VwGH Ra 2020/21/0285

VwGHRa 2020/21/028525.3.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Mai 2020, L516 2133781‑5/5E, L516 2133783‑5/5E, betreffend Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (mitbeteiligte Parteien: 1. T G alias G, und 2. N G, beide vertreten durch Dr. Eva Jana Messerschmidt, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Salztorgasse 2/6), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §55
AVG §66 Abs4
AVG §68 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs1 Z1
FrPolG 2005 §52 Abs9
FrPolG 2005 §60 Abs3
MRK Art3
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §24 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §28 Abs3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210285.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Die Erstmitbeteiligte ist die Mutter des Zweitmitbeteiligten. Beide sind georgische Staatsangehörige und reisten im Oktober 2015 gemeinsam mit ihrem Ehemann bzw. Vater, ebenfalls ein georgischer Staatsangehöriger, nach Österreich ein. Sie brachten Anträge auf internationalen Schutz mit der Begründung ein, dass der Ehemann bzw. Vater an Multipler Sklerose erkrankt sei. Die Anträge aller drei Familienmitglieder wurden mit im Beschwerdeweg ergangenem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. April 2018 vollumfänglich abgewiesen; unter einem wurden Rückkehrentscheidungen erlassen, und es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG jeweils die Zulässigkeit der Abschiebung nach Georgien festgestellt.

2 Die mitbeteiligten Parteien wurden am 24. August 2018 ohne ihren Ehemann bzw. Vater, der vom Amtsarzt unmittelbar davor als fluguntauglich eingestuft worden war, abgeschoben. Nach ihrer neuerlichen Einreise nach Österreich stellten sie am 10. September 2018 Folgeanträge auf internationalen Schutz. Diese wurden mit im Beschwerdeweg ergangenem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Juni 2019 hinsichtlich der Zuerkennung von Asyl zurückgewiesen und hinsichtlich der Zuerkennung von subsidiärem Schutz abgewiesen. Gleichzeitig sprach das Bundesverwaltungsgericht in diesem Erkenntnis aus, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 3 BFA‑VG vorübergehend unzulässig sei. Dies wurde damit begründet, dass die Abschiebbarkeit des nach wie vor in Österreich in medizinischer Behandlung befindlichen Ehemannes bzw. Vaters vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) noch nicht geklärt sei. Es sei keine ausreichende Rechtfertigung zu erkennen, warum öffentliche Interessen es zwingend erfordern würden, dass die Mitbeteiligten getrennt von ihrem Ehemann bzw. Vater Österreich verlassen müssten, auch wenn dieser bis dato nicht über ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht verfüge. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sei daher bis zum Vorliegen einer etwaigen tatsächlichen Abschiebbarkeit des Ehemannes bzw. Vaters im gemeinsamen Familienverband mit den mitbeteiligten Parteien vorübergehend unzulässig.

3 Mit Bescheid des BFA vom 7. Februar 2020 wurde den mitbeteiligten Parteien ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen nicht erteilt (Spruchpunkt I.); unter einem wurde gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG eine Rückehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Georgien zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt IV.).

4 In der Begründung führte das BFA aus, dass die Abschiebbarkeit des Ehemannes bzw. Vaters der mitbeteiligten Parteien nunmehr zu bejahen sei. Die aktuellen ärztlichen Befunde seien dem chefärztlichen Dienst übermittelt worden, der mitgeteilt habe, dass eine Charterabschiebung möglich sei.

5 Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis statt, indem es den Bescheid „gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 68 AVG“ ersatzlos aufhob.

6 Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass die gegen den Ehemann bzw. Vater der mitbeteiligten Parteien erlassene Rückkehrentscheidung vom 9. April 2018 bisher nicht vollzogen worden sei. Er werde nach wie vor in Österreich wegen seiner Erkrankung an Multipler Sklerose behandelt. Im September 2019 sei die Medikation verändert worden, weil sich sein Gesundheitszustand verschlechtert habe. Für die Behandlung mit dem neuen Medikament seien weiterhin Laboruntersuchungen und klinische Kontrollen notwendig. Die Kosten der Medikamente, die sich in Georgien auf umgerechnet knapp € 1.000,‑ ‑ im Monat belaufen würden, würden von der staatlichen Krankenversicherung in Georgien nicht gedeckt.

