OGH 6Ob265/03v

OGH6Ob265/03v19.2.2004

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Huber, Dr. Prückner, Dr. Schenk und Dr. Schramm als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Josef K*****, vertreten durch Berger Saurer Zöchbauer, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Mag. Ewald S*****, vertreten durch Gheneff-Rami, Rechtsanwälte OEG in Wien, wegen Unterlassung und Widerrufs ehrverletzender Äußerungen, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht vom 16. September 2003, GZ 5 R 58/03s-31, womit über die Berufung der beklagten Partei das Urteil des Handelsgerichtes Wien vom 21. Jänner 2003, GZ 18 Cg 72/02f-27, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der Kläger ist karenzierter Polizeibeamter. Der Beklagte war Landesrat und ist nunmehr Volksanwalt. Der Kläger hat mit der Veröffentlichung eines Buches die sogenannte "Spitzelaffäre", über die in den Medien breit berichtet wurde, ausgelöst und in seinem Buch sowie bei Vernehmungen vor der Wirtschaftspolizei verschiedene Funktionäre einer politischen Partei, unter anderem auch den Beklagten, gesetzwidriger Handlungen bei der Beschaffung persönlicher Daten bezichtigt, die im politischen Meinungskampf Verwendung finden sollten. Gegen einige Personen wurden strafrechtliche Vorerhebungen eingeleitet. Der Beklagte äußerte mehrmals, dass die Beschuldigungen des Klägers Verleumdungen seien und erstattete Strafanzeige wegen des Delikts gemäß § 297 StGB. Der Staatsanwalt verfügte nach Prüfung eine Teileinstellung gemäß § 90 Abs 1 StPO wegen des Verdachts der Verleumdung zum Nachteil ua des Beklagten. Gegen den Beklagten war von der Wirtschaftspolizei Anzeige wegen des Verdachts nach § 12, zweite Alternative, StGB und § 302 Abs 1 StGB erstattet worden. Auch dieses Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft gemäß § 90 Abs 1 StPO eingestellt.

Der Kläger begehrt die Unterlassung und den öffentlichen Widerruf der beleidigenden und rufschädigenden Äußerungen des Beklagten, der Kläger sei ein Verleumder, er habe eine verleumderische Aussage verbreitet und/oder ein Verleumdungsgebäude errichtet, das sich in Schall und Rauch aufgelöst habe. Der Kläger habe seine Aussagen vor der Polizei nie öffentlich verbreitet. Der Beklagte bezichtige den Kläger wahrheitswidrig des Delikts der Verleumdung nach § 297 Abs 1 StGB. Die Strafanzeige gegen den Kläger sei vom Staatsanwalt geprüft und dann das Strafverfahren eingestellt worden. Der Kläger habe dem Beklagten in einem Zeitungsinterview keine strafbaren Handlungen vorgeworfen.

Der Beklagte beantragte die Abweisung der Klagebegehren. Der Kläger habe öffentlich verleumderische Tatsachen über den Beklagten verbreitet. Es liege wegen der staatstragenden Funktion des Beklagten in dessen Interesse, der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass er mit der "Spitzelaffäre" nichts zu tun habe. Er müsse sich medienwirksam gegen die Anschuldigungen zur Wehr setzen dürfen. Der Staatsanwalt habe keinen Grund zur weiteren Verfolgung des Beklagten gefunden und die Vorerhebungen eingestellt. In politisch brisanten Fällen seien die Äußerungen des Beklagten gerechtfertigte Reflexhandlungen. Die Behauptungen des Klägers, der Beklagte habe auf illegale Weise Unterlagen des Innenministeriums erhalten, seien unwahr. Das Erstgericht gab den Klagebegehren statt. Von seinen Feststellungen, die zum Großteil aus wörtlichen Wiedergaben aus den Vernehmungsprotokollen, Zeitungsinterviews und Presseaussendungen bestehen, ist zusammengefasst hervorzuheben:

