VwGH Ra 2023/20/0619

VwGHRa 2023/20/061928.2.2024

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr.in Oswald sowie den Hofrat Mag. M. Mayr als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Herrmann‑Preschnofsky, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. Dezember 2023, W102 2260393‑1/10E, betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (Mitbeteiligter: I E, W), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
EURallg
FlKonv Art1 AbschnA Z2
VwGG §42 Abs2 Z1
32011L0095 Status-RL Art10
32011L0095 Status-RL Art9
32011L0095 Status-RL Art9 Abs2 lite
32011L0095 Status-RL Art9 Abs3
62019CJ0238 EZ / Bundesrepublik Deutschland VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2024:RA2023200619.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der im Jahr 1997 geborene Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Syrien, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 9. November 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Er gab an zu befürchten, vom syrischen Militär eingezogen zu werden. Er wolle nicht kämpfen und niemanden töten. Er habe in Syrien seinen regulären Militärdienst noch nicht abgeleistet. Wenn er dorthin zurückkehre, werde er zum Militärdienst verpflichtet. Das wolle er nicht, weil Krieg herrsche. Es gebe in Syrien auch keinen Strom und keine Lebensmittel. Man bekomme dort keine Arbeit.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gab diesem Antrag insofern statt, als es dem Mitbeteiligten mit Bescheid vom 6. September 2022 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannte und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte mit der Gültigkeit für die Dauer eines Jahres erteilte. In Bezug auf das Begehren auf Zuerkennung des Asylberechtigten wurde der vom Mitbeteiligten gestellte Antrag jedoch abgewiesen.

3 Die Behörde ging betreffend den den Antrag abweisenden Ausspruch ‑ soweit für das Revisionsverfahren von Interesse ‑ davon aus, dass es „aktuell keine Generalmobilmachung des syrischen Militärs“ gebe. Der Mitbeteiligte habe während seines (durch in den Jahren 2013 und 2014 sowie 2017 bis 2020 erfolgte Aufenthalte im Libanon unterbrochenen) Aufenthalts in Syrien und nach dem (endgültigen) Verlassen seines Herkunftsstaates weder eine Aufforderung zur Abholung eines Militärbuches noch einen Einberufungsbefehl erhalten. Selbst wenn für ihn eine Einberufung zum Militärdienst existierte, bestehe für ihn ‑ nach den aktuellen Informationen zur Situation in Syrien zu „im Ausland befindlichen“ Syrern ‑ angesichts seines bereits mehrere Jahre außerhalb Syriens geführten Lebens die Möglichkeit, sich vom regulären Militärdienst (gegen eine Leistung von bis zu US‑$ 10.000,‑) freizukaufen. Diese Möglichkeit habe der Mitbeteiligten bislang zwar nicht in Anspruch genommen. Dies sei ihm aber weiterhin möglich. Da sich der Mitbeteiligte im Juni 2018 „ohne Probleme“ das beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl „vorgelegte Dokument (Familienbuch)“ habe ausstellen lassen, ließen sich „Probleme mit syrischen Behörden ausschließen“.

4 In der gegen die Verweigerung der Gewährung von Asyl erhobenen Beschwerde bezog sich der Mitbeteiligte, soweit er als Grund für eine asylrelevante Verfolgung geltend machte, dass er seinen Militärdienst in Syrien noch nicht abgeleistet habe, allein auf sein Alter und auf die in der Beschwerde zitierten Berichte zur allgemeinen Lage in Syrien.

5 Das Bundesverwaltungsgericht gab dieser Beschwerde nach Durchführung einer Verhandlung mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis statt und sprach aus, dass dem Mitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 festgestellt werde, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Erhebung einer Revision wurde vom Verwaltungsgericht für nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig erklärt.

6 Das Bundesverwaltungsgericht führte unter der Überschrift „1. Feststellungen:“ ‑ wörtlich wiedergegeben ‑ Folgendes aus:

„1.1. Zur Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, wurde 1997 geboren, ist Staatsangehöriger der Arabischen Republik Syrien, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Arabisch.

