BVwG W172 2177367-1

BVwGW172 2177367-15.10.2018

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2018:W172.2177367.1.00

 

Spruch:

W172 2177367-1/21E

 

Schriftliche Ausfertigung des am 05.10.2018

 

mündlich verkündeten Beschlusses und Erkenntnisses

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Martin MORITZ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, 1170 Wien, Steinergasse 3/12, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.10.2017, Zl. 1064259503-150391096, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.07. und 05.10.2018

 

A)

 

 

I. Das Verfahren über die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird wegen Zurückziehung der Beschwerde gemäß §§ 28 Abs. 1, 31 Abs. 1 VwGVG i.d.g.F. eingestellt.

 

 

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

 

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 05.10.2019 erteilt.

 

B)

 

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

 

I. Verfahrensgang

 

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden auch: "BF") stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 18.04.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 i.d.g.F. (im Folgenden auch: "AsylG 2005").

 

Am 18.04.2015 erfolgte die Erstbefragung des Beschwerdeführers durch die LPD Kärnten.

 

2. Der Beschwerdeführer wurde am 20.07.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden auch: "BFA") niederschriftlich einvernommen.

 

3. Mit oben im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 24.10.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und es wurde gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 i.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (im Folgenden auch: "BFA-VG") eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (im Folgenden auch: "FPG") erlassen. Weiters wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für seine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

 

4. Gegen alle Spruchpunkte dieses Bescheides wurde vom Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde mit oben im Spruch genannten Schriftsatz vom 08.11.2017 erhoben.

 

5.1. Am 02.07. und 05.10.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer als Partei teilnahm. Das BFA verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung.

 

In diese Verhandlung wurden Unterlagen und darauf aufbauende aktuelle Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan (s. weiter unten Pkt. II.1.2.) eingeführt.

 

Ferner wurde die vom Beschwerdeführer beantragte Zeugin XXXX in der Verhandlung vom 02.07.2018 einvernommen.

 

In dieser Verhandlung wurde vom Beschwerdeführer nach Rechtsberatung auch seiner Rechtsvertretung die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides zurückgezogen.

 

Am Schluss dieser Verhandlung wurde die gegenständliche Entscheidung mündlich verkündet.

 

5.2.1. In der mündlichen Verhandlung vom 02.07.2018 wurden folgende - verfahrenswesentliche - Angaben getätigt (BF: Beschwerdeführer, D:

Dolmetscherin, RI: Richter, RV: Rechtsvertreter, SV:

Sachverständiger):

 

"Befragt vom RI über seinen Aufenthalt in Österreich gibt der BF an:

 

