OGH 5Ob116/09h

OGH5Ob116/09h7.7.2009

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Floßmann als Vorsitzenden sowie durch die Hofrätinnen/Hofräte des Obersten Gerichthofs Dr. Hurch, Dr. Höllwerth, Dr. Roch und Dr. Tarmann-Prentner als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Mj Annika F*****, geboren am 21. September 1997, *****, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft St. Pölten,

Am Bischofsteich 1, 3100 St. Pölten, als Jugendwohlfahrtsträger, über den Revisionsrekurs des Vaters Mag. Gernot B*****, vertreten durch MMag. Dr. Susanne Binder-Novak, Rechtsanwältin in St. Pölten, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 9. März 2009, GZ 23 R 39/09x-U-15, womit der Beschluss des Bezirksgerichts St. Pölten vom 18. Dezember 2008, GZ 1 P 117/02d-U-12, bestätigt wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der verfahrensgegenständliche Antrag der Minderjährigen, den Vater zur Tragung eines Sonderbedarfs für eine kieferorthopädische Behandlung zu verpflichten, abgewiesen wird.

Text

Begründung

Aufgrund eines Unterhaltsvergleichs vom 25. 9. 2008 zahlt der Vater seit 1. 9. 2008 der Antragstellerin 544 EUR monatlich als Unterhalt. Dieser Betrag und der zuvor monatlich gezahlte Betrag von 384 EUR übersteigt die jeweils gültigen Regelbedarfssätze, und zwar im Zeitraum April 2008 bis April 2009 um insgesamt 1.979 EUR. Die Mj Annika bedarf einer kieferorthopädischen Behandlung, konkret einer Zahnregulierung, wofür unter Berücksichtigung des vom Krankenversicherer bezahlten Kostenbeitrags durch zwei Jahre hindurch jeweils 943 EUR an Behandlungskosten entstehen.

Durch die Differenz zwischen den tatsächlich geleisteten laufenden Unterhaltsbeiträgen und dem jeweils gültigen Regelbedarfssatz ist der gesamte anfallende Sonderbedarf gedeckt.

Die Differenz zwischen dem Einkommen des Vaters im Zeitpunkt des Abschlusses des Vergleichs und der im maßgeblichen Zeitpunkt zugrundezulegenden Einkommensbeträge ist vernachlässigbar. Die Leistungsfähigkeit des Vaters ist nach der sogenannten Prozentsatzmethode voll ausgeschöpft.

Die durch den Jugendwohlfahrtsträger vertretene Mj Annika begehrte in ihrem verfahrenseinleitenden Antrag, dem Vater zur Deckung eines Sonderbedarfs in Höhe von 943 EUR für das erste Behandlungsjahr, also vom 31. 3. 2008 bis 31. 3. 2009 zu verpflichten.

Beide Vorinstanzen gaben diesem Begehren antragsgemäß statt. Das Erstgericht ging davon aus, dass durch die laufende Unterhaltsleistung die Leistungsfähigkeit des Vaters nicht ausgeschöpft werde. Anspruch auf Sonderbedarf bestehe grundsätzlich im Rahmen der Leistungspflicht des Unterhaltspflichtigen, wobei es darauf ankomme, ob auch in einer intakten Familie unter Berücksichtigung der konkreten Einkommens- und Vermögenssituation der gesamten Familie die Finanzierung des konkreten Sonderbedarfs unter objektiven Gesichtspunkten in Betracht gezogen werde. Abzulehnen sei die Ansicht, dass Sonderbedarf zunächst aus der Differenz zwischen Regelbedarfssatz und tatsächlich geleisteten monatlichen Unterhaltsbeträgen zu bestreiten sei, weil dergestalt ein Unterhaltsberechtigter nicht an den gehobenen Lebensverhältnissen des Unterhaltspflichtigen mehr beteiligt werde. Das unterhaltsberechtigte Kind sei daher nicht verpflichtet, den Sonderbedarf aus eigenem Vermögen abzudecken.

Einem dagegen vom Vater erhobenen Rekurs gab das Gericht zweiter Instanz nicht Folge.