Der Beschwerdeführer stammt aus der Stadt Manbidsch, Gouvernement Aleppo. Er besuchte neun Jahre die Schule und war anschließend als Hilfsarbeiter in Manbidsch tätig. Zwischen 2013 und 2014 arbeitete der Beschwerdeführer legal im Libanon. Dann kehrte er nach Manbidsch zurück, bevor er 2017 illegal in den Libanon zurückkehrte und dort arbeitete. Ca. 2019/2020 kehrte der Beschwerdeführer nach Syrien zurück, bevor er 2021 über die Türkei nach Österreich reiste.

Der Beschwerdeführer ist mit B A, geb. 1997, seit 01.01.2017 verheiratet. Sie haben drei gemeinsame mj. Kinder. Die Ehefrau und Kinder leben im Heimatort des Beschwerdeführers bei seinen Eltern.

Die Eltern des Beschwerdeführers, zwei Brüder und sechs Schwestern des Beschwerdeführers leben nach wie vor im Heimatort in Syrien. Zwei Brüder des Beschwerdeführers leben im Libanon, ein Bruder lebt im Irak.

Der Beschwerdeführer ist gesund.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Die Heimatstadt des Beschwerdeführers liegt aktuell im Gebiet der kurdischen Selbstverwaltung.

Der Beschwerdeführer hat seinen Wehrdienst noch nicht abgeleistet und möchte seinen Wehrdienst auch nicht ableisten.

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter von 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend.

Sichere legale Einreisemöglichkeiten abseits von durch die syrische Regierung kontrollierten Flughäfen sind nicht verfügbar.

Im Fall der Rückkehr nach Syrien besteht für den Beschwerdeführer keine Möglichkeit, dem Wehrdienst zu entgehen. Er kann keine Befreiungsmöglichkeit in Anspruch nehmen und würde sehr wahrscheinlich bereits bei der Einreise als Wehrdienstpflichtiger identifiziert und allenfalls für kurze Zeit inhaftiert und dann eingezogen bzw. unmittelbar eingezogen zu werden. Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Zudem ist das „Herausfiltern“ Wehrdienstpflichtiger bei Straßenkontrollen oder an einem der zahlreiche Checkpoints weit verbreitet.

Der Beschwerdeführer wäre als Angehöriger der syrischen Armee gezwungen, zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen beizutragen.

Wenn der Beschwerdeführer den Wehrdienst verweigert, würde ihm von der syrischen Regierung eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt. Ihm droht in diesem Fall die Verurteilung vor einem Feldgericht und die Exekution oder die Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Dort wäre der Beschwerdeführer von Folter, Misshandlung und unmenschlicher Behandlung betroffen.“

7 Das Bundesverwaltungsgericht erachtete das Vorbringen des Mitbeteiligten, dass er bereits einen Einberufungsbefehl der syrischen Armee erhalten habe, als unglaubwürdig. Eine Auseinandersetzung mit dem weiteren Vorbringen des Mitbeteiligten ‑ so das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen seiner beweiswürdigenden Erwägungen weiter ‑ könne aber unterbleiben, weil bereits die sich aus den Feststellungen zur Situation in Syrien ergebene „Gefährdung für sich alleine“ ausreiche, „die Flüchtlingseigenschaft zu begründen“.

8 Bei der rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, es bestehe für den Mitbeteiligten im Fall der Rückkehr (nach Syrien) die Gefahr, bereits unmittelbar bei der Einreise zum Militärdienst eingezogen oder zunächst festgenommen und dann zum Militärdienst eingezogen zu werden. In der Haft drohe ihm Folter und Misshandlung. Zudem wäre er als Mitglied der syrischen Armee zur Mitwirkung an völkerrechtswidrigen Militäraktionen gezwungen. Er habe glaubhaft machen können, dass er die Ableistung des Militärdienstes ablehne. Im Fall einer Wehrdienstverweigerung sowie aufgrund der bereits erfolgten Wehrdienstentziehung würde ihm von Seiten des syrischen Regimes eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt werden. Es drohe ihm im Fall der Rückkehr als Folge seiner Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung Haft und damit verbunden Folter, Misshandlung und unmenschliche Behandlung. Der Mitbeteiligte habe „folglich glaubhaft machen“ können, dass ihm im Fall einer Rückkehr nach Syrien asylrechtlich relevante Verfolgung aus dem Konventionsgrund der (unterstellten) politischen Gesinnung im Sinn der (im angefochtenen Erkenntnis zitierten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes drohe. Dass er vor dieser durch den syrischen Staat stattfindenden Verfolgung den Schutz durch andere Akteure in Anspruch nehmen könnte, sei nicht ersichtlich. Es stehe dem Mitbeteiligten keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

9 Den Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision begründete das Bundesverwaltungsgericht ‑ unter Verweis darauf, dass es im Rahmen seiner inhaltlichen Erwägungen die maßgebliche Rechtsprechung zitiert habe ‑ damit, dass es sich „bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage“ habe stützen können.