Ich bin seit drei Jahren und drei Monaten in Österreich. Weiters befragt gebe ich an, dass ich zunächst sechs Monate in einer Flüchtlingsunterkunft in XXXX in Niederösterreich gelebt habe, danach musste ich nach XXXX , Oberösterreich, umziehen, wo ich in eine Flüchtlingsunterkunft für minderjährige Asylwerber untergebracht war. Seitdem ich meine Ausbildung als Prozesstechniker bei der Firma XXXX begonnen habe, lebe ich in einer Flüchtlingsunterkunft der Volkshilfe seit 02.09.2017 in XXXX . Als ich nach XXXX umgezogen bin, habe ich zwei bis drei Wochen lang Deutschkurse besucht. Dann besuchte ich eine extra für Flüchtlingskinder eingerichtete Klasse im Rahmen einer Übergangsstufe in einer Schule, ein Schuljahr lang. Nachgefragt gebe ich an, dass diese Schule die HAK/HASCH XXXX war. Weiters befragt führe ich an, dass ich, nachdem ich in der Übergangsstufe sehr gute Noten erhielt, die erste Klasse der HASCH besuchen durfte. Im Oktober 2016 besuchte ich einen dreitägigen "Schnuppertag" bei der Firma XXXX . Im August 2017 erhielt ich dann ein Schreiben von XXXX , wonach ich die Ausbildung dort beginnen könne. Ab September 2017 besuchte ich dort zunächst eine zweieinhalb Monate lange Grundausbildung, danach wurde ich einer bestimmten Abteilung zugeteilt, wo ich eine Ausbildung für zehn Wochen machte. In dieser Zeit wurde ich dann in verschiedenen Abteilungen eingeschult. Die "richtige" Ausbildung begann dann mit dem Besuch der Berufsschule ab dem 19.04.2018. Nachgefragt gebe ich an, dass ich die HASCH nur ein Jahr bis zum Sommer 2017 besucht habe. Dann habe ich meinen Ausbildungsplatz bei der XXXX erhalten. Weiters befragt gebe ich an, dass ich an Deutschkursen als höchstes Niveau schließlich B1 absolviert habe. Meine Betreuer haben mich sehr motiviert, dass ich diese Deutschkurse neben dem Schulbesuch absolvieren sollte, da sie meinten, dass gute Deutschkenntnisse eine große Rolle für die Arbeit spielen würden. Befragt zu österreichischen Freunden gebe ich an, dass ich manche in XXXX in der Schule, manche in der Flüchtlingsunterkunft, wo die dort ehrenamtlich tätig waren, kennengelernt habe; auch im Fußballverein, wo ich spiele und auch manche in der Ausbildung in XXXX , die auch gute Menschen sind. Befragt nach Mitgliedschaften in Vereinen gebe ich an, dass ich beim "Roten Kreuz" und beim Fußballverein SK XXXX Mitglied bin. Weiters war ich zwei Jahre lang Mitglied einer Musikschule. Außerdem war ich während meines Schulbesuches in der HASCH auch Mitglied der "HAK-Band". Befragt nach gemeinnützigen Tätigkeiten führe ich an, dass ich im Sommer 2015 für die Gemeinde XXXX während meiner Schulferien, pro Monat maximal 22 Stunden; arbeiten durfte, d. h. ich war insgesamt die zwei Monate lange 44 Stunden für die Gemeinde XXXX tätig. Weiters habe ich während der sogenannten "Flüchtlingswelle" Flüchtlingen beim Essenverteilen geholfen, vor allem Flüchtlingen, die nicht in Österreich bleiben, sondern weiterreisen wollten. Auch war ich in den Sommerferien 2015 in einem Seniorenheim im Rahmen des "Roten Kreuzes" tätig. Ich suchte dieses einmal in der Woche am Wochenende auf, wo ich Senioren half und mit ihnen spazieren ging. Befragt, ob ich eine Partnerschaft mit einer in Österreich lebende Person hätte, verneine ich dies.

 

Der RI stellt fest, dass der BF teilweise auch in Deutsch antwortet bzw. manche Missverständnisse bei der Rückübersetzung mit Hinweisen in deutscher Sprache korrigiert bzw. in deutscher Sprache auch ergänzende Anmerkungen macht.

 

[...]

 

Befragt vom RI gibt die Zeugin an:

 

Ich habe den auf den auf meinen Führerschein angeführten Namen. Ich bin österreichische Staatsbürgerin und bin am XXXX in XXXX geboren. Ich lebe seit dem 7. Juli 2017 in Wien, nämlich in XXXX . Ich bin ledig und habe keine Kinder. Ich studiere an der Universität Wien "Vergleichende Literaturwissenschaften". Befragt, seit wann ich den BF kenne, gebe ich an, seit 2015, nachdem das UMF-Haus von der Caritas in XXXX eröffnet wurde. In XXXX bin ich aufgewachsen. "UMF" steht für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge. Ich bin dorthin gegangen und habe den Jungen dort bei Hausaufgaben geholfen. Zunächst bis Sommer 2016, dann hielt ich mich ein halbes Jahr in Paris auf, und dann von Februar bis Juni 2017. Danach bin ich nach Wien gezogen. Als ich mit meinen Besuchen in das UMF-Haus begann, war ich damals in der siebten Klasse im Gymnasium in XXXX . Ich besuchte einmal wöchentlich das Heim während der Schulzeit. Während der Schulferien waren die Besuche etwas unregelmäßiger. Später besuche ich sogar zweimal wöchentlich das Heim, wo ich nur noch bestimmte Junge Deutsch unterrichtete, darunter war auch der BF. Auf die Frage, wie ich den BF erlebt habe, gebe ich an, dass es am Anfang für mich schwierig war, da ich ca. zwölf Jungen um mich gehabt habe, die erst ein halbes Jahr in Österreich waren und kaum Deutsch konnten. Ich erzählte ihnen von meiner Schule und über Philosophie. Der BF war daran sehr interessiert, er kannte einen iranischen Philosophen, über den wir uns unterhielten. Am Anfang war die Kommunikation sehr schwierig. Wir hatten kein Wörterbuch, nutzten nur "Google" zur Übersetzung. Wir verständigten uns mit Händen und Füßen, zum Teil dann auch in Englisch. Nach einem halben Jahr wurde die Verständigung aber schon leichter, es wurde nur noch bei bestimmten Verständigungsschwierigkeiten nachgefragt. Der BF wollte immer die besten Noten, über einen Dreier war er schon unglücklich, obwohl ich ihn sagte, dass dies bei seinen Deutschkenntnissen schon eine große Leistung wäre. Er war immer ehrgeizig und sehr freundlich. Wenn ich in das Heim kam und jemand sang, war das er. Er war immer fröhlich. Er half auch bei Sommerfesten des UMF-Hauses mit. Dabei kochte er für ca. 40 Personen. Beim Sommerfest im Jahr 2016 war ich nicht dabei, ich war aber beim Sommerfest im Jahr 2017 dabei, diese waren jeweils nach dem Ende des Ramadans. Im Rahmen dieses dreitägigen Sommerfestes, wurde auch das sogenannte "Zuckerfest" gefeiert, sie feierten dieses üblicher Weise am Ende des Ramadans stattfindenden Fest mit uns nach.

