VwGH Ra 2022/21/0093

VwGHRa 2022/21/009326.7.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr.in Wiesinger als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. März 2022, W180 2240292‑1/45E, W180 2240293‑1/31E und W180 2240291‑1/27E, betreffend Abschiebung (mitbeteiligte Parteien: 1. N T, 2. T T und 3. L T, alle vertreten durch Mag. Wilfried Embacher, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8),

Normen

AsylG 2005 §55
AVG §56
BFA-VG 2014 §14
BFA-VG 2014 §7 Abs1 Z3
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BuLVwG-EGebV 2015 §1 Abs2
B-VG Art130 Abs1 Z2
B-VG Art130 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FrPolG 2005 §13 Abs2
FrPolG 2005 §46
FrPolG 2005 §46 Abs1 Z2
FrPolG 2005 §52
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §60 Abs3
FrPolG 2005 §76
MRK Art8
VwGG §12 Abs1 Z2
VwGG §34 Abs1
VwGG §36 Abs1
VwGG §42 Abs4
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §35
VwGVG 2014 §35 Abs4 Z1
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022210093.L00

 

Spruch:

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Spruchpunkte A.I. und A.II des angefochtenen Erkenntnisses richtet, zurückgewiesen.

II. zu Recht erkannt:Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 4 VwGG in seinem ebenfalls bekämpften Spruchpunkt A.III. dahin abgeändert, dass dieser nunmehr zu lauten hat:

„A.III. Gemäß § 35 VwGVG hat der Bund den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 767,60 (insgesamt somit € 2.302,80) binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.“

Begründung

1 Die 1983 geborene Erstmitbeteiligte ist die Mutter der am 13. August 2008 geborenen Zweitmitbeteiligten und der am 11. November 2015 geborenen Drittmitbeteiligten; alle sind georgische Staatsangehörige. Die Erstmitbeteiligte hielt sich ab dem Jahr 2006 zunächst als „Au‑pair‑Kraft“ in Österreich auf, wo beide Töchter geboren wurden.

2 Nach zwei erfolglosen Asylverfahren kehrten die Erst‑ und Zweitmitbeteiligte im Jahr 2012 in Befolgung der gegen sie in diesen Verfahren erlassenen Ausweisungen freiwillig nach Georgien zurück. Nach ihrer Wiedereinreise im August 2014 stellte die Erstmitbeteiligte für sich und die Zweitmitbeteiligte sowie nach der Geburt der Drittmitbeteiligten auch für diese wiederholt Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Die letzten derartigen Anträge wurden vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im Beschwerdeweg ‑ in Verbindung mit der Erlassung von Rückkehrentscheidungen ‑ mit Erkenntnis vom 23. September 2019 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Eine dagegen erhobene Revision wurde vom Verwaltungsgerichtshof mit dem Beschluss VwGH 18.12.2019, Ra 2019/14/0542 bis 0544, mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung iSd Art. 133 Abs. 4 B‑VG zurückgewiesen.

3 Nach mehreren Versuchen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA), die Rückkehrentscheidungen durch Abschiebung durchzusetzen, kam es am 28. Jänner 2021 zur verfahrensgegenständlichen Abschiebung der Mitbeteiligten nach Georgien.

4 In Stattgebung einer dagegen erhobenen Maßnahmenbeschwerde erließ das BVwG das angefochtene Erkenntnis vom 18. März 2022, mit dem die am 28. Jänner 2021 vorgenommene Abschiebung der Mitbeteiligten nach Georgien für rechtswidrig erklärt wurde (Spruchpunkt A.I.). Demzufolge wies es den Antrag des BFA auf Kostenersatz gemäß § 35 VwGVG ab (Spruchpunkt A.II.) und verpflichtete gemäß § 35 Abs. 1 und 2 VwGVG iVm § 1 Z 1 VwG‑AufwErsV den Bund, den Mitbeteiligten Aufwendungen (den pauschalierten Schriftsatzaufwand) in der Höhe von jeweils € 737,60 (insgesamt somit € 2.212.80) zu ersetzen (Spruchpunkt A.III.). Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision des BFA, die sich ‑ wie die nachstehenden Ausführungen zeigen ‑ hinsichtlich der Bekämpfung der Spruchpunkte A.I. und A.II. unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B‑VG als unzulässig erweist.