10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erhobene Revision, die vom Bundesverwaltungsgericht samt den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt wurde. Vom Verwaltungsgerichtshof wurde das Vorverfahren eingeleitet. Es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

12 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl macht geltend, das Bundesverwaltungsgericht habe die es treffende Pflicht zur ordnungsgemäßen Begründung seiner Entscheidung verletzt. Es habe im angefochtenen Erkenntnis keine Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat getroffen. Hätte es das getan ‑ so das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit näherer Begründung, insbesondere unter Hinweis auf den in der Revision dargestellten Inhalt von vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderberichten ‑ wäre es zum Ergebnis gekommen, dass dem Mitbeteiligten der Status des Asylberechtigten nicht zuzuerkennen gewesen wäre. Im Besonderen ergebe sich aus den Berichten, dass der Mitbeteiligte seine Herkunftsregion, in der er jedenfalls keine asylrechtlich relevante Verfolgung zu befürchten habe, erreichen könne, ohne in Kontakt mit syrischen Behörden zu treten.

13 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.

14 Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

15 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht.

16 Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht.

17 Für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt es nicht bloß auf die tatsächliche politische Gesinnung an, auch die seitens der Verfolger dem Asylwerber unterstellte politische Gesinnung ist asylrechtlich relevant.

18 Im Fall der Behauptung einer asylrelevanten Verfolgung durch die Strafjustiz im Herkunftsstaat bedarf es einer Abgrenzung zwischen der legitimen Strafverfolgung („prosecution“) einerseits und der Asyl rechtfertigenden Verfolgung aus einem der Gründe des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK („persecution“) andererseits. Keine Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist im Allgemeinen in der staatlichen Strafverfolgung zu erblicken. Allerdings kann auch die Anwendung einer durch Gesetz für den Fall der Zuwiderhandlung angeordneten, jeden Bürger des Herkunftsstaates gleich treffenden Sanktion unter bestimmten Umständen „Verfolgung“ im Sinn der GFK aus einem dort genannten Grund sein; etwa dann, wenn das den nationalen Normen zuwiderlaufende Verhalten des Betroffenen im Einzelfall auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt.

19 Um feststellen zu können, ob die strafrechtliche Verfolgung wegen eines auf politischer Überzeugung beruhenden Verhaltens des Asylwerbers einer Verfolgung im Sinne der GFK gleichkommt, kommt es somit entscheidend auf die angewendeten Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung und die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an.

20 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes sowie der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar, sondern könnte nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes die Gewährung von Asyl rechtfertigen. Wie der Verwaltungsgerichtshof zur möglichen Asylrelevanz von Wehrdienstverweigerung näher ausgeführt hat, kann auch der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern und Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen ‑ wie etwa der Anwendung von Folter ‑ jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine „bloße“ Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (vgl. zum Ganzen VwGH 28.3.2023, Ra 2023/20/0027, mwN).

21 Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Asylstatus zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche „Vorverfolgung“ für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste. Relevant kann also nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Erlassung der Entscheidung vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der „Asylentscheidung“ immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. etwa VwGH 23.5.2023, Ra 2023/20/0110, mwN).

22 Nach der zu § 29 VwGVG ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat die Begründung einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts jenen Anforderungen zu entsprechen, die in der Rechtsprechung zu § 58 und § 60 AVG entwickelt wurden. Dies erfordert in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidung tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung selbst ergeben (vgl. VwGH 11.12.2023, Ra 2022/19/0209, mwN).

23 Im Hinblick auf die Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts wird der Anforderung, dass die maßgeblichen Erwägungen aus der Begründung der Entscheidung hervorgehen müssen, entsprochen, wenn dieser in den wesentlichen Punkten in der Begründung der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes wiedergegeben wird. Im Übrigen ist aber ein Verweis auf die Entscheidungsgründe des Bescheides der belangten Behörde zulässig (vgl. VwGH 18.9.2023, Ra 2021/14/0028, mwN).

24 Dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist zuzustimmen, dass das Bundesverwaltungsgericht für die Entscheidung maßgebliche Feststellungen nicht umfänglich getroffen hat.

25 Zunächst ist festzuhalten, dass das Bundesverwaltungsgericht dem Vorbringen des Mitbeteiligten, er habe bereits eine Einberufung zum syrischen Militär erhalten, die Glaubwürdigkeit versagt hat. Es hat infolge dessen keine dem diesbezüglichen ‑ betreffend die Behauptung einer Verfolgung wegen Wehrdienstverweigerung individuell auf dessen konkrete Person bezogenen ‑ Vorbringen des Mitbeteiligten entsprechende Feststellungen getroffen.

26 Die oben wiedergegebenen Feststellungen enthalten zwar kursorisch auch vereinzelte Feststellungen zur Situation in Syrien. In erster Linie handelt es sich aber bei den vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen nicht um die Wiedergabe von in der Vergangenheit geschehenen und aktuell bestehenden Tatsachen, sondern um aus den vorhandenen Beweismitteln gezogene (prognostische) Schlussfolgerungen. So hält das Bundesverwaltungsgericht fest, dass für den Mitbeteiligten im Fall der Rückkehr nach Syrien keine Möglichkeit bestünde, dem Wehrdienst zu entgehen, er keine Befreiungsmöglichkeit in Anspruch nehmen könne und er „sehr wahrscheinlich“ bereits bei der Einreise als Wehrdienstpflichtiger identifiziert und „allenfalls“ für kurze Zeit inhaftiert und dann eingezogen oder unmittelbar (gemeint: ohne vorherige Inhaftierung) eingezogen werden würde. Weiters wird angeführt, dass der Mitbeteiligte (gemeint: im Fall der Ableistung des Militärdienstes) als Angehöriger der syrischen Armee gezwungen wäre, zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen beizutragen. Würde er den Wehrdienst verweigern, würde ihm von der syrischen Regierung eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt werden. Ihm drohe „in diesem Fall“ die Verurteilung vor einem Feldgericht und die Exekution oder die Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Dort wäre er von Folter, Misshandlung und unmenschlicher Behandlung betroffen.

27 Aus welchem konkret gegebenen Sachverhalt das Bundesverwaltungsgericht diese Prognosen herleitet, lässt es allerdings im Dunkeln. Daran ändert auch nichts, dass im angefochtenen Erkenntnis im Rahmen der Beweiswürdigung kursorisch auf vereinzelte, in den Berichten zur Lage in Syrien enthaltene Sätze Bezug genommen wird.

28 Schon deshalb erweist sich die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts als mit einem relevanten Verfahrensmangel behaftet. Es ist dem Verwaltungsgerichtshof infolge des Fehlens von für die Entscheidung maßgeblichen Feststellungen nicht möglich, die angefochtene Entscheidung im gesetzlich gebotenen Maß der nachprüfenden Kontrolle zu unterziehen.

29 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich auch mit der von der Behörde angenommenen Möglichkeit, der Mitbeteiligte könne sich vom Militärdienst gegen die Zahlung einer Kompensation befreien lassen (vgl. zu diesem Thema VwGH 28.3.2023, Ra 2023/20/0027; 8.11.2023, Ra 2023/20/0520), nicht befasst und zudem keine Feststellungen getroffen, aus denen sich seine Annahme, eine Reise des Mitbeteiligten in seine Herkunftsregion könne nur über von der syrischen Regierung kontrolliertes Gebiet erfolgen, ableiten ließe. Die vom Bundesverwaltungsgericht getätigte Aussage, beides sei dem Mitbeteiligten nicht möglich, stützt sich letztlich auf einen nicht umfänglich festgestellten Sachverhalt.

30 Zutreffend macht das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl auch geltend, dass der vom Bundesverwaltungsgericht allein aufgrund der von ihm angenommenen ‑ aber nicht gesetzmäßig offengelegten ‑ allgemeinen Situation in Syrien gezogene Schluss in der von ihm vorgenommenen Weise nicht von den ins Verfahren eingeführten Berichten gedeckt ist.

31 Die vom Bundesverwaltungsgericht getätigte Aussage liefe darauf hinaus, dass jedem männlichen Syrer, der sich im wehrpflichtigen Alter befindet und den Militärdienst in Syrien noch nicht abgeleistet hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen wäre.

32 Diese Annahme lässt sich allerdings mit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht in Einklang bringen. Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich zur ‑ auch hier ‑ maßgeblichen Berichtslage festgehalten, dass sich aus den Länderberichten ein differenziertes Bild der Haltung des syrischen Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern ergibt und aus dieser Berichtslage nicht mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden kann, dass jedem den Militärdienst verweigernden Syrer eine oppositionelle Haltung unterstellt werde (vgl. VwGH 21.12.2023, Ra 2023/18/0077). Der Verwaltungsgerichtshof hat ferner bereits ausgeführt, nach dieser Berichtslage lasse sich gerade kein Automatismus dahingehend als gegeben annehmen, dass jedem im Ausland lebenden Syrer, der seinen Wehrdienst nicht abgeleistet hat, im Herkunftsstaat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt und deswegen eine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würde (vgl. VwGH 8.11.2023, Ra 2023/20/0520; in diesem Sinn auch VwGH 21.12.2023, Ra 2023/20/0173).

33 Nichts anderes gilt für die Frage, ob ein den Militärdienst ableistender syrischer Staatsangehöriger sich dazu gezwungen sähe, zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen beizutragen.

34 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung dargelegt, dass es in jedem Fall vor der Asylgewährung wegen behaupteter Wehrdienstverweigerung erforderlich ist, die drohenden Verfolgungshandlungen wegen dieses Verhaltens im Herkunftsstaat zu ermitteln und bejahendenfalls eine Verknüpfung zu einem der Verfolgungsgründe des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK bzw. Art. 10 Richtlinie 2011/95/EU  (Statusrichtlinie) herzustellen. Das hat ‑ was im Übrigen der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) entspricht ‑ auch im Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie Platz zu greifen. Allein deshalb, weil einem Wehrdienstverweigerer unter den Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie Bestrafung durch die Behörden seines Herkunftsstaates droht, kann die Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nicht als gegeben angesehen werden. Die Plausibilität der Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgründen ist nach Auffassung des EuGH von den zuständigen nationalen Behörden vielmehr in Anbetracht sämtlicher vom Asylwerber vorgetragenen Anhaltspunkte zu prüfen. Dabei spricht zwar eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 Statusrichtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht. Dies entbindet die Asylbehörde und das nachprüfende Verwaltungsgericht aber nicht von der erforderlichen Plausibilitätsprüfung (vgl. VwGH 4.7.2023, Ra 2023/18/0108, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH und des deutschen Bundesverwaltungsgerichts; vgl. weiters VwGH 31.1.2023, Ra 2022/20/0347, in diesem ebenfalls einen syrischen Staatsangehörigen betreffenden Fall hat der Verwaltungsgerichtshof ‑ unter Hinweis auf Vorjudikatur ‑ festgehalten, dass auch nach den Ausführungen in EuGH 19.11.2020, C‑238/19 , [weiterhin] eine auf den Einzelfall bezogene Beurteilung unverzichtbar ist; vgl. zur Notwendigkeit, den Bedarf an asylrechtlichem Schutz ‑ im Besonderen auch in Bezug auf das Vorliegen eines kausalen Zusammenhangs mit einem in der GFK genannten Grund ‑ in jenem Fall, in dem ein syrischer Staatsangehöriger es ablehnt, in Syrien Militärdienst zu leisten, einer individuellen Prüfung zu unterziehen, aus jüngerer Zeit etwa VwGH 18.1.2024, Ra 2023/19/0496; 2.2.2024, Ra 2023/14/0207; 14.12.2023, Ra 2023/19/0144; 20.12.2023, Ra 2023/20/0415; 19.12.2023, Ra 2023/19/0073; 12.12.2023, Ra 2022/19/0281; 29.12.2023, Ra 2023/19/0258).

