Spruch:
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Schöffengericht vom 23. September 1982, GZ 25 Vr 2054/82-9, wurde Erich B***** des Verbrechens der gleichgeschlechtlichen Unzucht mit Jugendlichen nach § 209 StGB idF BGBl 60/1974 schuldig erkannt, weil er am 17. April 1982 in Innsbruck nach Vollendung des 18. Lebensjahres mit einer jugendlichen Person, nämlich mit dem am 6. Juli 1966 geborenen Immanuel W*****, gleichgeschlechtliche Unzucht dadurch getrieben hat, dass er ihn mehrmals am Geschlechtsteil betastete und sich von diesem am Geschlechtsteil betasten ließ.
Mit Beschluss des Obersten Gerichtshofes vom 22. Juni 1983, GZ 11 Os 85/83-5, wurde die gegen dieses Urteil erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten zurückgewiesen (ON 21); die in erster Instanz mit 10 Monaten ausgemessene (unbedingte) Freiheitsstrafe wurde vom Oberlandesgericht Innsbruck mit Urteil vom 10. August 1983, AZ 3 Bs 288/83, über Berufung des Angeklagten auf sieben Monate herabgesetzt (ON 23).
Gestützt auf eine Reihe von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR), mit welchen der Gerichtshof eine Verletzung des Art 14 iVm Art 8 MRK durch die diesen - das gegenständliche Strafverfahren nicht betreffenden - Beschwerdefällen zu Grunde gelegenen Verurteilungen nach § 209 StGB feststellte, beantragt der Verurteilte Erich B***** gemäß § 363a StPO die Erneuerung des Strafverfahrens anzuordnen.
Der Generalprokurator hat dazu wie folgt Stellung bezogen (§ 363a Abs 2 vierter Satz StPO):
§ 363a Abs 1 StPO bestimmt für den Fall der Feststellung einer Verletzung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl Nr 210/1958 (EMRK), oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichtes in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, dass das Verfahren auf Antrag insoweit zu erneuern ist, als nicht auszuschließen ist, dass die Verletzung einen für den hievon Betroffenen nachteiligen Einfluss auf den Inhalt einer strafgerichtlichen Entscheidung ausüben konnte. Durch die jeweilige Verwendung des bestimmten Artikels zur Bezeichnung des zu erneuernden Verfahrens und des von der Konventionsverletzung Betroffenen wird klargestellt, dass Gegenstand der Erneuerung nur jenes Verfahrens ist, in dem die nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte konventionswidrige strafgerichtliche Entscheidung ergangen ist. Folgerichtig ist nach § 363a Abs 2 zweiter Satz StPO zur Stellung eines Antrages auf Erneuerung (neben dem Generalprokurator) nur „der von der festgestellten Verletzung Betroffene" - somit der Verurteilte oder sonstige Verfahrensbeteiligte in jenem Verfahren, das mit der als konventionswidrig festgestellten Entscheidung behaftet ist - legitimiert (Reindl WK-StPO § 363a Rz 15). Nichts anderes bringen - dem Standpunkt des Antragstellers zuwider - die Gesetzesmaterialien zum Ausdruck (EBRV zum StRÄG 1996, 33 BlgNR XX. GP, 66), wonach (in erster Linie) „der von der mit der Konventionsverletzung behafteten Entscheidung Betroffene antragslegitimiert sein soll, es sich aber nicht um den Beschwerdeführer vor den Straßburger Organen handeln muss". Die Feststellung der Konventionswidrigkeit einer Verurteilung wegen des Verbrechens nach § 209 StGB durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für ein bestimmtes Verfahren berechtigt daher nicht, die Erneuerung eines anderen Strafverfahrens wegen § 209 StGB zu begehren, das nicht von einer solchen Entscheidung dieses Gerichtshofes betroffen ist; eine derartige, vom Gesetz nicht vorgesehene (Art 18 Abs 1 B-VG) Erneuerungsmöglichkeit ist mangels einer planwidrigen Lücke des Strafverfahrensrechtes auch durch eine Gesetzesanalogie nicht zu erschließen (13 Os 3/03). Das vom Antragsteller reklamierte Normverständnis des § 363a StPO ist im Übrigen auch durch das Regelwerk der EMRK keineswegs geboten:
