlichen Verfahrensmangel dar, dass vom Erstgericht kein berufskundliches Sachverständigengutachten eingeholt worden sei. Der Kläger sei aufgrund seiner Tätigkeit als Eisenbieger/-flechter außerhalb dieser Berufsgruppe auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar. Es genüge schon das Vorliegen eines einzigen, mit dem Leistungskalkül des Versicherten im Einklang zu bringenden Verweisungsberufs, um das Vorliegen des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit auszuschließen.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen diese Entscheidung gerichtete außerordentliche Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrags berechtigt.

In seinem Rechtsmittel hält der Kläger an seiner Ansicht fest, der Beruf des Eisenbiegers bzw Eisenflechters erfordere - obwohl er in Österreich kein Lehrberuf sei - ein qualifiziertes Anforderungsprofil. Seit Ergehen der Entscheidung 10 ObS 69/92, nach der dieser Beruf kein angelernter Beruf sei, habe sich das Anforderungsprofil grundlegend gewandelt. Es umfasse nicht nur das Anfertigen und Verlegen von Bewehrungen aus Eisenteilen zur Erhöhung der Zugfestigkeit bestimmter Bauteile; dem Eisenflechter obliege nunmehr auch die Herstellung des Tragegerüsts eines in Stahlbetonbau auszuführenden Bauwerks an Ort und Stelle. Dabei falle der Bewehrung die Aufgabe zu, dem Stahlbeton die dem Beton fehlende Zugfestigkeit zu liefern und ihm damit Biegefestigkeit zu verleihen. Die Werkleistung bestehe in der lagerichtigen Verlegung der bauseits bzw vom Biegebetrieb bereitgestellten und allenfalls von Eisenbiegern vorgefertigten Betonstähle bzw Betonstahlteilkonstruktionen in bauseits hergestellten Formen (Schalung). Als wichtigstes Leistungsmerkmal sei der richtige Abstand der statisch wirksamen Stähle zueinander und der Abstand der Konstruktion zur Schalung hervorzuheben. Weiters komme es auf die plangerechte Ausführung des Bewehrungsplans und die Maßnahmen zur Lagesicherung an. Unter anderem sei auch das „Freikörperflechten“ gefordert. Hier werde außerhalb der Schalung ein Bauteil (Bewehrungskörper) hergestellt, der nach seiner Fertigstellung in die Schalung versetzt werde. Der Eisenflechter stelle den Bewehrungskörper in transportgerechter Form her, achte besonders auf die Maßgenauigkeit und die Verformungsstabilität; es sei allenfalls auch noch die Aufgabe der Verbindung mehrerer versetzter Bewehrungskörper zu bewältigen. Die Ausbildung erfolge im Rahmen der Pflichtgegenstände des Lehrplans des schulautonomen Ausbildungsschwerpunkts Bauhandwerkerschule für Maurer. In der ersten Klasse werde im bautechnischen Praktikum das Biegen und Verlegen der Bewehrung geübt. In der zweiten Klasse werde unter dem Lehrziel der Erstellung und Auswertung von Bewehrungsplänen das Verlegen der Bewehrung gelehrt. Eine weitere Ausbildung erhalte der Eisenbieger/-flechter im praktischen Einsatz in einer „Eisenflechterpartie“. Ein Anfänger verrichte unter Aufsicht einfache Tätigkeiten, nach zwei Jahren verlege er nach Unterweisung durch den „Partieführer“ bereits einzelne Abschnitte des Bewehrungsplans. Er müsse unter anderem den Bewehrungsplan richtig lesen und die richtige Reihenfolge der Verlegearbeiten erkennen können. Nach einer Ausbildungszeit von vier bis fünf Jahren könne der Eisenflechter zum „Hilfspartieführer“ und nach entsprechender Erfahrung zum „Partieführer“ aufsteigen. Als solcher übertrage er zB die Teilungen der Planvorlagen mittels Kreiderissen auf die Schalung, teile den Arbeitsablauf ein und bestimme die nötige Mannschaftsstärke zur Einhaltung des „Betoniertermins“. Er müsse durch seine Erfahrung in der Lage sein, Konstruktions- oder Planmängel zu erkennen und die Bauleitung warnen. Eisenflechter müssten demnach über qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, um den ihnen gestellten Aufgaben in Maßarbeit gerecht zu werden. Zusätzlich zur Materialkenntnis, Kenntnis der verschiedenen Betonbewehrungen, Montage- und Befestigungstechniken sei das Beherrschen elektrischen Schweißens (sowie Widerstandschweißen, Lichtbogenschweißen, etc) und die immer stärker in den Vordergrund rückende Beachtung diverser Sicherheits-, Hygiene- und Umweltvorschriften gefordert. Die technischen Entwicklungen hätten dazu geführt, dass die Anforderungen an die einzelnen Berufe stetig steigen und aus einem Beruf mehrere verschiedene neue (Lehr-)Berufe werden. Aufgrund der Komplexität des im neuen Beruf zusammengefassten Aufgabengebiets könne daher nicht mehr von einem unbedeutenden Teilgebiet des alten Berufs gesprochen werden, sondern setze sich das Berufsbild des neuen Berufs eben aus Teilkenntissen aus verschiedenen anderen Berufen zusammen. In ihrer Gesamtheit ergeben diese einzelnen Kenntnisse einen eigenen Beruf. Gerade im Baugewerbe sei die Tätigkeit des Eisenbiegers/-flechters dermaßen komplex geworden, dass der „normale Maurer“ damit mittlerweile überfordert sei. In der Praxis werden daher von „normalen Maurern“ entsprechend ihrer Ausbildung nur mehr ganz kleine bzw einfache Eisenbieger- bzw Eisenlegertätigkeiten übernommen. Der überwiegende Teil dieser Tätigkeiten werde an entsprechende Spezialisten übertragen. Entsprechend dem hohen Anforderungsprofil an Eisenbieger/Eisenleger würden sie auch im Kollektivvertrag der Bauindustrie bzw des Baugewerbes nicht als Hilfsarbeiter geführt, sondern als eigene Berufsgruppe mit entsprechend höherer Bezahlung. Eisenbieger/Eisenleger seien nunmehr im Anhang 1 (der Lohnordnung) des Kollektivvertrags der Bauindustrie bzw des Baugewerbes als angelernte Bauarbeiter in der Gruppe III unter Position C genannt. Auch daraus sei ersichtlich, dass die Entscheidung 10 ObS 69/92 nicht mehr relevant und anzuwenden sei. Der „moderne“ Eisenbieger/Eisenleger müsse über Kenntnisse und Fähigkeiten aus verschiedenen Berufen verfügen, er sei höher qualifiziert, teurer und genieße Berufsschutz. Es bestehe auch ein wirtschaftlicher Bedarf an der Schaffung eines Lehrberufs „Eisenbieger/-flechter“.

