Spruch:
Dem Antrag des Günther L***** auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO wird Folge gegeben, die Urteile des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 8. Februar 1996 (im vom Obersten Gerichtshof bestätigten Teil) und vom 29. Jänner 1997, GZ 8 a Vr 14.898/93-42 und 53, die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 5. November 1996, GZ 11 Os 128/96-7 (ON 47 des Strafaktes), soweit sie nicht die teilweise Aufhebung des Ersturteils betrifft, der Beschluss des Obersten Gerichtshofes vom 27. Mai 1997, GZ 11 Os 68/97-7 (ON 59), sowie das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 31. Juli 1997, AZ 23 Bs 233/97 (ON 62) werden aufgehoben und Günther L***** von der Anklage, von 1989 bis zum 18. Mai 1994 in Wien als Person männlichen Geschlechts nach Vollendung des neunzehnten Lebensjahres in nicht näher feststellbarer, jedenfalls häufiger Wiederholung mit einer nicht näher feststellbaren Vielzahl nicht ausforschbarer Personen, die das vierzehnte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatten, in Form von Hand- und Mundverkehr gleichgeschlechtliche Unzucht getrieben zu haben, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen;
2) den Beschluss
gefasst:
Gemäß § 6 Abs 2 StEG wird festgestellt, dass die in § 2 Abs 1 lit b StEG bezeichneten Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind und keiner der in § 3 StEG bezeichneten Ausschlussgründe vorliegt.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 8. Februar 1996, GZ 8 a Vr 14.898/93-42, wurde Günther L***** des Verbrechens der gleichgeschlechtlichen Unzucht mit Personen unter achtzehn Jahren nach § 209 StGB schuldig erkannt, weil er ab dem Jahre 1989 bis zum 18. Mai 1994 in Wien sowie im Ausland (Ungarn, Tschechien, Slowakei, Italien und Niederlande) als Person männlichen Geschlechts nach Vollendung des neunzehnten Lebensjahres in nicht näher feststellbarer, jedenfalls häufiger Wiederholung mit einer nicht näher feststellbaren Vielzahl nicht ausforschbarer Personen, die das vierzehnte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatten, in Form von Hand- und Mundverkehr gleichgeschlechtliche Unzucht getrieben hat.
Der dagegen erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten gab der Oberste Gerichtshof mit Entscheidung vom 5. November 1996, GZ 11 Os 128/96-7, teilweise statt und hob das angefochtene Urteil (nur) in Ansehung der Auslandstaten - womit der die Inlandstaten betreffende Schuldspruch rechtskräftig wurde - und demgemäß auch im Strafausspruch auf und verwies die Sache im Umfang der Aufhebung zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht (ON 47). Noch vor der Neudurchführung des Verfahrens über die unerledigten Anklagepunkte zog die Staatsanwaltschaft die Anklage zurück (11. Dezember 1996: S 3 h verso).
Für den in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruch verurteilte das Landesgericht für Strafsachen Wien als Schöffengericht Günther L***** mit Urteil vom 29. Jänner 1997, GZ 8 a Vr 14.898/93-53, zu einer unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von elf Monaten. Die dagegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten wies der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom 27. Mai 1997, GZ 11 Os 68/97-7 (ON 59 der Strafakten) als unzulässig zurück, seiner Berufung hingegen wurde vom Oberlandesgericht Wien mit Urteil vom 31. Juli 1997, AZ 23 Bs 233/97 (ON 62) Folge gegeben und die (bedingt nachgesehene) Freiheitsstrafe auf acht Monate herabgesetzt.
In dem (auch) über die Klage des Günther L***** ergangenen Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 9. Jänner 2003 (Lausch und Versat gegen Österreich, applications nos 39392/98 und 39829/98) wurde in der Verurteilung nach § 209 StGB eine Verletzung des Art 14 iVm Art 8 EMRK festgestellt, weil die in der zitierten Strafbestimmung normierte Beschränkung der Strafbarkeit sexueller Kontakte auf nur (männliche) homosexuelle Partner sachlich nicht gerechtfertigt sei und außerdem das Recht auf Achtung des Privatlebens verletze.
Unter Bezugnahme auf dieses Urteil beantragte Günther L***** am 23. Juli 2003 gemäß § 363a StPO die Erneuerung des Strafverfahrens.