Die über Individualbeschwerden (Art 34 EMRK) erkennenden Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte üben keine abstrakte Normenkontrolle, sondern stellen - grundsätzlich bezogen auf den konkreten Einzelfall - eine Verletzung oder Nichtverletzung der EMRK durch staatliches Verhalten gegenüber einem Individuum fest (EGMR, Axen gegen Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1985, 227;
Frowein/Peukert EMRK2 Art 53 [alt] Rz 9; Okresek EuGRZ 2003, 169;
Villiger, EMRK2, § 13 Rz 231). Gegenstand der Bindungswirkung (Art 46 Abs 1 EMRK) ist daher die Feststellung (oder Nichtfeststellung) einer Konventionsverletzung durch einen bestimmten Verwaltungsakt oder durch ein bestimmtes Urteil (Meyer-Ladewig EMRK2 Art 46 Rz 18, 21, 34). Aus dieser materiellen Rechtskraftwirkung folgt, dass die Konvention den Staat nur in dem konkret entschiedenen Fall verpflichtet, die Konventionsverletzung soweit wie möglich rückgängig zu machen. Auch die Pflicht zur Beendigung einer allenfalls noch andauernden Konventionsverletzung besteht grundsätzlich nur in Bezug auf einen bestimmten Beschwerdeführer (Kilian, Die Bindungswirkung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte [1994], 204; Okresek in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art 46 EMRK Rz 7; Frowein/Peukert aaO Art 53 [alt] Rz 6). Mit der grundsätzlich einzelfallbezogenen Bindungswirkung (Art 46 Abs 1 EMRK) steht auch im Einklang, dass den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte eine sogenannte Anlassfallwirkung (vergleichbar Art 139 Abs 6 und Art 140 Abs 7 B-VG) nicht zukommt (Okresek EuGRZ 2003, 173). Selbst eine allfällige Verpflichtung zu einer auf Grund der festgestellten Konventionsverletzung gegebenenfalls erforderlichen Änderung oder Nichtanwendung von Rechtsnormen bestünde - dem Prinzip der Rechtssicherheit folgend - nicht rückwirkend, sondern für die Zukunft (EGMR, Marckx gegen Belgien, EuGRZ 1979, 454, 460; Frowein/Peukert aaO Art 53 [alt] Rz 7; Villiger aaO § 13 Rz 233; Kilian, aaO, 205). Eine „generelle" Rechtskraftwirkung der Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist der EMRK daher fremd, sodass - entgegen dem Standpunkt des Antragstellers - die Nichtannahme der reklamierten Antragslegitimation gemäß § 363a StPO keine Konventionsverletzung darzustellen vermag.
Da somit dem Antragsteller ein Antragsrecht gemäß § 363a StPO nicht zusteht, wäre der Antrag schon in nichtöffentlicher Beratung nach § 363b Abs 2 Z 2 StPO zurückzuweisen.
Der Anregung auf Einleitung eines Normenprüfungsverfahrens mit Beziehung auf § 207b StGB verbleibt zu erwidern, dass der Oberste Gerichtshof diese Bestimmung gegenständlich nicht anzuwenden hat (Art 89 Abs 2 B-VG).
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:
Eine aus Art 46 Abs 1 MRK resultierende Verpflichtung zur Befolgung eines Urteils des EGMR liegt, wie der Generalprokurator zutreffend aufzeigt, hinsichtlich des Antragstellers nicht vor. Dieser vermag nämlich keinen Anhaltspunkt für die Annahme aufzuzeigen, dass die - Dritte betreffenden - Entscheidungen oder Verfügungen österreichischer Strafgerichte, hinsichtlich welcher der EGMR eine Verletzung der Art 8 und 14 MRK festgestellt hat, einen für ihn nachteiligen Einfluss iSd § 363a Abs 1 StPO hätte haben können. Deshalb allein wäre sein Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens aber noch nicht unzulässig (§ 363b Abs 2 Z 2 StPO):
Trifft nämlich nach Art 13 MRK den Konventionsstaat die Verpflichtung, jedem, der mit einer gewissen Plausibilität darlegt, in einem Konventionsrecht verletzt zu sein, die Berufung auf das Recht auf eine wirksame Beschwerde zuzugestehen, mit anderen Worten, sicher zu stellen, dass es eine nationale Instanz gibt, die sich mit der Frage der Verletzung eines Konventionsrechts auseinandersetzt (Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention² § 24 Rz 170), so kann die Vorschrift des § 363a Abs 1 StPO nicht dahin verstanden werden, die Erneuerung des Strafverfahrens aufgrund einer Verletzung von Konventionsrechten nur in jenen Fällen zu ermöglichen, in denen die Konventionsverletzung bereits in einem Urteil des EGMR festgestellt wurde.