In seiner Aussage vom 20. 10. 2000 vor der Wirtschaftspolizei habe der Kläger ausgesagt, dass der Beklagte in einem persönlichen Gespräch um Informationen und Aktenbesorgungen gebeten habe, die einen Zusammenhang zwischen einer (gegnerischen) politischen Partei und der Russenmafia belegen könnten. In der Aussage vom 23. 10. 2000 habe der Kläger u.a. zu Protokoll gegeben, dass er bei einem Journalisten einen Akt gesehen habe, der laut Aussage des Journalisten teilweise von einem Polizeibeamten für den Beklagten zusammengestellt und diesem übergeben worden sei. Eine parlamentarische Anfrage des Beklagten habe auf den Inhalt dieses Aktes Bezug genommen. In einem Zeitungsinterview vom 9. 2. 2000 habe der Kläger auf den Vorhalt, das von 18 anhängigen Verfahren nur zwei Anstiftungen (gemeint: Politiker als Anstifter) betroffen seien, der Rest aber nur (gemeint: "kleine") Beamte betreffe, geäußert: "Die Großen lässt man laufen, die Kleinen wird man hängen. Dass die Verfahren gegen Jörg H***** und Ewald S***** eingestellt wurden, muss ich zur Kenntnis nehmen" und "Das ist ja das Witzige: Anstatt dass H***** und S***** eine Messe lesen lassen, dass sie draußen sind, provozieren sie Klagen mit dem Ergebnis, dass die Causa nun doch vor Gericht kommt".

Am 2. 11. 2000 habe der Beklagte in einer im Internet abrufbaren Presseaussendung seiner Partei wegen des nunmehrigen Vorliegens von Originalaussagen des Klägers gegen diesen mit den Worten eine Strafanzeige angekündigt: "Wegen dieser verleumderischen Aussage gegen mich werde ich am Montag Strafanzeige gegen K***** aufgrund des dringenden Tatverdachts der Verleumdung nach § 297 StGB einbringen". In einer weiteren Presseaussendung der politischen Partei seien Teile der Strafanzeige des Beklagten, die Aussage des Klägers vor der Wirtschaftspolizei vom 23. 10. 2000 und die Äußerung des Beklagten dazu veröffentlicht worden: "Mit seiner Aussage hat mich Josef K***** vorsätzlich und wissentlich einer von Amts wegen zu verfolgenden mit Strafe bedrohten Handlung verdächtigt und mich so absichtlich der Gefahr einer behördlichen Verfolgung ausgesetzt. Er hat damit das Tatbild des § 297 StGB verwirklicht". In der Presseaussendung vom 15. 11. 2000 sei u.a. die Äußerung des Beklagten wiedergegeben worden:

"Gestern sei K***** auch dabei ertappt worden, wie er im Zwei-Wochen-Rhythmus seine Argumentationslinie bei seinen Verleumdungen ändere". In mehreren Zeitungsausgaben vom 6. 2. 2001 sei eine Äußerung des Beklagten wiedergegeben worden, dass sich das "Verleumdungsgebäude" des Klägers in Schall und Rauch aufgelöst habe. Am 5. 2. 2001 sei in sämtlichen "Zeit im Bild"-Sendungen des ORF ein Interview mit dem Beklagten ausgestrahlt worden, in dem er den Vorwurf geäußert habe: "Es ist nur erstaunlich, dass es fünf Monate gedauert hat, denn es war von vornherein erkennbar, dass es nur verleumderische G'schichtln sind eines Mannes, der sich einerseits politisch hat instrumentalisieren lassen im Vorfeld des beginnenden Wiener Wahlkampfes und andererseits Verkaufsinteresse hat". Der Vorwurf des Beklagten, der Kläger habe ihn verleumdet, sei in zahlreichen Zeitungen wiedergegeben worden.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht im Wesentlichen aus, dass der Vorwurf, jemand sei ein Verleumder, eine Ehrenbeleidigung im Sinne des § 1330 Abs 1 ABGB darstelle. Es handle sich um eine einer objektiven Überprüfung zugänglichen Tatsachenbehauptung. Bei Ehrenbeleidigungen treffe den Täter die Beweislast über die Richtigkeit der Tatsache. Ein solcher Beweis sei dem Beklagten nicht gelungen. Er sei zwar durch den Kläger aufgrund der Aussage über von Amts wegen zu verfolgende strafbare Handlungen der Gefahr einer behördlichen Verfolgung ausgesetzt gewesen, es sei jedoch nicht der Beweis gelungen, dass der Kläger dies im Bewusstsein getan habe, dass die Verdächtigung falsch sei. Dazu habe der Beklagte nicht einmal Beweismittel angeboten. Er sei zwar zur Erstattung einer Strafanzeige gegen den Kläger wegen des Verdachts der Verleumdung nach § 297 Abs 1 StGB berechtigt gewesen, nicht aber zur Verbreitung der Aussage in den Medien, der Kläger sei ein Verleumder.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten Folge und änderte das erstinstanzliche Urteil dahin ab, dass die Klagebegehren abgewiesen wurden. In einem anderen Prozess (beendet mit dem Zurückweisungsbeschluss des Obersten Gerichtshofs vom 23. 1. 2003, 6 Ob 313/02a) sei es ebenfalls um das Buch des Klägers und eine daran geübte Kritik gegangen. Der Oberste Gerichtshof habe seine Auffassung wiederholt, dass die Unterscheidung von Tatsachenbehauptungen und Werturteilen nach dem Gesamtzusammenhang zu treffen sei und dass der dort zu beurteilende Vorwurf einer "persönlichen Diffamierung von Leuten" als subjektive Wertung im Rahmen der kritisierenden Würdigung des Buches des Klägers zu verstehen sei. Das Werturteil sei im Sinne des im Art 10 EMRK garantierten Rechts auf freie Meinungsäußerung zulässig. Die Äußerungen "persönliche Diffamierung" und "Verleumdung" bzw "verleumderische Aussage" und/oder "Verleumdungsgebäude" seien zwar nicht wortgleich, der Bedeutungsinhalt müsse aber gleichgesetzt werden. Im Sinne dieser Vorentscheidung sei auch hier von einer zulässigen Kritik im Rahmen des politischen Meinungsstreits auszugehen.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstandes 20.000 EUR übersteige und dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Mit seiner außerordentlichen Revision beantragt der Kläger die Abänderung dahin, dass den Klagebegehren stattgegeben werde, hilfsweise die Aufhebung zur Verfahrensergänzung.

In der Revisionsbeantwortung beantragt der Beklagte die Zurückweisung der Revision als unzulässig, hilfsweise, der Revision nicht Folge zu geben.

Die Revision ist wegen Vorliegens erheblicher Rechtsfragen zur Unterscheidung von Tatsachenbehauptungen und Werturteilen zulässig. Sie ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionswerber bekämpft die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung, dass die Verleumdungsvorwürfe des Beklagten zulässige Werturteile seien und steht auf dem Standpunkt, dass überprüfbare Tatsachenbehauptungen vorlägen, deren Richtigkeit - also die wissentlich falschen Beschuldigungen des Klägers - der Beklagte zu beweisen gehabt hätte. Der Beklagte versucht hingegen das Vorliegen von bloß wertenden Äußerungen mit der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu untermauern. Im Revisionsverfahren unstrittig ist, dass weder in den jeweils eingestellten Strafverfahren noch im vorliegenden Zivilverfahren die Wahrheit der wechselseitigen Anschuldigungen festgestellt werden konnte.