Die beklagte Partei beantragte in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung der Revision des Klägers nicht Folge zu geben.

Die Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrags berechtigt.

1. Grundsätzlich können nur österreichische Lehrabschlüsse die Voraussetzung des § 255 Abs 1 ASVG erfüllen. Da unbestritten ist, dass ein Lehrberuf „Eisenbieger“ in Österreich nicht existiert (siehe on-line Berufslexikon des AMS, Stichwort „Eisenbiegerin/Eisenbieger“), stellt sich die Frage einer Gleichstellung eines etwaigen ausländischen Lehrabschlusses gemäß § 27a BAG nicht.

2. Ein Berufsschutz kommt daher nur über die Anlernqualifikation des § 255 Abs 2 ASVG in Betracht (RIS-Justiz RS0114289 [T3]); Sonntag in Sonntag, ASVG2, § 255 Rz 72).

2.1. Nach § 255 Abs 2 ASVG liegt ein angelernter Beruf iSd Abs 1 vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Ein angelernter Beruf kann aber auch dann vorliegen, wenn es keinen gleichartig gesetzlich geregelten Lehrberuf gibt, die vom Versicherten verrichtete Tätigkeit nach den für sie in Betracht kommenden Voraussetzungen im Allgemeinen jedoch eine ähnliche Summe besonderer Kenntnisse oder Fähigkeiten erfordert, wie die Tätigkeiten in einem erlernten Beruf (RIS-Justiz RS0084602, RS0084433 [T8]). Bildet die Berufstätigkeit des Versicherten, die er während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausgeübt hat, einen Teil eines Lehrberufs, so ist zur Lösung der Frage des Berufsschutzes dieser Lehrberuf zum Vergleich heranzuziehen (RIS-Justiz RS0084433 [T7]). Dabei reicht es nicht aus, wenn sich die Kenntnisse oder Fähigkeiten nur auf ein Teilgebiet oder mehrere Teilgebiete eines Tätigkeitsbereichs beschränken, die von gelernten Arbeitern allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht werden (RIS-Justiz RS0084638, RS0084585). Denkbar ist aber auch, dass sich die Tätigkeit eines Versicherten als Mischtätigkeit von Teiltätigkeiten mehrerer Lehrberufe darstellt und der Versicherte aus jedem Lehrberuf zwar nur einzelne Teiltätigkeiten beherrscht, die Summe dieser Teiltätigkeiten jedoch ein Maß erreicht, dass die Annahme des Vorliegens von einem Lehrberuf vergleichbaren Kenntnissen und Fähigkeiten rechtfertigt (10 ObS 372/98v; 10 ObS 286/00g, SSV-NF 14/132). Wenngleich ein angelernter Beruf somit nicht einem gesetzlich geregelten Beruf entsprechen muss (RIS-Justiz RS0084602), müssen aber die qualifizierten, in der Praxis erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten an Qualität und Umfang jenen in einem Lehrberuf gleichzuhalten sein.

2.2. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, dass die Frage, ob ein angelernter Beruf vorliegt, keine Tat-, sondern eine Rechtsfrage ist. Grundlage für die Lösung dieser Frage bilden Feststellungen über die Kenntnisse und Fähigkeiten, über die der Versicherte im Einzelfall verfügt und über die Anforderungen, die an einen gelernten Arbeiter in diesem Beruf üblicherweise gestellt werden (RIS-Justiz RS0084563).

2.3. Im Bereich des Bau- und Baunebengewerbes wurde etwa die Tätigkeit eines Verputzer-Facharbeiters mit Nassputz- und Trockenausbauarbeiten (10 ObS 91/98z; SSV-NF 12/35), die Tätigkeit eines Gerüsters (RIS-Justiz RS0084785), eines Schalers (10 ObS 131/94; SSV-NF 8/54) sowie eines Kranführers (RIS-Justiz RS0084753) als nicht angelernte Tätigkeit iSd § 255 Abs 2 ASVG erachtet.

2.4. Auch die Frage, ob die Tätigkeit als Eisenbieger Berufsschutz begründe, war bereits Gegenstand oberstgerichtlicher Entscheidungen. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1988 (10 ObS 137/87) wurden die Feststellungen des Erstgerichts zur Ausbildung und den Tätigkeitsinhalten des Berufs Eisenbiegers wiedergegeben. Danach sei dieser Beruf an keine besondere Ausbildung gebunden, die Einschulung erfolge innerbetrieblich in verhältnismäßig kurzer Zeit. Der Tätigkeitsinhalt bestehe im Herstellen von Eisenarmierungen zur Erhöhung der Festigkeit von Betonbauten durch Biegen und Flechten von Eisen oder Baustahl und der fachgerechten Anbringung. Es seien die verschiedenen Stahlsorten zu sortieren, zu lagern, abzulängen und zu biegen. Auch die Entscheidung 10 ObS 310/90 (SSV-NF 4/119) befasste sich mit dem Beruf des Eisenbiegers. Die Urteile der Vorinstanzen wurden aufgehoben, weil die Frage des Berufsschutzes mangels jeglicher Feststellungen über Art und Umfang der als Eisenbieger ausgeübten Tätigkeit nicht beurteilbar war. Im zweiten Rechtsgang (10 ObS 69/92) führten die ergänzend getroffenen Feststellungen über die Kenntnisse und Fähigkeiten des Versicherten zu der rechtlichen Beurteilung, dass die vom Versicherten als Eisenbieger verrichteten Tätigkeiten nicht den üblicherweise an Absolventen eines vergleichbaren Lehrberufs gestellten Anforderungen entsprachen (um welche konkret vergleichbaren Lehrberufe es sich dabei handelt, geht aus der Entscheidung nicht hervor). Es wurde der Rechtssatz formuliert, dass die Tätigkeit eines Eisenbiegers kein angelernter Beruf sei (RIS-Justiz RS0084790).