Der Oberste Gerichtshof sieht sich demnach als nach der Bundesverfassung oberste Instanz in Strafrechtssachen (Art 92 Abs 1 B-VG) - über Art 46 Abs 1 MRK hinausgehend - dazu aufgerufen, die Erfüllung der aus der MRK erfließenden verfassungs- wie völkerrechtlichen Verpflichtungen für den Bereich der Strafgerichtsbarkeit sicher zu stellen, also den Intentionen der MRK auch in jenen Fällen Rechnung zu tragen, in denen noch kein Urteil gegen Österreich ergangen ist (vgl Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention² § 3 Rz 13).
Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach mit Blick auf den Grundrechtsschutz planwidrige Lücken gesetzlicher Regelungen ausgemacht und sich zu deren Schließung befugt gesehen (vgl 11 Os 101/03, SSt 2003/89; 14 Os 82/94, EvBl 1994/138 = JBl 1995, 186; 13 Os 54, 55/00; 13 Os 113/02; zum Problem instruktiv: Pilnacek, Strafrechtliches Entschädigungsgesetz im Spannungsverhältnis zu Art 6 MRK, ÖJZ 2001, 546; methodisch überdies: Schwab, StEG-Evolution durch Interpretation, RZ 2001, 162 [164 und FN 22]; vgl auch 13 Os 50/05k, SSt 2005/42 = EvBl 2005/155, 722 zur generellen Zweiseitigkeit von Beschwerden noch vor gesetzlicher Klarstellung sowie RIS-Justiz RS0117728 über eine vom Obersten Gerichtshof zugelassene Grundrechtsbeschwerde gegen Beschlüsse über die Zulässigkeit der Auslieferung bis zur gesetzlichen Einführung einer Beschwerdemöglichkeit gegen derartige Entscheidungen durch BGBl I 2004/15; vgl Ratz, Grundrecht in der Strafjudikatur des OGH, ÖJZ 2006, 318 [325]).
Da die Feststellung einer Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch den EGMR nicht bloß als notwendige, sondern auch als (zusammen mit den übrigen gesetzlichen Voraussetzungen) hinreichende Bedingung für die Erneuerung des Strafverfahrens verstanden werden kann und sich seit der Einführung der §§ 363a bis 363c StPO durch das StRÄG 1996 die Rechtsprechung des EGMR zu den das gerichtliche Verfahren betreffenden Garantien signifikant verändert hat (vgl Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention² § 24 Rz 146 ff; D. Richter in Grote/Marauhn, EMRK/GG [2006] Kap 20 Rn 18, 95, 112 ff; Meyer-Ladewig, EMRK² [2006] Art 13 Rz 19 f), ist (jedenfalls nachträglich entstandene) Planwidrigkeit des § 363a Abs 1 StPO anzunehmen und Lückenschließung dahin gerechtfertigt, dass es eines Erkenntnisses des EGMR als Voraussetzung für eine Erneuerung des Strafverfahrens nicht zwingend bedarf. Vielmehr kann auch eine vom Obersten Gerichtshof selbst - aufgrund eines Antrags auf Erneuerung des Strafverfahrens - festgestellte Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines untergeordneten Strafgerichts dazu führen.