6 Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

7 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).

8 Vorauszuschicken ist, dass es auch nach der (seit 1. Jänner 2014) geltenden Rechtslage zulässig ist, im Wege einer Beschwerde gegen Maßnahmen unmittelbarer Befehls‑ und Zwangsgewalt die Rechtmäßigkeit einer Abschiebung durch das BVwG prüfen zu lassen. Bei dieser Beurteilung ist auf den Zeitpunkt des Vollzugs der Abschiebung abzustellen (vgl. VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0179 bis 0182, Rn. 14, mit dem Hinweis auf VwGH 29.6.2017, Ra 2017/21/0089, Rn. 8, mwN).

9 Gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 FPG sind Fremde, gegen die (u.a.) eine Rückkehrentscheidung durchsetzbar ist, von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Auftrag des BFA zur Ausreise zu verhalten (= Abschiebung), wenn sie ihrer Verpflichtung zur Ausreise nicht zeitgerecht nachgekommen sind. Es ist Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass eine Rückkehrentscheidung ihre Wirksamkeit verliert, wenn sich die Beurteilungsgrundlagen im Hinblick auf die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK iVm § 9 Abs. 2 BFA‑VG maßgeblich zu Gunsten des Fremden geändert haben (siehe dazu im Zusammenhang mit Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung etwa VwGH 8.4.2021, Ra 2021/21/0005, Rn. 14, und im Zusammenhang mit einer Bestrafung wegen unterlassener Ausreise VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0172, Rn. 11). Eine Rückkehrentscheidung wird somit wirkungslos, wenn eine Neubeurteilung zum Ergebnis führt, dass die privaten Interessen des Fremden am Verbleib in Österreich nunmehr die entgegenstehenden öffentlichen Interessen an seiner Außerlandesbringung überwiegen; wenn sich die Situation also so darstellt, dass ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen wäre und die Rückkehrentscheidung damit gemäß § 60 Abs. 3 FPG gegenstandslos würde (vgl. VwGH 25.3.2021, Ra 2020/21/0285, Rn. 14, mwN). Ist dies der Fall, fehlt die für eine Abschiebung fallbezogen erforderliche Voraussetzung des Vorliegens einer durchsetzbaren Rückkehrentscheidung.

10 Im Übrigen hat der Verwaltungsgerichtshof aber auch schon klargestellt, dass § 46 FPG selbst bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen keine unbedingte Abschiebeverpflichtung vorsieht, sondern die Abschiebung in behördliches Ermessen stellt (vgl. etwa VwGH 20.10.2011, 2010/21/0056, mwN). Eine Abschiebung unterliegt überdies dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgebot nach § 13 Abs. 2 FPG (vgl. VwGH 29.6.2017, Ra 2017/21/0089, Rn. 9, mwN). Danach ist unter anderem Art. 8 EMRK in jedem Stadium einer fremdenpolizeilichen Amtshandlung besonders zu beachten, was sich im Übrigen auch aus § 14 BFA‑VG ergibt.

11 Im vorliegenden Fall war somit entscheidend, ob sich die für die zu Lasten (insbesondere auch) der Zweitmitbeteiligten bei Erlassung der Rückkehrentscheidung vom 23. September 2019 nach Art. 8 EMRK iVm § 9 Abs. 2 BFA‑VG vorgenommene Interessenabwägung maßgeblichen Kriterien seither derart geändert haben, dass die Rückkehrentscheidung ihre Wirksamkeit verloren hatte und die Abschiebung am 28. Jänner 2021 schon deshalb rechtswidrig war, oder ob sie sich zumindest in einem Ausmaß geändert hatten, dass die Abschiebung als unverhältnismäßig angesehen und deshalb von ihr Abstand genommen hätte werden müssen.