 

Auf Hinweis des SV möchte ich hinweisen, dass mir bekannt ist, dass der Begriff "Zuckerfest" tatsächlich kein afghanischer sei, sondern von Türken für das Ende des Ramadans verwendet wird. Allerdings wurde in der Einladung des UMF-Hauses der Begriff "Zuckerfest" angeführt (Anmerkung des SV: Der afghanische Begriff hierfür lautet "Aid-e Ramadan" am Ende des Fastens. Außerdem gibt es noch das Opferfest "Aid-e Qorban", das zwei Monate nach dem Ramadan stattfindet).

 

Befragt, wie ich ihn bei der Ausübung seiner Religion erlebte, gebe ich an, dass er den Ramadan feiert und diesen auch einhält, so auch im letzten Jahr. Er zeigte mir seinen Koran und wir unterhielten uns über Gemeinsamkeiten zwischen seiner und meiner Religion. Ich würde ihn nicht als strengen Moslem bezeichnen, auch er sieht sich nicht so. Im Umgang mit Frauen verhält er sich so, wie es auch meine österreichischen Freunde tun, der einzige Unterschied ist, ich spreche mit ihm nicht in oberösterreichischem Dialekt. Wir treffen uns gemeinsam mit meinen Freunden, dann sprechen wir Hochdeutsch, dass er uns auch versteht. Mein Freund, der Physik studiert, lernte mit ihm gemeinsam dieses Fach. Sie verstehen sich. Er war auch mit meinen Freunden bei einem Geigenkonzert dabei. Die Unterhalte ist manchmal schwierig, weil meine Freunde oft nicht wissen, worüber sie mit ihm sprechen sollten. Er ist aber immer sehr freundlich und interessiert, selbst gegenüber Personen, wo er merkt, dass Vorurteile vorhanden sind. Befragt, welchen iranischen Philosophen der BF meinte, gebe ich an, dass ich ihn nicht kenne. Ich habe nochmals darüber nachgedacht, ich habe auch damals meinen Philosophieprofessor nach diesen Philosophen gefragt, er antwortete mir, dass er ihn nicht kenne, da er sich nicht in östliche Philosophie so gut auskenne. Befragt, ob ich auch nach meinem Umzug nach Wien mit dem BF in Kontakt sei, gebe ich an, dass wir über "Whats App" und über "Snapchat" miteinander kommunizieren. So tauschen wir z. B. Fotos aus, während ich U-Bahn fahre. Unser Kontakt ist beinahe täglich. Ich habe ihn außerdem zuletzt letzte Weihnachten von XXXX abgeholt. Wir gingen spazieren. Wir gingen zum UMF-Haus, die eine Abschlussfeier hielten, weil sie im Jänner dann geschlossen hatten. Auch jetzt in Wien habe ich mich mit dem BF getroffen.

 

[...]

 

RI: Welchen iranischen Philosophen meinten Sie im Gespräch mit der Zeugin?

 

BF: Er heißt XXXX . Ich habe ihn in Zusammenhang mit einem mathematischen Beispiel erwähnt. Er sagte mir, dass durch eine Formel von ihm, man dieses Beispiel lösen konnte. Wir haben uns aber letztlich darüber nicht verständigen können.

 

SV: Der BF ist offensichtlich sehr gebildet. Er kennt sich sogar besser in Mathematik aus als der vorhin erwähnte Gymnasiallehrer. Dieser Mathematiker hatte auch eine andere Lösung für eine mathematische Formel. Mit vollem Namen heißt er Muhammad ibn Musa al-Chwarizmi. Wie ihn der BF aussprach, ist die in Afghanistan und Iran übliche Namensgebung. Dieser Mathematiker ist einer im islamischen Raum bekannter Gelehrter, der im 8. Jahrhundert lebte.