Das Rekursgericht korrigierte eine unrichtige Rechenoperation und damit auch die Rechtsansicht des Erstgerichts hinsichtlich der Ausschöpfung der Leistungsfähigkeit des Vaters. Sowohl im Zeitpunkt des Abschlusses des Unterhaltsvergleichs als auch im maßgeblichen Zeitraum werde die Leistungsfähigkeit des Vaters nach der „Prozentsatzmethode" voll ausgeschöpft. Richtig sei auch, dass im Zeitraum April 2008 bis April 2009 vom Vater um 1.979 EUR mehr bezahlt worden sei, als der gültige Regelbedarfssatz in diesem Zeitraum betragen hätte, sodass der gesamte anfallende Sonderbedarf durch die Differenz gedeckt wäre. Es liege also kein sogenannter „Deckungsmangel" vor. Dennoch sei im Sinn des § 140 ABGB ein Kind an den gehobenen Lebensverhältnissen seines geldunterhaltspflichtigen Elternteils zu beteiligen. Wolle man ein Kind verpflichten, aus der Differenz zwischen dem Regelbedarfssatz und den tatsächlich laufend zu leistenden Unterhaltsbeiträgen Sonderbedarf zu finanzieren, werde diesem Grundsatz der Teilhabe an den gehobenen Lebensverhältnissen des Vaters nicht mehr entsprochen.

Bewusst setzte sich das Rekursgericht mit dieser Rechtsansicht in Widerspruch zur höchstgerichtlichen Entscheidung 1 Ob 150/08b und rechtfertigte das damit, dass Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung, deren medizinische Notwendigkeit vom Vater auch gar nicht bestritten werde, eine abweichende Beurteilung rechtfertigten. Dafür spreche auch, dass selbst nach Trennung einer Familie ein Vergleich zu Gegebenheiten in einer intakten Familie, jedenfalls hinsichtlich eines konkret notwendigen medizinischen Sonderbedarfs, anzustellen sei. Selbst eine in bescheidenen finanziellen Verhältnissen lebende Familie würde einem Kind eine notwendige medizinische Behandlung möglichst ohne Einschränkung der Befriedigung der sonstigen Bedürfnisse zu finanzieren trachten.

Das Rekursgericht erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für zulässig, weil die Frage klärungsbedürftig sei, ob die bisherige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Verweigerung eines Sonderbedarfs ohne Vorliegen eines Deckungsmangels selbst dann aufrecht zu erhalten sei, wenn es sich um medizinisch bedingten Mehraufwand handle.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung des angefochtenen Beschlusses im Sinn einer Antragsabweisung. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Antragstellerin hat sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Vaters ist zulässig, weil das Rekursgericht von höchstgerichtlicher Rechtsprechung abgewichen ist. Der Revisionsrekurs ist auch berechtigt.

1.) Sonderbedarf ist jener Bedarf, der sich aus der Berücksichtigung der beim Regelbedarf bewusst außer Acht gelassenen Umstände des Einzelfalls ergibt (vgl RIS-Justiz RS0117791; RS0047564; RS0109908 ua).

Dass die Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung einen solchen Sonderbedarf darstellen, entspricht ständiger höchstgerichtlicher Judikatur (9 Ob 507/95 = SZ 68/38; 10 Ob 118/97v = EFSlg 83.289; 6 Ob 643/95; zuletzt 6 Ob 230/08d) und wird im vorliegenden Fall vom Unterhaltspflichtigen auch nicht bestritten.

2.) Ob ein Sonderbedarf vom Unterhaltspflichtigen zu decken ist, hängt davon ab, ob es dem Unterhaltspflichtigen angesichts der Einkommens- und Vermögensverhältnisse zumutbar ist (vgl RIS-Justiz RS0107179; RS0109907; RS0047543 ua).

Erbringt der Unterhaltsschuldner ohnedies Unterhaltsleistungen, die den Regelbedarf beträchtlich übersteigen, ist im Rahmen der Unterhaltsbemessung Sonderbedarf nur dann zu ersetzen, wenn dessen Aufwendungen höher sind als die Differenz zwischen dem Regelbedarf und der laufenden monatlichen Unterhaltsverpflichtung (vgl RIS-Justiz RS0047525). Dabei genügt es, dass der Unterhaltsberechtigte in der Lage ist, den ihm geleisteten Sonderbedarf in Raten aus dem ihm zustehenden, den Regelbedarf deutlich übersteigenden Unterhaltsbetrag zu bestreiten (vgl 1 Ob 415/97d ua). Eine Überschreitung der Prozentsatzkomponente, der das Hauptgewicht bei der Unterhaltsbemessung zukommt (vgl 3 Ob 531/92 = EFSlg 67.737; 1 Ob 588/93 = ÖA 1994, 99 U 94 ua), wird überhaupt nur bei existenznotwendigem Sonderbedarf oder bei sonst förderungswürdigen Kindern zuerkannt (vgl RIS-Justiz RS0109907; Barth/Neumayr in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 § 140 Rz 85 f mw Rechtsprechungshinweisen). Hiebei ist zu prüfen, ob die Aufwendungen für den begehrten Sonderbedarf auch in einer intakten Familie unter Berücksichtigung der konkreten Einkommens- und Vermögenssituation getätigt worden wären (vgl die zuvor angeführten Belegstellen; RIS-Justiz RS0109907).

Entgegen der Ansicht des Rekursgerichts ist der Vergleichsmaßstab der Üblichkeit einer bestimmten Aufwendung in einer „intakten Familie" nicht zur Beurteilung dafür heranzuziehen, ob überhaupt ein Deckungsmangel anzunehmen ist, sondern für die Frage der Zumutbarkeit der Tragung des Sonderbedarfs durch den Unterhaltsverpflichteten im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit (vgl Barth/Neumayr in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 aaO; RIS-Justiz RS0107182; insb 7 Ob 187/05h).

Nach den maßgeblichen Feststellungen ist die relative Leistungsfähigkeit des Vaters zumindest seit 1. 9. 2008 nach der „Prozentsatzmethode" voll ausgeschöpft. Durch die Zuerkennung weiteren Sonderbedarfs würde seine Leistungsfähigkeit nach der sogenannten „Prozentsatzmethode" überschritten.

Weiters steht fest, dass der gesamte anfallende Sonderbedarf in Höhe von 1.886 EUR durch die Differenz zwischen den tatsächlichen Unterhaltszahlungen und den jeweils gültigen Regelbedarfssätzen im Zeitraum April 2008 bis April 2009 gedeckt ist.

Damit besteht kein Deckungsmangel für den geltend gemachten Sonderbedarf.

Es bedürfte daher eines konkreten Vorbringens der Antragstellerin, dass ein besonders berücksichtigungswürdiger Fall vorläge oder dass die Differenzbeträge anderweitig durch Sonderbedarf aufgebraucht würden (vgl RIS-Justiz RS0047525; 1 Ob 585/90 = SZ 63/81; 2 Ob 89/03g).

Was die Frage der Teilhabe des Unterhaltsberechtigten an den

Lebensverhältnissen des Unterhaltspflichtigen betrifft, wird diese

nach der Rechtsprechung bereits durch die „Prozentsatzkomponente",

die ja bereits der Leistungsfähigkeit der Eltern Rechnung trägt,

gewährleistet (vgl 7 Ob 652/90 = EFSlg 61.815; 1 Ob 612/91 = RZ

1992/48 = RZ 1993/76; Stabentheiner in Rummel3 § 140 Rz 5;

Barth/Neumayr aaO § 140 Rz 89 mwN).

Besteht also kein Deckungsmangel, weil der geleistete Unterhalt, insoweit er über dem Regelunterhalt liegt, den Sonderbedarf abdeckt, nimmt der Unterhaltsberechtigte insofern bereits an den gehobenen Lebensverhältnissen des Unterhaltspflichtigen teil. Ein „Aufsplitten" des gesamten Unterhaltsbeitrags in Leistungen zur Befriedigung des „sonstigen" Unterhaltsbedarfs und des zweckgebundenen Sonderbedarfs ist nicht angebracht, dient doch die Gesamtleistung an Unterhalt der Abdeckung aller unterschiedlichen Bedürfnisse des Unterhaltsberechtigten (1 Ob 150/08b = FamZ 2009/3). Kann der Unterhaltsberechtigte bereits aus dem gesamten ihm geleisteten Unterhalt auch Sonderbedarf abdecken, nimmt er schon dadurch an den gehobenen Lebensverhältnissen des Unterhaltspflichtigen teil. Im konkreten Fall besteht daher kein deckungspflichtiger Sonderbedarf der Antragstellerin.

Das hatte zur Stattgebung des Revisionsrekurses des Vaters im Sinn seines Antrags auf Abweisung des verfahrenseinleitenden Antrags zu führen.

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