3.1. Im aktuellen online Berufslexikon des AMS (Berufsbezeichung „Eisenbieger“) werden die Tätigkeitsmerkmale dieses Berufs nunmehr wie folgt beschrieben:

„Damit Beton gegen Zugkräfte stabil ist, werden in die Betonform Stahleinlagen eingearbeitet. EisenbiegerInnen stellen diese Einlagen nach einer Konstruktionszeichnung her. Dafür wählen sie das entsprechende Material aus, bereiten die Stäbe vor und biegen sie entweder am Biegetisch oder mit einer Biegemaschine in Form. Schließlich verbinden sie die Einzelteile zu einer Tragekonstruktion. EisenbiegerInnen arbeiten immer in Gruppen, oft auch im Akkord. … In kleineren Betrieben führen sie zusätzlich Maurer- und Betonierarbeiten durch.“ An beruflichen Anforderungen werden kräftiger Körperbau, Gleichgewichtsgefühl, physische Ausdauer, technisches Verständnis und Fähigkeit zur Zusammenarbeit genannt. Unter der Überschrift „Ausbildung“ wird ausgeführt, es gebe keine geregelte Ausbildung; die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten würden betriebsintern erlernt. Im Berufslexikon findet sich noch der Hinweis, es seien Bestrebungen von Seiten des Verbands österreichischer Biege- und Verlegetechnik vorhanden, diesen Beruf zu einem Lehrberuf aufzuwerten.

Der Beruf des „Eisenflechters“ ist im Berufslexikon des AMS nicht auffindbar.

3.2. Aus § 3 Abs 1 der Verordnung des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit über die Berufsausbildung im Lehrberuf Maurer/Maurerin (Maurer/Maurerin-Ausbildungsordnung) BGBl II 2008/104 ergibt sich, dass die Ausbildung im zweiten und dritten Lehrjahr das Biegen und Verlegen von Baustahl nach Biegeplänen und Bewehrungsplänen sowie das Herstellen von Stahlbetonteilen umfasst.

3.3. Offenbar im Hinblick auf den Rechtssatz, nach dem die Tätigkeit eines Eisenbiegers keine angelernte Tätigkeit darstellt (RIS-Justiz RS0084790 - siehe oben Pkt 2.4.), erachtete das Erstgericht im vorliegenden Fall Feststellungen über Art und Umfang der aktuell von einem Eisenbieger ausgeübten Tätigkeiten sowie Feststellungen zu dessen aktueller theoretischer und praktischer Berufsausbildung als nicht erforderlich. Es finden sich auch keine Feststellungen zu den vom Kläger konkret als Eisenbieger verrichteten Tätigkeiten, noch zu den von ihm erworbenen Fähigkeiten und Kenntnissen. Das Erstgericht nahm nur allgemein auf das Berufsbild eines Bauschlossers oder eines Schmieds als artverwandten Lehrberuf Bezug und vertrat die Ansicht, dass es sich bei den Tätigkeiten eines Eisenbiegers um bloße Teiltätigkeiten dieser Berufe handle. Das Berufungsgericht führte demgegenüber aus, dass das Anfertigen und Verlegen von Bewehrungen aus Eisenteilen zur Erhöhung der Zugfestigkeit bestimmter Bauteile nur ein kleines und eingeschränktes Teilgebiet jener viel umfassenderen Kenntnisse und Fähigkeiten darstelle, die nach den gesetzlichen Ausbildungsvorschriften im Lehrberuf „Maurer“ vermittelt und nunmehr in der Praxis von Facharbeitern in der Baubranche tatsächlich verlangt werden.

3.4. Diesem Standpunkt hält der Revisionswerber in seiner Rechtsrüge entgegen, dass das aktuelle Anforderungsprofil laut der Homepage des Verbands der österreichischen Biege- und Verlegetechnik mittlerweile umfassend geworden sei und die seit der Entscheidung 10 ObS 69/92 stattgefundene rasante technische Entwicklung dazu geführt habe, dass die Anforderungen gestiegen seien und „aus einem Beruf mehrere verschiedene neue (Lehr-)berufe werden“. Das Berufsbild des Eisenbiegers umfasse neben der theoretischen Teilausbildung im Rahmen der Maurerlehre noch eine mehrjährige einschlägige praktische Ausbildung, die zum Erwerb der erforderlichen Kenntnisse der Statik und Materialkunde sowie der Fähigkeit des Verstehens und Lesens komplizierter Pläne diene. Diese erforderlichen Kenntnisse setzten sich aus Teilkenntnissen verschiedener anderer Beruf zusammen, die in ihrer Gesamtheit einen eigenen Beruf ergeben.

4. Im bisherigen Verfahren fehlen jegliche Feststellungen, die eine Beurteilung zulassen, ob die konkrete Tätigkeit des Klägers in ihrer Gesamtheit Kenntnisse und Fähigkeiten erforderte, die in ihrem Umfang einem Lehrberuf entsprechen. Es sind daher - bezogen auf die zum Stichtag gegebene aktuelle Situation am Arbeitsmarkt - vorerst Feststellungen zu den oben dargelegten Fragen zu treffen; weiters dazu, in welchem Umfang der Kläger über einschlägige Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt und allenfalls ob und inwieweit diese hinter den in der Praxis verlangten Kenntnissen und Fähigkeiten zurückbleiben. Ob ein Versicherter Berufsschutz genießt, ist nämlich in allen Fällen, in denen ausgehend vom Bestehen eines solchen die Verweisbarkeit in Frage steht, unabdingbare Entscheidungsvoraussetzung. Der Kläger hat bereits mit seinem in erster Instanz erstatteten Vorbringen ausreichend deutlich geltend gemacht, dass seinem Rechtsstandpunkt nach die Tätigkeit als Eisenbieger nicht bloß eine Teiltätigkeit eines Lehrberufs sei, sondern dieses Berufsbild darüber hinausgehende Kenntnisse und Fähigkeiten erfordere und er über diese Kenntnisse und Fähigkeiten verfüge, sodass er einen erlernten (angelernten) Beruf iSd § 255 Abs 2 ASVG ausgeübt hat. Wenn - wie hier - nach dem Inhalt des Vorbringens über die Frage des Berufsschutzes keine Klarheit besteht und nach der Aktenlage nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden kann, dass der Versicherte als einfacher Hilfsarbeiter tätig war, hat das Gericht aufgrund der Bestimmung des § 87 Abs 1 ASGG diese Frage von Amts wegen zu prüfen und hierüber Feststellungen zu treffen (RIS-Justiz RS0084428 [T3]).

Die Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen erweist sich daher als unumgänglich.

Dem Revisionsvorbringen, Eisenbieger seien in der Lohntafel des Kollektivvertrags für die Bauindustrie und das Baugewerbe in die Beschäftigungsgruppe IIIc eingereiht und würden dort als „angelernte Bauarbeiter“ genannt, die „für besondere Arbeiten qualifizierte Arbeiter“ seien, kann aber schon jetzt entgegengehalten werden, dass die kollektivvertragliche Einreihung als Facharbeiter für die Beurteilung, ob ein angelernter Beruf vorliegt, nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist (RIS-Justiz RS0084673).

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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