35 Anders als das Bundesverwaltungsgericht meint, kann mithin nicht schon allein aus der ‑ von ihm in das Verfahren eingeführten und von der revisionswerbenden Behörde angesprochenen ‑ hier gegebenen Berichtslage zur Situation in Syrien abgeleitet werden, dass jedem syrischen Staatsangehörigen, der ankündigt, den Militärdienst nicht ableisten zu wollen, im Heimatland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung drohte. Es bedarf sohin unter Bedachtnahme auf die Verhältnisse in diesem Land immer einer Beurteilung unter Einbeziehung aller konkreten Umstände des Einzelfalls, ob im Fall der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes eine Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus asylrechtlich relevanten Gesichtspunkten droht. Da nach der Rechtsprechung die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung nicht genügt, ist es für die Gewährung von Asyl nicht ausreichend, derselben eine bloß theoretisch denkbare Möglichkeit eines Verfolgungsszenarios zugrunde zu legen (vgl. VwGH 13.6.2023, Ra 2023/20/0195, mwN). Das hat das Bundesverwaltungsgericht ebenfalls verkannt.

Es ist für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten für sich genommen auch nicht ausreichend, wenn der asylwerbende Fremde ‑ wie hier der Mitbeteiligte, der in der Verhandlung angegeben hat, dass er keine Waffe tragen und keine Menschen töten wolle ‑ Gründe, warum er den Militärdienst nicht ableisten möchte, ins Treffen führt, die Ausdruck einer politischen oder religiösen Gesinnung sein können. Nach der oben wiedergegebenen Rechtsprechung müssen nämlich, damit der Status des Asylberechtigten zuerkannt werden kann, die Verfolgungshandlungen aus asylrechtlich relevanten Gesichtspunkten drohen. Dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen stehen muss, ergibt sich schon aus der Definition des Flüchtlingsbegriffs in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wonach als Flüchtling im Sinn dieses Abkommens anzusehen ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, „aus Gründen“ (Englisch: „for reasons of“; Französisch: „du fait de“) der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen. Auch Art. 9 Abs. 3 Statusrichtlinie verlangt eine Verknüpfung zwischen den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen einerseits und den Verfolgungsgründen andererseits (vgl. etwa VwGH 23.2.2016, Ra 2015/20/0113; 13.1.2015, Ra 2014/18/0140, jeweils mwN). Dafür reicht es zwar nach der jüngeren Ansicht des UNHCR aus, dass der Konventionsgrund ein maßgebender beitragender Faktor ist und er nicht als einziger oder überwiegender Grund für die Verfolgung oder das Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen nachgewiesen werden muss (vgl. auch dazu VwGH Ra 2015/20/0113 sowie Ra 2014/18/0140). Das bedeutet aber nicht, dass für die Gewährung von Asyl auf die Prüfung eines kausalen Zusammenhanges zwischen der Verfolgungshandlung (oder dem Fehlen von Schutz vor Verfolgung) und einem Verfolgungsgrund im Sinn der GFK verzichtet werden könnte (vgl. zum Fehlen eines solchen kausalen Zusammenhanges etwa VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0336 bis 0341, mwN, wonach eine nur auf kriminellen Motiven beruhende Verfolgung keinem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründe zugeordnet werden kann und eine allein auf einem solchen Grund beruhende Verfolgung die Asylgewährung nicht zu rechtfertigen vermag).

36 Der Verwaltungsgerichtshof hat im Zusammenhang mit syrischen Staatsangehörigen, die ihren Militärdienst nicht abgeleistet haben, zudem bereits darauf hingewiesen, dass dem Schutz vor (mit realem Risiko drohenden) willkürlichen Zwangsakten bei Fehlen eines kausalen Konnexes zu einem in der GFK genannten Grund die ‑ dem Mitbeteiligten ohnedies zuteil gewordene ‑ Gewährung subsidiären Schutzes dient (vgl. VwGH 23.5.2023, Ra 2023/20/0110).

37 Das angefochtene Erkenntnis leidet somit an Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und an Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Es war daher aus dem (vorrangig wahrzunehmenden) erstgenannten Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 28. Februar 2024

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