Aus den rechtlichen Erwägungen der vom Berufungsgericht herangezogenen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 23. 1. 2003, 6 Ob 313/02a, lassen sich keine verwertbaren Schlüsse ziehen, weil ehrenbeleidigende und rufschädigende Äußerungen stets nach dem maßgeblichen Gesamtzusammenhang, in dem sie fielen und dem dadurch vermittelten Gesamteindruck zu beurteilen sind (RIS-Justiz RS0031883). Ein und dieselbe Äußerung kann bei Unterschiedlichkeit des zugrunde liegenden Sachverhalts einmal eine überprüfbare Tatsachenbehauptung, das andere Mal aber ein reines Werturteil sein (RS0031815; SZ 72/118; 6 Ob 14/03g). Im Vorprozess des Klägers gegen eine andere beklagte Partei ging es zwar ebenfalls um eine Reaktion auf die "Enthüllungen" des Klägers in seinem Buch. Gegenstand jener Unterlassungsklage war die Wortwahl, der Kläger habe "eine persönliche Diffamierung von Leuten betrieben". Die Äußerung wurde als noch zulässiges, dem Wahrheitsbeweis nicht zugängliches Werturteil qualifiziert. Wohl hat das Wort "diffamieren" im allgemeinen Sprachgebrauch auch den Bedeutungsinhalt des Verleumdens oder des in üblen Ruf Bringens (Duden, Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache2 723). Die reine Wortinterpretation vermag aber nicht die Frage des Bedeutungsinhalts nach dem Zusammenhang, in dem die Äußerung fiel, zu beantworten. Nach dem hier festgestellten Sachverhalt, der anders gelagert ist als der im Vorprozess zu beurteilende, kann es nicht zweifelhaft sein, dass der Beklagte mit seinen Verleumdungsvorwürfen dem Kläger ganz konkret die Begehung des strafbaren Delikts der Verleumdung nach § 297 StGB vorwarf, also eine Tatsachenbehauptung aufstellte, die der Überprüfung zugänglich ist:

Der Oberste Gerichtshof vertritt im Anschluss an die Judikatur des EGMR (E v. 2. 5. 2000, Bergens Tidende, MR 2001, 84) die Auffassung, dass es bei zeitlich auseinanderfallenden, inhaltlich aber in engem Zusammenhang stehenden Äußerungen auf deren in einer "Gesamtschau" zu ermittelnden Gesamteindruck ankommt (6 Ob 249/01p = MR 2002, 88), der Bedeutungsinhalt der Wörter "Verleumdung", "verleumderische Aussage" und "Verleumdungsgebäude" hier also nach allen festgestellten Äußerungen in ihrem Zusammenhang zu ermitteln ist. Wenn der Kläger daher eine Strafanzeige wegen Verleumdung unter Zitierung des Deliktsparagraphen (§ 297 StGB) ankündigte, diese Anzeige auch tatsächlich erstattete und in der Folge in weiteren Äußerungen in der Öffentlichkeit dem Kläger Verleumdungen unterstellte, kann kein Zweifel daran bestehen, dass er damit nicht nur behauptete, die Anschuldigungen des Klägers gegen ihn seien unwahr, sondern auch, dass der Kläger wider besseres Wissen andere Personen fälschlich strafbarer Handlungen bezichtigte.

Die Erstattung einer Strafanzeige wegen Verleumdung kann dem Beklagten an sich nicht vorgeworfen werden, sie ist - den Fall einer wissentlich falschen Anzeige ausgenommen - gerechtfertigt. Der Rechtfertigungsgrund steht aber nicht mehr zur Verfügung, wenn der Anzeiger die in die Ehre des anderen eingreifenden Behauptungen öffentlich in Presseaussendungen oder Zeitungsinterviews wiederholt, weil er dies nicht mehr im öffentlichen Interesse am Funktionieren der Strafrechtspflege tut (vgl zu anderen Rechtfertigungsgründen auch 6 Ob 79/00m = MR 2000, 228; 6 Ob 114/00h = SZ 73/117 = MR 2000, 307). Als Tatsachenmitteilungen gelten nach ständiger Rechtsprechung auch Verdächtigungen und Vermutungen (RIS-Justiz RS0032494), weil der Ehrenschutz nicht durch geschickte Formulierungen des Täters verhindert werden darf (6 Ob 55/03m). Dass die Äußerung eines bloßen Tatverdachtes im Gegensatz zu der zitierten Rechtsprechung nicht mehr gemäß § 1330 ABGB verfolgbar sein sollte, ergibt sich aus der vom Beklagten zitierten Entscheidung 6 Ob 220/01y (MR 2001, 373) keineswegs, weil dort nur die richtige Wiedergabe eines fremden Tatverdachts in einem Zeitungsartikel nach der sogenannten Zitatenjudikatur zu beurteilen war und nicht ein vom Täter selbst geäußerter Tatverdacht. Im Übrigen hat der Beklagte im Gegensatz zu seinen Ausführungen in der Revisionsbeantwortung dem Kläger ohnehin mehrfach und ohne jede Abschwächung Verleumdungen im Sinne des strafbaren Delikts nach dem StGB vorgeworfen.

Der Revisionswerber beruft sich zu Unrecht auf die Judikatur des EGMR, die das Vorliegen eines unüberprüfbaren und nach Art 10 EMRK zulässigen Werturteils belegen soll:

Es kann zwar eingeräumt werden, dass die Äußerungen des Beklagten hier in einem politischen Meinungskampf fielen (der Kläger war Mitglied und Funktionär der politischen Partei, die er in seinem Buch angreift) und dass für Werturteile in einem politischen Meinungsstreit besondere Zulässigkeitskriterien gelten. Das Urteil des EGMR vom 26. 2. 2002, Beschwerde Nr. 28525/95 - Tatblatt (MR 2002, 149 mit Anm Ennöckl/Windhager und Zöchbauer) ist keine Stütze für die Rechtsansicht des Beklagten. Der EGMR beurteilte den gegenüber einem Politiker erhobenen Vorwurf der "rassistischen Hetze" als Werturteil und führte als tragende Begründung den Zusammenhang der Aussage mit einem als fremdenfeindlich erachteten Volksbegehren an. Der Wahrheitsgehalt des Werturteils, das ein angemessener Kommentar ("fair comment") sei, sei nicht überprüfbar. Die österreichischen Gerichte hatten demgegenüber die Äußerung u.a. wegen des im § 283 StGB normierten Delikts der Verhetzung als Tatsachenbehauptung, also als Vorwurf eines Delikts, beurteilt. Dieser vom EGMR entschiedene Fall lässt sich mit dem vorliegenden aber nicht vergleichen. Wohl waren auch hier die Äußerungen des Beklagten eine Reaktion auf ein vorangehendes Verhalten des Klägers (dort: Initiator eines Volksbegehrens; hier: Veröffentlichung eines Buchs mit Angriffen auch auf den Beklagten), der Beklagte hat dem Kläger aber ganz konkret ein bestimmtes Strafdelikt vorgeworfen und diesen Vorwurf auf einen konkreten Lebenssachverhalt gestützt, sodass die gegenteilige Auffassung über ein bloßes Werturteil zwingend zum Rechtssatz führen müsste, dass es im politischen Meinungsstreit keinerlei ehrverletzende oder rufschädigende Tatsachenbehauptungen geben könne. Es mag sein, dass (im Sinne Zöchbauers [MR 2002, 152], der empfiehlt, den Begriff der Tatsachenbehauptung enger und den Begriff der Meinung weiter zu verstehen), die bisher in der oberstgerichtlichen Rechtsprechung vertretene Auffassung einer weiten Auslegung der sogenannten "konkludenten Tatsachenbehauptungen" (RIS-Justiz RS0031810) im Lichte der Judikatur des EGMR neu zu überdenken ist. Hier bestehen für den Senat aber keinerlei Bedenken, dass auf Grund einer Auslegung nach dem gebotenen Gesamtzusammenhang Tatsachenbehauptungen des Beklagten zu beurteilen sind. Er hat nicht behauptet, der Inhalt des Buches des Klägers oder seine Aussagen seien verleumderisch im Sinne einer bloßen Unrichtigkeit der Vorwürfe des Klägers, er hat vielmehr auch das Wissen des Klägers über die Unrichtigkeit seiner Vorwürfe unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.

Die zweifellos im Einzelfall nicht immer leicht zu treffende Unterscheidung zwischen überprüfbaren Tatsachenbehauptungen und reinen Werturteilen ist jedenfalls dort entbehrlich, wo der ehrverletzenden Äußerung ein unwahrer Sachverhalt zugrunde liegt. Im Einklang mit der Judikatur des EGMR vertritt der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass sich niemand auf das Recht auf freie Meinungsäußerung berufen kann, wenn unwahre Tatsachen behauptet werden oder ein Werturteil auf der Basis eines unwahren Sachverhalts abgegeben wird (RS0107915; RS0032201). Wenn der wahre Sachverhalt nicht festgestellt werden kann, geht dies bei nicht bloß rufschädigenden, sondern auch ehrverletzenden Äußerungen (§ 1330 Abs 1 ABGB) zu Lasten des beklagten Täters, der den Wahrheitsbeweis zu erbringen hat (RS0031798).

Das Erstgericht hat dazu in seinem Urteil ausgeführt, dem Beklagten sei der Beweis, dass ihn der Kläger wissentlich falsch verdächtigt habe, nicht gelungen (Seite 7 des Ersturteils). In seiner Berufung hat der Beklagte allerdings den Umstand, dass das Erstgericht nicht alle der von ihm angebotenen Beweise aufnahm, unter den Berufungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen Beweiswürdigung ausdrücklich geltend gemacht. Ausgehend von seiner - wie oben dargelegt wurde - nicht zu billigenden Rechtsansicht ist aber das Berufungsgericht auf diese Berufungsgründe überhaupt nicht eingegangen; es hat lediglich "der Vollständigkeit halber" bemerkt, dass der im erstgerichtlichen Urteil enthaltene Passus, wonach der Beklagte dem "berechtigten Begehren des Klägers nichts entgegen zu setzen habe", nicht eine Feststellung, sondern vielmehr Teil der Beweiswürdigung des Erstgerichtes sei. Hat das Berufungsgericht einen geltend gemachten Verfahrensmangel erster Instanz (oder auch eine Beweis- und Tatsachenrüge) infolge einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache nicht wahrgenommen (bzw in den Entscheidungsgründen behandelt), dann liegt in einem solchen Fall ein mit Rechtsrüge aufzugreifender Feststellungsmangel vor, der zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht führt (vgl Kodek in Rechberger, ZPO § 503 Rz 3 S. 1303 mwN; 4 Ob 67/03m = MR 2003, 321 ua), weil es dem Obersten Gerichtshof als Rechtsinstanz nicht zukommt, über Berufungsgründe zu entscheiden, die den Tatsachenbereich betreffen. Dennoch sei bereits hier in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung des EGMR hingewiesen, wonach es nicht zulässig ist, von einer Partei die Erbringung des Wahrheitbeweises zu verlangen, ihr aber gleichzeitig die Möglichkeit zu nehmen, den Beweis zur Untermauerung ihrer Äußerung zu erbringen, das heißt die Aufnahme der verfügbaren Beweise abzulehnen (Urteil des EGMR vom 27. 2. 2001, Jerusalem gegen Österreich, ÖJZ 2001, 693/23; MR 2001, 89 mit Anm Ennöckl/Windhager).

Im Falle einer Stattgebung des Klagebegehrens wird zu beachten sein, dass das Ersturteil keine Begründung zur Berechtigung des Widerrufsbegehrens enthält.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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