12 Fallbezogen ist in Bezug auf diese Kriterien einerseits auf § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG und die dazu ergangene Rechtsprechung zu verweisen, wonach bei der Gewichtung der für den Fremden sprechenden Umstände maßgeblich relativierend einbezogen werden dürfe, ob sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Wenngleich minderjährigen Kindern dieser Vorwurf nicht zu machen ist, müsse das Bewusstsein der Eltern über die Unsicherheit ihres Aufenthalts auch auf die Kinder durchschlagen, wobei diesem Umstand allerdings bei ihnen im Rahmen der Gesamtabwägung im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht zukommt (siehe zum Ganzen etwa VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205 bis 0210, Rn. 16, mwN). Andererseits sind nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Rahmen der Abwägung gemäß § 9 BFA‑VG bei einer Rückkehrentscheidung, von der Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, „die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder“, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. dazu beispielsweise auch VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205 bis 0210, nunmehr Rn. 18, u.a. mit dem Hinweis auf VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072, Rn. 28, wo auf entsprechende Judikatur des EGMR Bezug genommen wurde). In diesem Sinn ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der Abwägung der wechselseitigen Interessen das Kindeswohl „gebührend“ zu berücksichtigen (vgl. VwGH 15.3.2022, Ra 2021/21/0286, Rn. 14, mwN).

13 Vor diesem rechtlichen Hintergrund lassen sich die widerstreitenden Standpunkte des BFA und der Mitbeteiligten im Beschwerdeverfahren im Wesentlichen auf die Frage zusammenfassen, ob das grob missbräuchliche fremdenrechtliche Fehlverhalten der Erstmitbeteiligten ‑ insbesondere wiederholte Asylantragstellungen und diverse Vereitelungshandlungen zur Verhinderung der Abschiebung ‑ im Zeitpunkt der Abschiebung noch immer maßgeblich auf die in Österreich geborene, mittlerweile zwölfeinhalbjährige Zweitmitbeteiligte durchschlägt oder in einer solchen Situation fallbezogen nunmehr doch dem Kindeswohl höheres Gewicht zukommt. Die Modalitäten der Abschiebung waren ‑ wie an dieser Stelle klarzustellen ist ‑ nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens.

14 Das BVwG kam diesbezüglich im angefochtenen Erkenntnis zu dem Ergebnis, dass sich seit der Erlassung der Rückkehrentscheidung vom 23. September 2019 in Bezug auf die Zweitmitbeteiligte die Sachlage derart maßgeblich geändert habe, dass im Zeitpunkt der Abschiebung „nicht ausreichend gesichert“ gewesen sei, ob die Rückkehrentscheidung noch wirksam war. Diese Annahme gründete das BVwG einerseits darauf, dass seither sechzehn Monate vergangen waren und sich die Zweitmitbeteiligte in diesem Zeitraum weiter integriert und sozialisiert habe, sowie andererseits auch darauf, dass sie sich ‑ anders als zum Zeitpunkt der Erlassung der Rückkehrentscheidung ‑ nicht mehr in einem „anpassungsfähigen Alter“ befunden habe. Die der Rückkehrentscheidung zugrundeliegenden Überlegungen unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK hätten somit im Hinblick auf das Kindeswohl der Zweitmitbeteiligten nicht mehr die erforderliche Aktualität aufgewiesen. Ihre Abschiebung habe sich sohin als unverhältnismäßig und damit als rechtswidrig erwiesen. Im Hinblick auf die Wahrung der Familieneinheit schlage dies auch auf die Abschiebung der Erst‑ und Drittmitbeteiligten durch.

15 In der dagegen erhobenen Amtsrevision vertritt das BFA unter Bezugnahme auf zahlreiche Judikaturzitate den gegenteiligen Standpunkt, wonach ‑ auf das Wesentliche zusammengefasst ‑ das fremdenrechtliche Fehlverhalten der Erstmitbeteiligten so gravierend gewesen sei, dass den öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung sämtlicher Mitbeteiligten ein größeres Gewicht zuzumessen sei. Im Übrigen fehle „ausdrückliche“ Rechtsprechung zur Frage, ob eine Abschiebung für rechtswidrig zu erklären sei, weil (bloß) nicht ausreichend gesichert sei, ob die Rückkehrentscheidung noch wirksam sei, ohne dass das BVwG die Wirksamkeit selbst abschließend beurteilt. Schließlich fehle Rechtsprechung zur Frage, ob die Rechtswidrigkeit der Abschiebung der Zweitmitbeteiligten „automatisch“ auch die Rechtswidrigkeit der Abschiebung der Erst‑ und Drittmitbeteiligten nach sich ziehe, obwohl keine Familientrennung erfolgt sei.