Somit stehen in Österreich, wo die in der MRK und ihren Zusatzprotokollen garantierten Rechte Verfassungsrang genießen, einerseits vor dem VfGH ein Verfahren zur Verfügung, um deren Verletzung im Bereich der Gesetzgebung und Verwaltung geltend zu machen, und andererseits, nämlich (hier:) in Strafrechtssachen, wo der Oberste Gerichtshof als höchste Instanz sowohl über die Einhaltung einfachgesetzlicher wie auf Verfassungsstufe stehender Bestimmungen zu wachen hat (vgl Art 92 Abs 1, 89 Abs 2 B-VG), durch die Vorschriften über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Erneuerung des Strafverfahrens, das GRBG und § 91 GOG wirksame Möglichkeiten zur Beschwerde gegen Grundrechtsverletzungen durch ein dem Obersten Gerichtshof untergeordnetes Strafgericht bereit (vgl Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention² § 24 Rz 163, 173 f). Diese versetzen den Obersten Gerichtshof in die Lage, im Sinn des Art 1 MRK, nicht bloß die Rechtsprechung des EGMR nachzuvollziehen, sondern erforderlichenfalls selbst Akzente ihrer Weiterbildung zu setzen.
Auch im Bereich des Grundrechtsschutzes sind aber gewisse, insbesondere zeitliche Schranken zu beachten: § 35 Abs 1 MRK verlangt als Zulässigkeitsvoraussetzung für die Befassung des EGMR mittels Individualbeschwerde (ua) die Einhaltung einer sechsmonatigen Frist nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung. Es soll zur Gewährung von Rechtssicherheit garantiert werden, dass behauptete Konventionsverletzungen innerhalb angemessener Zeit untersucht werden und innerstaatliche Entscheidungen nicht ad infinitum einer Überprüfung auf (Grund-)Rechtsverstöße unterliegen (Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention² § 13 Rz 35). Da somit selbst der EGMR eine Grundrechtsverletzung nur bei Anrufung innerhalb der Frist des § 35 Abs 1 MRK aufzugreifen vermag, kann für den Obersten Gerichtshof in seiner Funktion als höchstem innerstaatlichen Grundrechtewahrer nichts anderes gelten.
Zumal fallbezogen die Voraussetzung rechtzeitiger Geltendmachung der behaupteten Rechtsverletzung jedenfalls nicht vorliegt, war der Erneuerungsantrag als unzulässig bereits bei der nichtöffentlichen Beratung zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 2 StPO).
Damit scheidet auch - neben der Unmöglichkeit einer Abhilfe über § 8 StRegG (VfgH 4. Oktober 2006, B 742/06) - eine nicht an die Voraussetzungen des TilgG anknüpfende Beseitigung der Verurteilung aus dem Strafregister aus: Die an das Strafregisteramt übersandte Strafkarte (§ 3 StRegG) war richtig. Eine Berichtigung nach § 5 Abs 1 StRegG ist nicht Gegenstand des Erneuerungsverfahrens, diese Gesetzesstelle daher nicht vom Obersten Gerichtshof anzuwenden (Art 89 Abs 2 B-VG). Das Eingehen auf die vom Erneuerungswerber beklagte „Stigmatisierung" durch fortgesetzte Speicherung und Verarbeitung seiner Verurteilung sowie die Folge des § 4 TilgG verbietet sich somit, abgesehen davon, dass die von ihm zitierten Judikate des EGMR qualitativ und quantitativ andere Fälle betrafen (vgl überdies das angeführte Erkenntnis des VfGH). Allfällige Nachteile bei künftig zu treffenden Ermessensentscheidungen (zB im Rahmen der Strafzumessung oder bei der Entscheidung über die bedingte Entlassung) aus der auf einer nachträglich als grundrechtswidrig erkannten Norm basierende Verurteilung können auf prozessual einwandfreie Weise unter Bedacht auf das Erkenntnis 11 Os 95/02 [verst Sen], SSt 2003/45, vermieden werden.
Im Hinblick darauf, dass der Oberste Gerichtshof hier schon vor dem Antrag auf Erneuerung angerufen worden ist, sei klargestellt, dass es sich - nicht anders als bei einer Beschwerde gegenüber dem EGMR - bei einem nicht auf ein Urteil dieses Gerichtshofs gestützten Erneuerungsantrag um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt. Demgemäß hat der Oberste Gerichtshof in seiner zum AZ 13 Os 135/06m ergangenen Entscheidung zum Ausdruck gebracht, dass die gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß auch für derartige Anträge gelten (vgl Art 35 Abs 4 erster Satz MRK). So kann der Oberste Gerichtshof unter anderem erst nach Rechtswegausschöpfung (Art 35 Abs 1 MRK; vgl auch § 1 Abs 1 GRBG) angerufen werden.