7 In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht aus, mit Erkenntnis vom 5. Juni 2019 sei ausgesprochen worden, dass die Rückkehrentscheidung gegen die Mitbeteiligten bis zum Vorliegen einer etwaigen tatsächlichen Abschiebbarkeit des Ehemannes bzw. Vaters vorübergehend unzulässig sei. Dieser sei bis jetzt nicht abgeschoben, sondern weiterhin in Österreich wegen seiner Erkrankung an Multipler Sklerose behandelt worden. Auf Grund der zwischenzeitlich somit mehr als zweijährigen medizinischen Behandlung und der im September 2019 angesichts seiner gesundheitlichen Verschlechterung erforderlich gewordenen Medikation hätten sich die Umstände mittlerweile dergestalt geändert, dass die am 9. April 2018 gegen ihn ausgesprochene Rückkehrentscheidung nicht mehr aufrecht sei, sondern ihre Wirksamkeit verloren habe und eine Neubeurteilung aus dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK geboten sei. Damit sei auch die Abschiebbarkeit weiterhin nicht geklärt. Gegenüber dem Erkenntnis vom 5. Juni 2019, mit dem die vorübergehende Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung gegenüber den mitbeteiligten Parteien festgestellt worden sei, habe sich somit der entscheidungswesentliche Sachverhalt nicht geändert. Der Erlassung von Rückkehrentscheidungen gegen die Mitbeteiligten stehe daher das Hindernis der entschiedenen Sache entgegen.

8 Die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG entfallen können, weil bereits auf Grund der Aktenlage feststehe, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben sei.

9 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision des BFA hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem die Mitbeteiligten eine Revisionsbeantwortung erstatteten, erwogen:

10 Die Revision ist zulässig und ‑ wie im Folgenden zu zeigen sein wird ‑ berechtigt, weil das Bundesverwaltungsgericht ‑ wie in der Revision aufgezeigt wird ‑ auf Basis seiner Feststellungen zu Unrecht von einer Wirkungslosigkeit der gegenüber dem Ehemann bzw. Vater der Mitbeteiligten erlassenen Rückkehrentscheidung aus dem Jahr 2018 und von einem gegenüber dem die vorübergehende Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung hinsichtlich der Mitbeteiligten feststellenden Erkenntnis vom 5. Juni 2019 unveränderten maßgeblichen Sachverhalt ausgegangen ist.

11 Im zuletzt genannten Erkenntnis hatte das Bundesverwaltungsgericht ausgesprochen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen die mitbeteiligten Parteien vorübergehend, und zwar solange ihr Ehemann bzw. Vater nicht gemeinsam mit ihnen abgeschoben werden könne, unzulässig sei. Diese Entscheidung war also von vornherein unter dem Vorbehalt zu sehen, dass eine Neubeurteilung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung zu erfolgen hat, sobald die Abschiebung des Ehemannes bzw. Vaters auf Basis der gegen ihn ergangenen Rückkehrentscheidung möglich ist. Dabei ging es um die Durchführbarkeit einer solchen Abschiebung (die „tatsächliche Abschiebbarkeit“), und zwar vor dem Hintergrund des zugrunde liegenden Sachverhalts insbesondere um die medizinische Vertretbarkeit einer Flugreise, die vom Amtsarzt im August 2018 verneint worden war; dass einer ‑ die Grundlage der Abschiebung bildenden ‑ Rückkehrentscheidung Verletzungen des Art. 3 oder 8 EMRK wegen der den Ehemann bzw. Vater erwartenden Rückkehrsituation im Herkunftsland entgegenstünden, war demgegenüber schon mit der rechtskräftigen Erlassung einer Rückkehrentscheidung mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. April 2018 verneint worden.

12 Das BFA ging im erstinstanzlichen Bescheid vom 7. Februar 2020 von einem im Vergleich zum Erkenntnis vom 5. Juni 2019 geänderten Sachverhalt aus, da die Abschiebbarkeit des Ehemannes bzw. Vaters der mitbeteiligten Parteien in Vollziehung der Rückkehrentscheidung vom 9. April 2018 nunmehr zu bejahen sei; die rezent vorgelegten ärztlichen Befunde seien dem chefärztlichen Dienst übermittelt worden, der mitgeteilt habe, dass eine Charterabschiebung aktuell möglich sei. Warum das Bundesverwaltungsgericht diese Beweiswürdigung nicht geteilt hat, wurde im angefochtenen Erkenntnis nicht dargelegt.

13 Dies hielt es offenbar nicht für notwendig, weil es die Abschiebbarkeit des Ehemannes bzw. Vaters aus einem anderen Grund ‑ der mittlerweile eingetretenen Wirkungslosigkeit der gegen ihn erlassenen Rückkehrentscheidung ‑ verneinte. Begründet wurde das mit der „zwischenzeitlich mehr als zweijährigen medizinischen Behandlung“ und der im September 2019 auf Grund der (allerdings nicht näher dargestellten) gesundheitlichen Verschlechterung erforderlich gewordenen Änderung der Medikation. Dies erfordere eine Neubeurteilung aus dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK, womit auch die Abschiebbarkeit weiterhin nicht geklärt sei.