16 Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG (vgl. beispielsweise, auch eine Amtsrevision des BFA betreffend, VwGH 12.11.2019, Ra 2019/21/0096, Rn. 9, mwN). Demzufolge hängt auch die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach § 9 BFA‑VG vorzunehmenden Gesamtbetrachtung von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. VwGH 8.9.2021, Ra 2021/20/0166 bis 0170, Rn. 18). Das gilt sinngemäß auch für die mit der Interessenabwägung im Zusammenhang stehende (siehe dazu Rn. 11) Frage der Verhältnismäßigkeit einer Abschiebung (vgl. zur Verhältnismäßigkeit von Schubhaft etwa VwGH 21.12.2021, Ra 2019/21/0411, Rn. 11, mwN). Wie auch bei anderen einzelfallbezogenen Beurteilungen läge eine grundsätzliche Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nur dann vor, wenn diese Einschätzung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Weise, also krass fehlerhaft, vorgenommen worden wäre (vgl. VwGH 11.5.2017, Ro 2017/21/0006, Rn. 10, mwN, und darauf verweisend VwGH 27.4.2020, Ra 2020/21/0121, Rn. 7, mwN). Dies ist hier nicht der Fall, sodass sich die Revision insoweit als unzulässig erweist.

17 Angesichts der Geburt der im Zeitpunkt der Abschiebung schon zwölfeinhalbjährigen Zweitmitbeteiligten in Österreich, der Dauer des Inlandsaufenthalts von insgesamt mehr als zehn Jahren und ihrer ‑ vom BVwG festgestellten, in der Amtsrevision ausdrücklich nicht bestrittenen ‑ hervorragenden (auch schulischen) Integration, war es nämlich entgegen der Meinung in der Amtsrevision nicht unvertretbar, dass das BVwG die Interessenabwägung, insbesondere auch vor dem Hintergrund des fallbezogen vertretbar angenommenen nunmehrigen Überschreitens des anpassungsfähigen Alters der Zweitmitbeteiligten, zu ihren Gunsten vornahm und dabei die im Vorschulalter erfolgte Unterbrechung des Inlandsaufenthaltes im Ergebnis als nicht mehr maßgeblich erachtete. Nicht unvertretbar war aber auch die weitere Schlussfolgerung, seit der Erlassung der Rückkehrentscheidung vom 23. September 2019 habe sich die Sachlage derart entscheidend geändert, dass im Zeitpunkt der Abschiebung „nicht ausreichend gesichert“ gewesen sei, ob die gegen die Zweitmitbeteiligte erlassene Rückkehrentscheidung noch wirksam war, und dass deshalb die Abschiebung als unverhältnismäßig zu qualifizieren sei.

18 Entgegen der Meinung in der Amtsrevision hielt sich das BVwG damit im Rahmen der bisher ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Der Gerichtshof hat nämlich im Erkenntnis VwGH 23.1.2020, Ra 2019/21/0250, in Rn. 15 auch darauf abgestellt, dass unter den dort gegebenen fallbezogenen Besonderheiten „letztlich nicht ausreichend gesichert war, dass ... die schon bestehende Rückkehrentscheidung noch wirksam war“, und deshalb die dort bekämpfte Abschiebung als unverhältnismäßig angesehen. Das lässt sich auch auf den vorliegenden Fall übertragen, in dem das BVwG ebenfalls davon ausging, die Abschiebung der Zweitmitbeteiligten sei wegen der nicht gesicherten weiteren Wirksamkeit der gegen sie im September 2019 erlassenen Rückkehrentscheidung unverhältnismäßig. Diese Auffassung war aber ‑ wie erwähnt ‑ gemessen an den besonderen Umständen dieses Falles nicht unvertretbar.