Rechtliche Beurteilung
Ausgehend von der oben angeführten Entscheidung des EGMR sind die Voraussetzungen für die Erneuerung des Strafverfahrens gegeben:
Mit dem am 1. März 1997 in Kraft getretenen Strafrechtsänderungsgesetz 1996, BGBl Nr 762, wurde zur Transformation von Urteilen des EGMR in die innerstaatliche Rechtsordnung das Institut der Erneuerung des Strafverfahrens in die Strafprozessordnung eingeführt: Wird in einem Urteil des EGMR eine Verletzung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichtes festgestellt, so ist das Verfahren auf Antrag insoweit zu erneuern, als nicht auszuschließen ist, dass die Verletzung einen für den hiervon Betroffenen nachteiligen Einfluss auf den Inhalt einer strafgerichtlichen Entscheidung ausüben konnte (§ 363a Abs 1 StPO).
Um das zu beurteilen, ist Folgendes zu erwägen:
Die Bestimmung des § 209 StGB wurde vom Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 21. Juni 2002 (AZ G 6/02) unter Fristsetzung bis 28. Februar 2003 als verfassungswidrig aufgehoben.
Mit dem am 14. August 2002 in Kraft getretenen Strafrechtsänderungsgesetz 2002, BGBl I 2002/134, mit welchem eine Reihe von Strafbestimmungen neu konstituiert, eine Reihe weiterer modifiziert wurden, entfiel die Strafbestimmung des § 209 StGB. Der neu eingeführte § 207b StGB pönalisiert unter speziellen Voraussetzungen ua auch, jedoch ohne geschlechtsspezifische Differenzierung, homosexuelle Kontakte mit Jugendlichen und weist zudem deutlich reduzierte Strafdrohungen auf. Nach den Übergangsbestimmungen (Art X) sind die durch dieses Bundesgesetz geänderten Strafbestimmungen in Strafsachen nicht anzuwenden, in denen vor ihrem Inkrafttreten das Urteil erster Instanz gefällt wurde. Nach Aufhebung dieses Urteils infolge Nichtigkeitsbeschwerde, Berufung, Wiederaufnahme oder Erneuerung des Strafverfahrens oder infolge eines Einspruchs ist jedoch im Sinne der §§ 1, 61 StGB vorzugehen.
Auf das dem rechtskräftig gewordenen Schuldspruch zugrundeliegende Tatverhalten ist somit § 209 StGB nicht (mehr) anwendbar, eine Strafbarkeit nach dieser Bestimmung scheidet daher aus. Nach den für all diese Entscheidungen maßgeblichen Sachverhaltsannahmen des Urteils des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 8. Februar 1996 (ON 42) hatten sich die durchwegs unbekannt gebliebenen Jugendlichen zu den inkriminierten gleichgeschlechtlichen Handlungen jeweils freiwillig bereit gefunden (S 449/I des Strafaktes). Anhaltspunkte, aus denen auf eine mangelnde Reife der (nunmehr nur bis zur Vollendung des sechzehnten Lebensjahres geschützten) Minderjährigen iSd § 207b Abs 1 StGB idF des StRÄG 2002 oder eine (vom Angeklagten ausgenutzte) Zwangslage dieser Personen (§ 207b Abs 2 StGB) geschlossenen werden könnte, ergeben sich weder aus dem Urteilssachverhalt noch aus den Verfahrensergebnissen, sehr wohl aber könnte Günther L*****, der nach seinen eigenen Angaben Jugendliche unter achtzehn Jahren zu geschlechtlichen Handlungen durch Anbieten eines Entgelts verleitet hat, tatbildlich iSd § 207b Abs 3 StGB gehandelt haben.
Wird dies bejaht, stellt sich die Frage, ob der Angeklagte hiefür auch schuldig erkannt werden kann. Nach der gesetzlichen Übergangsregelung sind bei Erneuerung des Strafverfahrens die Bestimmungen der §§ 1, 61 StGB heranzuziehen. Daraus folgt, dass eine Verurteilung nach § 207b StGB nur dann in Betracht kommen kann, wenn die darin beschriebene Tat bereits zur Zeit ihrer Begehung mit Strafe bedroht war. Trifft dies zu, ist ein Günstigkeitsvergleich anzustellen: Anzuwenden ist jene Strafnorm, welche in ihrer Gesamtauswirkungen für den Täter die günstigere ist, bei Gleichwertigkeit aber jedenfalls die neue.
Formell war das nunmehr von § 207b StGB erfasste Täterverhalten zur Tatzeit durch § 209 StGB pönalisiert. Auf das nach § 207b Abs 3 StGB (als alleiniges Strafbarkeitskriterium) erforderliche Verleiten durch Anbieten eines Entgelts kam es nach der Tatbildbeschreibung des § 209 StGB nicht an. Gegenüber der dort vorgesehenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren ist die Strafdrohung des § 207b (Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren) die günstigere, weshalb nach dem Wortsinn der Übergangsbestimmungen nach dieser Gesetzesstelle vorzugehen wäre.
Dagegen spricht, dass dabei mit § 209 StGB gerade jene Strafbestimmung als Vergleichsnorm herangezogen wird, die vom EGMR ausdrücklich als konventionswidrig bezeichnet wurde, weil sie sowohl gegen Art 8 als auch gegen Art 14 der EMRK verstößt. Durch die Beachtung dieser Strafbestimmung bei der nach §§ 1, 61 StGB zu treffenden Entscheidung würde daher einer konventionswidrigen Strafnorm ausschlaggebende Bedeutung zuerkannt werden, müsste doch ohne sie die Heranziehung des § 207b Abs 3 StGB am Rückwirkungsverbot des § 1 StGB scheitern, sodass jedenfalls das bei Umsetzung einer EGMR-Entscheidung anzustrebende Ziel, alle mit einer festgestellten Grundrechtsverletzung verbundenen nachteiligen Folgen zu beseitigen und hintanzuhalten, verfehlt wäre.
Ob dieses durch den Wortsinn der Übergangsregelung gedeckte Ergebnis (Schuldspruch nach § 207b Abs 3 StGB) der ratio legis entspricht, ist zunächst durch teleogische Auslegung zu ermitteln. Dabei kommt es nach hM (vgl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6 333 f, Kramer, Juristische Methodenlehre [1998] 111) nicht nur auf die Absicht des historischen Gesetzgebers (subjektiv-teleologische Auslegung), sondern auch auf die Erforschung des Normzwecks im Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung nach heutigem Wertungshorizont (objektiv-teleologische Interpretation) an.
Weder die Gesetzesmaterialien zum Strafrechtsänderungsgesetz 1996, mit welchem das Erneuerungsverfahren konstituiert wurde, noch jene zum StRÄG 2002 enthalten Ausführungen über den Zweck der Übergangsbestimmungen. Diese entsprechen der seit dem StGB 1975 (§ 323 Abs 2) bei jeder Gesetzesnovellierung üblichen Formulierung, die ihren Grund ersichtlich im Gedanken der Rechtssicherheit hat. Nur nach kassatorischen Entscheidungen soll das neue Gesetz Anwendung finden können, und selbst dann erst nach einem Günstigkeitsvergleich, der dem alten Gesetz zusätzlich partielle Weitergeltung verschaffen kann.
Dass in diesem Zusammenhang auch als verfassungswidrig aufgehobene Gesetze Beachtung finden, ist damit nicht ausgeschlossen, könnte doch ein vorrangiges Interesse an Rechtssicherheit die strikte Einhaltung der Norm, hier der eindeutigen Übergangsregelung, rechtfertigen. Bedenkt man jedoch im vorliegenden Fall, dass die Strafbestimmung des § 209 StGB nicht nur als verfassungswidrig aufgehoben, sondern vom EGMR ausdrücklich (auch) als konventionsverletzend angesehen wurde, würde eine gesetzeskonforme Heranziehung dieser Bestimmung einen allein dadurch erst möglichen Schuldspruch nach (dem in seinen Auswirkungen vergleichsweise günstigeren) § 207b Abs 3 StGB (erneut) einer - erfolgreichen - Anfechtung vor dem EMRG aussetzen, eine Konsequenz, welche bedacht und hingenommen oder gar beabsichtigt zu haben, dem Gesetzgeber gerade unter dem Aspekt der Rechtssicherheit nicht zugesonnen werden kann.
Liegt daher die ratio legis der Übergangsregelung in der Wahrung der Rechtssicherheit, damit aber auch in der bei objektiv-teleologischer Wertung zu fordernden Nichtanwendung einer als konventionswidrig festgestellten Norm im Erneuerungsverfahren nach §§ 363a ff StPO, dann zeigt sich, dass die gesetzlichen Übergangsbestimmungen eine Ausnahme im Hinblick auf den in Rede stehenden Fall (iS einer planwidrigen Lücke) vermissen lassen. Der zwar klare, verglichen mit der Teleologie des Gesetzes aber zu weit gefasste, somit undifferenzierte Wortsinn ist daher durch Hinzufügung der sinngemäß geforderten Einschränkung auf den Anwendungsbereich zu reduzieren, welcher der ratio legis entspricht. Dies bedeutet im Ergebnis, dass nach Aufhebung eines Urteils infolge Erneuerung des Strafverfahrens bei einem Vorgehen nach §§ 1, 61 StGB nur jene Strafbestimmungen zu beachten sind, die nicht im konkreten Anlassfall vom EGMR als konventionswidrig festgestellt wurden.
Im Gegenständlichen ergibt sich daraus, dass § 209 StGB als Vergleichsnorm nicht berücksichtigt werden darf und demgemäß eine Verurteilung nach § 207b StGB infolge des Rückwirkungsverbotes des § 1 StGB nicht in Betracht kommt.
Weil die vom EGMR aufgezeigte Konventionswidrigkeit auch - und im Hinblick auf die in § 293 StPO normierte Bindung der Untergerichte an die Rechtsansicht des Obersten Gerichtshofes entscheidend - dem Obersten Gerichtshof zuzurechnen ist, hatte dieser selbst das Erneuerungsverfahren durchführen (vgl Reindl aaO Rz 9) und, weil eine Verurteilung mangels anwendbarer Strafnorm nicht in Frage kommt, in einem Gerichtstag mit Freispruch vorzugehen. Die prozessuale Grundlage hiefür ergibt sich aus § 363c Abs 2 StPO, demzufolge der Oberste Gerichtshof dann, wenn er über einen Erneuerungsantrag nicht schon in (hier vom Generalprokurator beantragter: § 363b Abs 1 und Abs 3 StPO) nichtöffentlicher Sitzung entschieden hat, in einem Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung in Stattgebung des Erneuerungsantrages die strafgerichtliche Entscheidung aufzuheben und (nur) erforderlichenfalls die Sache an das Gericht erster oder zweiter Instanz zu verweisen hat. Damit steht es ihm aber frei, in der Sache selbst zu erkennen (abw 33 BlgNR XX.GP 66). Die Beschlussfassung nach dem Strafrechtlichen Entschädigungsgesetz (StEG) gründet auf § 6 Abs 2 leg cit. Darnach hat jenes Gericht, dass eine Person freispricht, von Amts wegen festzustellen, ob die in § 2 Abs 1 lit b oder c StEG normierten Voraussetzungen für einen Anspruch auf Ersatz der durch eine strafrechtliche Verurteilung entstandenen vermögensrechtlichen Nachteile (§ 1 StEG) gegeben sind oder einer der in § 3 StEG bezeichneten Ausschlussgründe vorliegt. Der Ersatzanspruch besteht ua dann, wenn der Geschädigte von einem inländischen Gericht verurteilt und nach Wiederaufnahme des Strafverfahrens oder - wie hier - "sonst", damit auch im Wege eines Erneuerungsverfahrens nach § 363a StPO, freigesprochen wird (§ 2 Abs 1 lit c StEG), weshalb die Anspruchsvoraussetzungen zu bejahen sind. Hingegen trifft keiner der in § 3 StEG genannten Ausschlussgründe zu. In Betracht kommt allenfalls jener nach § 3 lit d StEG, wonach der Ersatzanspruch in den Fällen des § 2 Abs 1 lit c StEG ausgeschlossen ist, wenn an die Stelle der aufgehobenen Entscheidung lediglich deshalb eine für den Geschädigten günstigere getreten ist, weil inzwischen das Gesetz geändert wurde, doch entspricht dieser Fall nicht dem verfahrensgegenständlichen, in welchem der Freispruch die Konsequenz der Rechtsfolgenbeseitigung einer konventionswidrigen Strafnorm ist. Die tatsächliche Gesetzesänderung durch das StRÄG 2002 ist demnach gerade nicht die Grundlage des Freispruchs, womit § 3 lit d StEG als Ausschlussgrund ausscheidet.
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