Hieraus folgt für die Fälle, in denen die verfassungskonforme Auslegung von Tatbeständen des materiellen Strafrechts in Rede steht, dass diese Problematik vor einem Erneuerungsantrag mit Rechts- oder Subsumtionsrüge (§ 281 Abs 1 Z 9 oder Z 10, § 468 Abs 1 Z 4, § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO) geltend gemacht worden sein muss (zur grundsätzlichen Möglichkeit, Grundrechte mit den in der Strafprozessordnung vorgesehenen Behelfen durchzusetzen, siehe Ch. Piska in Holoubek/Korinek Kommentar zum B-VG Art 87 Abs 3 Rz 45). Steht die Verfassungskonformität einer Norm als solche in Frage, ist dieser Weg - angesichts fehlender Anfechtungskompetenz in erster Instanz erkennender Gerichte (Art 89 Abs 2 B-VG e contrario) - nicht offen. Diesfalls hat der Angeklagte unter dem Aspekt der Rechtswegausschöpfung anlässlich der Urteilsanfechtung auf die Verfassungswidrigkeit des angewendeten Strafgesetzes hinzuweisen, um so das Rechtsmittelgericht zu einem Vorgehen nach Art 89 Abs 2 B-VG zu veranlassen. Dass bei einem eng am Wortlaut dieser Bestimmung angelehnten Verständnis der Normanfechtungskompetenz das als verfassungswidrig reklamierte Strafgesetz vom Rechtsmittelgericht erst nach Urteilsaufhebung „angewendet" werden könnte, steht der Normanfechtungsbefugnis dieses Gerichts und - darauf basierend - der Rügeobliegenheit des Erneuerungswerbers nicht entgegen. Diesbezüglich weist nämlich der Verfassungsgerichtshof in ständiger Judikatur darauf hin, dass er sich nicht für berechtigt hält, bei Prüfung der Frage, ob die Vorschrift, deren Verfassungswidrigkeit behauptet wird, für die Entscheidung des ihn anrufenden Gerichts präjudiziell ist, dieses an eine bestimmte Auslegung zu binden. Ein Mangel der Präjudizialität liegt daher nur dann vor, wenn die zur Prüfung beantragte Bestimmung ganz offenbar und schon begrifflich überhaupt nicht - dh denkunmöglich - als Voraussetzung der zu fällenden Entscheidung in Betracht kommen kann (VfSlg 6278, 7999, 8136, 8318, 8871, 9284, 9811, 9911, 10.296, 10.357, 10.640, 11.565, 12.189). Demzufolge bejahte der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 21. Juni 2002, G 6/02, VfSlg 16.565, die Zulässigkeit des Gerichtsantrags auf Aufhebung des § 209 StGB als verfassungswidrig, obwohl das antragstellende Oberlandesgericht nur mit zugunsten des Angeklagten erhobener Schuld- und Strafberufung befasst, also eine prozessuale Situation gegeben war, bei deren Erledigung die „Anwendung" der angefochtenen Norm im streng wörtlichen Sinn ausschied, weil die Schuldberufung (§ 464 Z 2 erster Fall StPO) ausschließlich die Bekämpfung der Beweiswürdigung zum Gegenstand hat (vgl aber § 477 Abs 1 zweiter Satz, § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO; Ratz, WK-StPO § 464 Rz 8; zuletzt Rami, Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld und Wahrheitsbeweis, JBl 2007, 569 [571]). Wird der Rechtsweg iS der dargelegten Kriterien ausgeschöpft, hat dies zur Folge, dass in Strafsachen, in denen der Oberste Gerichtshof in zweiter Instanz entschieden hat, dessen unmittelbarer (nicht auf eine Entscheidung des EGMR gegründeter) Anrufung mittels Erneuerungsantrags die Zulässigkeitsbeschränkung des Art 35 Abs 2 lit b erster Fall MRK entgegensteht, weil der Antrag solcherart „im wesentlichen" mit einer schon vorher vom Obersten Gerichtshof geprüften „Beschwerde" übereinstimmt.
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