14 Die bloße Erforderlichkeit einer Neubeurteilung führt aber noch nicht dazu, dass die Rückkehrentscheidung schon wirkungslos wird. Dies wäre erst dann der Fall, wenn die Neubeurteilung tatsächlich durchgeführt worden wäre und zum Ergebnis geführt hätte, dass die privaten Interessen des Fremden am Verbleib in Österreich nunmehr die entgegenstehenden öffentlichen Interessen an seiner Außerlandesbringung überwiegen; wenn sich die Situation also so darstellt, dass ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen wäre und die Rückkehrentscheidung damit gemäß § 60 Abs. 3 FPG gegenstandslos würde (vgl. in diesem Sinn etwa VwGH 20.10.2016, Ra 2015/21/0091, Ro 2015/21/0031, Rn. 11, mwN) oder dass zumindest gemäß § 9 Abs. 3 BFA‑VG die vorübergehende Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung festzustellen wäre. Das vom Bundesverwaltungsgericht zitierte Erkenntnis VwGH 23.1.2020, Ra 2019/21/0356, nach dem ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht erst dann vorliege, wenn er auch konkret dazu führe, dass nunmehr der begehrte Aufenthaltstitel (aus Gründen des Art. 8 EMRK) erteilt werden müsste, sondern nur dann nicht gegeben sei, wenn die geltend gemachten Umstände von vornherein keine solche Bedeutung aufwiesen, die eine Neubeurteilung aus dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK gebiete, bezog sich hingegen auf die Voraussetzungen einer Antragszurückweisung gemäß § 58 Abs. 10 AsylG 2005, das heißt auf die Frage, ob in einem Aufenthaltstitelverfahren überhaupt eine inhaltliche Prüfung des Antrags stattzufinden hat.

15 Die Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts, aus denen es selbst ‑ wie aus seinen Formulierungen zu schließen ist ‑ nur die Notwendigkeit einer Neubeurteilung abgeleitet hat, sind demnach unzureichend, um von der Wirkungslosigkeit der Rückkehrentscheidung ausgehen zu können. Vielmehr müsste das Bundesverwaltungsgericht (sofern nicht eine Zurückverweisung an das BFA gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG in Betracht gezogen wird) diese als notwendig erachtete Neubeurteilung ‑ als Voraussetzung für die nunmehrige Zulässigkeit der Rückkehrentscheidungen gegenüber den Mitbeteiligten ‑ im Rahmen einer Vorfragenbeurteilung selbst vornehmen und dazu zweckmäßigerweise auch eine mündliche Verhandlung abhalten (vgl. zu den maßgeblichen Gesichtspunkten bei der Interessenabwägung in Zusammenhang mit einer in Österreich durchgeführten Krankenbehandlung etwa VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0026, Rn. 14 bis 16, mwN). Für den Fall, dass die Rückkehrentscheidung gegenüber dem Ehemann bzw. Vater nicht unwirksam geworden ist, weil nach wie vor seine privaten Interessen nicht das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen, wäre in einem nächsten Schritt ‑ in Auseinandersetzung mit den diesbezüglichen Beweisergebnissen des BFA und allenfalls unter Beiziehung eines medizinischen Sachverständigen ‑ zu klären, ob der Gesundheitszustand des Ehemannes bzw. Vaters mittlerweile eine Flugabschiebung zulässt. Wenn diese Frage zu verneinen wäre, läge tatsächlich ein gegenüber dem Erkenntnis vom 5. Juni 2019 unveränderter maßgeblicher Sachverhalt vor.

16 Sollte die Rückkehrentscheidung gegenüber dem Ehemann bzw. Vater hingegen wegen des nunmehrigen Überwiegens seiner privaten Interessen an einem Verbleib in Österreich unwirksam geworden sein, wäre auf dieser Basis eine Neubeurteilung der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidungen gegenüber den Mitbeteiligten vorzunehmen und der erstinstanzliche Bescheid des BFA entsprechend abzuändern (ein geänderter Sachverhalt gegenüber dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Juni 2019 läge insofern vor, als es nicht mehr nur um ein vermutlich vorübergehendes Abschiebungshindernis beim Ehemann bzw. Vater ginge, sondern die Grundlage für die Abschiebung selbst weggefallen wäre). Hingegen war es in keiner Weise ausreichend, dass sich das Bundesverwaltungsgericht ohne Detailprüfung einerseits der Voraussetzungen für den Fortbestand der Rückkehrentscheidung und andererseits ihrer Durchführbarkeit im Hinblick auf die Flugtauglichkeit des von ihr betroffenen Ehemannes bzw. Vaters auf die Feststellung zurückgezogen hat, die Abschiebbarkeit sei ‑ entgegen den Feststellungen des BFA im erstinstanzlichen Bescheid ‑ weiterhin „nicht geklärt“.

17 Da das Bundesverwaltungsgericht somit die Rechtslage verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 25. März 2021

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