19 Auch wenn das BVwG ‑ wie dem BFA einzuräumen ist ‑ in Anbetracht des fortgesetzten massiven fremdenrechtlichen Fehlverhaltens der Erstmitbeteiligten vertretbar auch zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, reicht dies am Maßstab der in Rn. 16 referierten Judikatur für die Zulässigkeit der Amtsrevision und somit für ein Aufgreifen des vom BVwG entschiedenen Einzelfalls durch den Verwaltungsgerichtshof nicht aus, weil die bekämpfte Entscheidung jedenfalls nicht „krass fehlerhaft“ war.

20 Das BVwG legte seiner Entscheidung zugrunde, dass als Folge der Rechtswidrigkeit der Abschiebung der Zweitmitbeteiligten im Hinblick auf die Wahrung der Familieneinheit auch die Abschiebung der Erst‑ und Drittmitbeteiligten rechtswidrig gewesen sei. Vor dem in der Revision nicht in Frage gestellten Hintergrund, dass bei den seinerzeitigen Rückkehrentscheidungen gegen die Erst‑ und Drittmitbeteiligte von der Prämisse ausgegangen wurde, es erfolge dadurch kein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens, ist diese Beurteilung nicht zu beanstanden (vgl. in diesem Sinn zu Rückkehrentscheidungen VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0251 bis 0256, Rn. 22; VwGH 26.1.2017, Ra 2016/21/0305 bis 0310, Rn. 22, mwN). Im Übrigen wird in der Amtsrevision ausdrücklich zugestanden, dass im vorliegenden Fall eine Trennung der von der Abschiebung betroffenen Familienangehörigen nicht zulässig gewesen wäre. War daher die Abschiebung der Zweitmitbeteiligten nicht zulässig, so hätten auch die anderen Mitbeteiligten, deren Mutter und jüngere Schwester, nicht abgeschoben werden dürfen. Ausgehend davon war es daher rechtskonform, dass das BVwG auch die Abschiebung der Erst‑ und Drittmitbeteiligten für rechtswidrig erklärte.

21 In der Revision werden sohin zu Spruchpunkt A.I. und zu der darauf aufbauenden Kostenentscheidung in Spruchpunkt A.II. des angefochtenen Erkenntnisses keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zu diesen Spruchpunkten gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren mit Beschluss in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 1 lit. a VwGG gebildeten Dreiersenat zurückzuweisen.

22 Allerdings weist das BFA in der (insoweit zugunsten der Mitbeteiligten erhobenen) Amtsrevision zutreffend darauf hin, dass beim Zuspruch von Aufwandersatz in Spruchpunkt A.III. des angefochtenen Erkenntnisses der den Mitbeteiligten als obsiegende Parteien auch gebührende Ersatz der Eingabegebühr, der vom allgemeinen Antrag in der Beschwerde auf Ersatz der Verfahrenskosten umfasst war, zu Unrecht nicht berücksichtigt worden sei. Dazu kann gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Ausführungen im Erkenntnis VwGH 28.5.2020, Ra 2019/21/0336, Rn. 29, verwiesen werden. Da die Gebührenschuld für Eingaben gemäß § 1 Abs. 2 BuLVwG‑EGebV bereits im Zeitpunkt der Einbringung der Eingabe entsteht und im Übrigen laut Auskunft des BVwG der Betrag von 90 € (3x30 €) als Eingabengebühr auch eingezogen wurde, war der Revision in diesem Umfang Folge zu geben, wobei gemäß § 42 Abs. 4 VwGG in der Sache selbst ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat ‑ entschieden werden konnte. Insoweit bedurfte es auch nicht der Einleitung des Vorverfahrens nach § 36 Abs. 1 VwGG, weil die Mitbeteiligten durch die vorgenommene Änderung des Kostenzuspruchs nicht in Rechten verletzt sein können.

Wien, am 26. Juli 2022

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte