OGH 10Ob48/09w

OGH10Ob48/09w8.9.2009

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen Bora B*****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie - Rechtsvertretung Bezirke 3, 11, 1030 Wien, Karl-Borromäus-Platz 3), über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 16. April 2009, GZ 43 R 41/09m-U-65, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 27. Oktober 2008, GZ 2 P 136/06z-U-55, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Text

Begründung

Das Kind und dessen Mutter sind deutsche Staatsangehörige, beide leben in Österreich. Der Vater und Geldunterhaltsschuldner ist türkischer Staatsbürger, der in Deutschland lebt und - nach der Aktenlage - Arbeitslosengeld II nach dem SGB II bezieht. Er wurde mit Beschluss des Erstgerichts vom 25. 8. 2008 zu einem monatlichen Unterhaltsbeitrag von 195 EUR ab 1. 6. 2008 verpflichtet. Das Erstgericht bewilligte dem Minderjährigen für die Zeit vom 1. 11. 2008 bis 31. 10. 2011 gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG monatliche Unterhaltsvorschüsse in Titelhöhe.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes unter Berufung auf Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (RIS-Justiz RS0124262) „aufgrund des Diskriminierungsverbots des Art 12 EG" nicht Folge. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil der Oberste Gerichtshof sich noch nicht mit der Frage befasst habe, ob das Diskriminierungsverbot auch dann - gegenüber dem Prinzip der Vorrangigkeit des Wohnsitzstaats - vorrangig sei, wenn Mutter und Kind Staatsbürger anderer EU-Staaten oder assoziierter Staaten seien und ihren Wohnsitz in Österreich hätten, der Vater aber Staatsbürger eines anderen EU-Staats oder assoziierten Staats sei, Wohnsitz und Arbeitsplatz aber nicht in Österreich habe.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der unbeantwortet gebliebene Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, mit dem auf Antragsabweisung gerichteten Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

1. Zutreffend zeigt der Revisionsrekurswerber auf, dass das Rekursgericht seine Beurteilung zu Unrecht auf die höchstgerichtlichen Entscheidungen 10 Ob 54/08a und 10 Ob 76/08m (siehe RIS-Justiz RS0124262) stützt. Diese Rechtsprechung bezieht sich auf eine - abgesehen von der Staatsangehörigkeit des Kindes - „rein inländische Situation", die zu einem Vorschussanspruch des Kindes in Österreich führt. Diese Situation ist im Anlassfall im Hinblick auf den Aufenthalt des Vaters in Deutschland nicht gegeben.

2. Türkische Staatsangehörige, für die der Assoziationsrat-Beschluss (ARB) Nr 3/80 vom 19. 9. 1980 gilt, haben wie Unionsbürger Anspruch auf Unterhaltsvorschuss (10 Ob 14/09w mwN; 10 Ob 107/08w). Der Begriff der „Familienleistungen" ist im ARB Nr 3/80 so zu verstehen wie in der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 (künftig: VO 1408/71 ). Auch im sachlichen Anwendungsbereich des ARB Nr 3/80 fallen daher Unterhaltsvorschussleistungen, entsprechend der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) - [siehe die Nachweise in 10 Ob 107/08w] - unter den Begriff der Familienleistungen. Der persönliche Geltungsbereich nach Art 2 VO 1408/71 ist entsprechend auch für die Bestimmung des persönlichen Geltungsbereichs des ARB Nr 3/80 maßgebend (10 Ob 14/09w mwN).

3. Art 2 Abs 1 VO 1408/71 bestimmt, dass die Verordnung für Arbeitnehmer und Selbständige sowie für Studierende, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und deren Hinterbliebene gilt. Der Begriff „Familienangehöriger" wird in Art 1 lit f Z i der Verordnung definiert als jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt, anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird. Da nach der Rechtsprechung des EuGH die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten grundsätzlich nicht für Familienleistungen gilt (vgl 10 Ob 107/08w mwN), kommt es für den unterhaltsberechtigten Antragsteller, um in den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 zu fallen, nur noch darauf an, ob er seine Stellung von einem Elternteil ableiten kann (10 Ob 107/08w mwN). Der persönliche Anwendungsbereich nach Art 2 VO 1408/71 ist daher eröffnet, wenn der Antragsteller als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers, Selbständigen oder Studierenden anzusehen ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH und der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fällt somit eine Person, die einen Elternteil hat, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinn des Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 lit f Z i VO 1408/71 ist, in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung (RIS-Justiz RS0116311; 10 Ob 107/08w mwN).

Der Begriff des „Arbeitnehmers" wird in Art 1 lit a Z i VO 1408/71 definiert. Danach besitzt eine Person die Arbeitnehmereigenschaft im Sinn dieser Verordnung, wenn sie gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist. Dieser Begriff setzt nicht eine umfassende Vollversicherung voraus, vielmehr genügt schon die Pflichtversicherung gegen ein Risiko - so etwa die verpflichtende Unfallversicherung für geringfügig Beschäftigte - zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77). Als Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung gilt auch eine Person, die die Voraussetzungen für den Bezug aus der Arbeitslosenversicherung erfüllt (10 Ob 36/08d; 10 Ob 107/08w).

4. Als tätige oder arbeitslose EWR-Arbeitnehmerin oder Selbständige, die in einem Zweig der sozialen Sicherheit im Sinn des Art 4 VO 1408/71 untersteht, würde die Mutter und damit auch der Antragsteller als ihr Kind in den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 fallen (vgl 10 Ob 107/08w mwN).

5. Die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats für Familienleistungen und damit für den österreichischen Unterhaltsvorschuss richtet sich grundsätzlich nach den Kollisionsnormen der Art 13 ff VO 1408/71 . Ziel dieser Bestimmungen ist es, dass jede Person einer einzigen bestimmten Sozialrechtsordnung unterliegt; es sollen daher durch die Verordnung weder Versicherungslücken noch Doppelversicherungen oder Doppelleistungen entstehen (10 Ob 107/08w mwN).

5.1. Gemäß Art 13 Abs 1 VO 1408/71 unterliegen Personen, für die die Verordnung gilt, abgesehen von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats; dieser ist nach Titel II der Verordnung zu bestimmen. Gemäß Art 13 Abs 2 lit a und b VO 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftig ist oder eine selbständige Tätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Staats, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt. Gemäß Art 73 VO 1408/71 hat ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staats (Beschäftigungsstaat), als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staats wohnten. Dabei werden Familienleistungen gemäß Art 75 Abs 1 VO 1408/71 in dem in Art 73 dieser Verordnung genannten Fall vom zuständigen Träger des Staats gewährt, dessen Rechtsvorschriften für den Arbeitnehmer oder einen Selbständigen gelten. Sie werden nach den für diesen Träger geltenden Bestimmungen unabhängig davon gezahlt, ob die natürliche oder juristische Person, an die sie zu zahlen sind, im Gebiet des zuständigen Staats oder in dem eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder sich dort aufhält.

5.2. In der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (vgl 4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y, 1 Ob 267/07g) wurde die Ansicht vertreten, dass der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinn der VO 1408/71 an die Rechtsstellung des Unterhaltsschuldners anknüpfe, in dessen Haushalt das Kind nicht lebe und der den ihm auferlegten Geldunterhalt als Familienlast nicht tragen könne oder wolle. Es sei daher für das Bestehen eines solchen Anspruchs nach den Kollisionsregeln der VO 1408/71 (nur) jenes System sozialer Sicherheit maßgebend, in das der Geldunterhaltsschuldner eingebunden sei.

5.3. Diese Ansicht, die in Widerspruch zur früheren Judikatur des Obersten Gerichtshofs in vergleichbaren Fällen (4 Ob 117/02p = SZ 207/77; 9 Ob 157/02g ua) steht, wird in der jüngsten, nunmehr gefestigten Rechtsprechung des erkennenden Senats, der nach der Geschäftsverteilung des Obersten Gerichtshofs seit 1. 1. 2008 als Fachsenat für Rechtssachen nach dem UVG (ausschließlich) zuständig ist, abgelehnt. Es ist nach den zitierten Kollisionsnormen der VO 1408/71 davon auszugehen, dass grundsätzlich das Recht des Mitgliedstaats anwendbar ist, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige beschäftigt ist, der die Anwendung der VO 1408/71 begründet. Eine solche Anknüpfung an den versicherungspflichtigen Arbeitnehmer/Selbständigen ist im Rahmen der Verordnung grundsätzlich auch sachlich gerechtfertigt, weil der überwiegende Teil der erfassten Sozialleistungen auf Versicherungssystemen beruht (10 Ob 107/08w mwN). Eine Einschränkung der Anknüpfung ausschließlich an die Stellung des Vaters als Geldunterhaltsschuldner ist den zitierten Koordinierungsregelungen nicht zu entnehmen und würde überdies auch mit den oben dargelegten Ausführungen, wonach sowohl die Rechtsstellung des Vaters als Arbeitnehmer/Selbständiger als auch jene der Mutter als Arbeitnehmerin/Selbständige im Sinn der VO 1408/71 die Anwendung dieser Verordnung zu begründen vermag, in Widerspruch stehen (10 Ob 107/08w mwN). Familienleistungen werden daher in der Regel nach den Vorschriften des Mitgliedstaats gewährt, in dem der Arbeitnehmer bzw Selbständige beschäftigt ist, durch den der Anspruch auf Familienleistungen ermittelt wird (Neumayr in Schwimann, ABGB³ § 1 UVG Rz 39; 10 Ob 107/08w).

6. Im Anlassfall unterläge die Mutter des Antragstellers, sollte sie seit dem Zeitpunkt der gegenständlichen Antragstellung in Österreich als Arbeitnehmerin unselbständig oder als Selbständige erwerbstätig oder als arbeitslose Arbeitnehmerin sozialversichert gewesen sein, nach den dargestellten Kollisionsnormen allein österreichischem Recht. Ausgehend davon hätte der Antragsteller einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach dem österreichischen UVG. Daran würde sich selbst dann nichts ändern, wenn der Vater ebenfalls der VO 1408/71 unterliegen würde, weil im Fall eines Zusammentreffens von Ansprüchen aus mehreren Mitgliedstaaten der Anspruch im Wohnsitzstaat der Kinder vorgehen würde (10 Ob 107/08w mwN).

7. Das Verfahren erweist sich somit - wie der Rechtsmittelwerber zu Recht rügt - insoweit als ergänzungsbedürftig, als das Erstgericht nicht festgestellt hat, ob die Mutter des Antragstellers seit dem Zeitpunkt der Antragstellung (22. 10. 2008) in Österreich als Arbeitnehmerin oder Selbständige oder als arbeitslose Arbeitnehmerin sozialversichert war (10 Ob 107/08w mwN). Die im Revisionsrekursverfahren vom Jugendwohlfahrtsträger vorgelegte Kopie des Dienstzettels über ein Arbeitsverhältnis der Mutter kann der Oberste Gerichtshof infolge des Neuerungsverbots nicht berücksichtigen.

Dem Revisionsrekurs ist daher Folge zu geben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung seines Verfahrens im dargelegten Sinn aufzutragen.

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