 

SV: Woher stammen Ihre Eltern aus Afghanistan?

 

BF: Meine Eltern stammen aus der Provinz Day Kundi, XXXX .

 

SV: Wie alt waren Sie als Sie Afghanistan verlassen haben?

 

BF: Ich war zwei Monate alt.

 

SV: Waren Sie wieder in Afghanistan?

 

BF: Nein.

 

SV: Waren Sie wieder in Afghanistan?

 

BF: Nein.

 

SV: Warum sind Ihre Eltern in den Iran gegangen?

 

BF: Nach meiner Geburt ist mein Vater gestorben, nachgefragt, ob er verstorben ist oder ermordet wurde, gebe ich an, dass weiß ich nicht. Es gab damals Bürgerkrieg in Afghanistan, es hat viele politische Gruppierungen gegeben. Meine Mutter hat sich mit der Familie ihres Gatten nicht gut verstanden, daher ist sie in den Iran gereist mit ihrer Familie.

 

SV: Haben Sie in Afghanistan väterlicherseits noch Verwandte?

 

BF: Es kann sein, dass ich in Day Kundi, in meinem Heimatdorf noch Verwandte habe, aber ich weiß nicht, in wieweit diese mit mir verwandt sind, wenn es welche sind, kann es sein, dass diese Verwandte auch woanders hingereist sind.

 

SV: Waren Sie das einzige Kind Ihrer Eltern von Ihrem Vater?

 

BF: Ja, damals war ich das einzige Kind meiner Eltern.

 

SV: Warum ist die Familie Ihres Vaters nicht ausgereist, sondern Ihre Mutter?

 

BF: Das weiß ich nicht, ich kenne niemanden seitens meines Vaters. Es kann sein, dass sie nicht mehr dort leben und von dort ausgereist sind und woanders in Afghanistan vielleicht leben.

 

[...]

 

RV an BF: Welcher Volksgruppe gehören Sie an?

 

BF: Hazara.

 

RV: Sie sprechen Dari. Sprechen Sie ein akzentfreies Dari oder ein Dari von jemanden, wo man bemerkt, dass dieser nicht aus Afghanistan stammt oder nicht in Afghanistan lebt?

 

BF: Bevor ich nach Europa gekommen bin, habe ich ein "reines", akzentfreies Farsi gesprochen. In Griechenland war ich eine Zeit lang im Gefängnis. Dort gab es auch Menschen aus Afghanistan und Pakistan, die Afghanen haben mich wegen meiner Aussprache insofern diffamiert, als sie mich demütigend/negativ als "Iraner" bezeichneten. Während meines Gefängnisaufenthaltes, habe ich mich dann bemüht, Dari wie ein Afghane zu sprechen. Als ich dann vorübergehend in Flüchtlingsunterkünften gelebt habe, so auch in XXXX , kannte ich junge afghanische Männer, über die ich meine Dari-Kenntnisse in afghanischen Akzent verbesserte.

 

RV: Welche Freiheiten in Österreich schätzen Sie, die Sie in Afghanistan nicht leben könnten?

 

BF: Die wichtigste Freiheit für mich, ist die Freiheit auf Bildung, die ich hier in Österreich in Anspruch nehme, diese Freiheit habe ich weder in Afghanistan noch im Iran. Ich könnte weder in Afghanistan noch im Iran bei Feierlichkeiten, Veranstaltungen oder Partys teilnehmen, wie ich dies in Österreich tue. Eine Teilnahme in Afghanistan oder im Iran hätte gefährliche Konsequenzen für mich.

 

RI an D: Was für eine Art von Dari spricht der BF?

 

D: Bevor der RV diese Frage stellte, habe ich auf diesen Aspekt nicht geachtet, danach stellte ich fest, dass der BF ein Dari spricht, das typisch für Afghanen ist, die im Iran leben, d. h. er spricht ein Dari mit typischen iranischen Begriffen."

 

5.2.2. In der fortgesetzten mündlichen Verhandlung vom 05.10.2018 wurden folgende - verfahrenswesentliche - Angaben getätigt (BF:

Beschwerdeführer, RI: Richter, RV: Rechtsvertreter, SV:

Sachverständiger):

 

"RV an BF: Waren Sie schon jemals in Kabul, Mazar-e-Sharif oder Herat?

 

BF: Nein, niemals.

 

RV: Von wo können Sie Dari sprechen?

 

BF: Im Iran haben wir Zuhause mit der Familie Dari gesprochen. Nach meiner Ankunft in Griechenland wurde ich inhaftiert, ich war 7 Monate lang im Gefängnis. Aufgrund meines Dialektes gab es Probleme mit den anderen afghanischen Häftlingen. Damals habe ich daher beschlossen, den Dari Dialekt zu sprechen und nicht mehr Farsi.

 

RV an SV: Woher nehmen Sie die Information, dass Personen, die eine Dari-Farsi-Sprache aufweisen, längere Zeit in Großstädten wie Kabul, Mazar-e-Sharif oder in der Stadt Ghazni sich aufgehalten haben?

 

SV: Aufgrund meiner Erfahrung und aufgrund von Gesprächen mit Afghanen, sowohl im Ausland als auch in Afghanistan habe ich festgestellt, dass Personen, die eine Mischung aus verschiedenen Dialekten der Farsi Sprache sprechen aus verschiedenen Großstädten kommen, die ich im Gutachten angeführt habe. Beim erstmaligen Anhören dieser Personen stelle ich dann fest, dass sie in Großstädten gelebt haben. Allerdings beim BF ist es nachvollziehbar, dass er seine Mischung aus Farsi und Hoch-Dari, wie dies in afghanischen Großstädten gesprochen wird, erst durch seinen mehrmonatigen Gefängnisaufenthalt mit Afghanen sich aneignen musste. Daher ist es nicht ausgeschlossen, dass der BF durchaus sich noch nie in Großstädten wie Kabul, Mazar-e-Sharif oder in der Stadt Ghazni sich aufgehalten hat.

 

RV: Sprechen Afghanen, die mit afghanischen Eltern im Iran aufgewachsen sind, auch diese Mischung aus Farsi und Dari?

 

SV: Meiner Erfahrung nach lernen afghanische Schiiten und Hazaras, die im Babyalter nach Iran ausgewandert sind, den iranischen Farsi Dialekt automatisch. Die Ausnahme ist bei Eltern, die sehr nationalistisch eingestellt sind und die daher wollen, dass Kinder den Dari Dialekt beibehalten, weil sie vielleicht wollen, dass diese später Politiker werden. Wobei letztere Feststellung hier eher Nicht-Schiiten betrifft. Zu 99 % lernen aber Afghanen im Iran Farsi und bestehen oft bei ihrer Ersteinvernahme in Österreich auf einen Dolmetscher in Farsi, unabhängig davon ob sie sunnitisch oder schiitisch sind. Im Iran versuchen die afghanischen Eltern, dass ihre Kinder nicht auffallen, weil die iranische Gesellschaft sehr rassistisch gegenüber den Afghanen eingestellt ist. Daher versuchen die Afghanen, ihre Sprache an diejenige der Iraner anzupassen. Die rassistische Einstellung trifft vor allem die Hazara, weil diese schon durch ihr Äußeres auffallen. In Österreich sind die Hazaras skeptisch gegenüber Dolmetschern, vor allem, wenn diese paschtunischer Herkunft sind, weil sie befürchten, dass diese aus ethnischen Gründen falsch übersetzen würden. Leider gibt es in Österreich außerhalb des BVwG oft schlechte Dolmetscher, sodass Hazaras, die im Iran aufgewachsen sind, auf einen iranischen Dolmetscher bestehen.

 

RI: Aus meiner gerichtlichen Erfahrung stelle ich aber fest, dass die meisten Asylwerber aus Afghanistan einen Dari Dialekt sprechen und nicht Hoch-Farsi.

 

SV: Das stimmt. Allerdings ist die Farsi-Sprache lingua franca in all diesen Ländern, auch wenn diese dann in verschiedenen Dialekten gesprochen wird. Die afghanische Medienlandschaft orientiert sich an den Iran und daher ist die iranische Farsi in Afghanistan allgemein als Hochsprache angesehen. Sobald Afghanen in den Iran reisen oder mit Iranern in Kontakt kommen, versuchen sie im iranischen Dialekt der Farsi Sprache zu kommunizieren.

 

SV: Ergänzend zu meinem schriftlichen Gutachten vom 27.08.2018 führe ich an, dass der BF nach meiner Sachkenntnis auf alle Fälle Anpassungsschwierigkeiten nach seiner Rückkehr in Afghanistan haben wird. Er hat keinen Familienrückhalt, aber auch keinen weitschichtigen Verwandtschaftskreis dort, an den er sich anlehnen könnte. Ein Jugendlicher wie der BF benötigt im Falle der Abwesenheit eines Familienrückhalts effektive Betreuung durch eine Jugendorganisation, die ihn ausbildet und ihm eine Zukunftsperspektive ermöglicht.

 

Die Sicherheitslage in Kabul ist auch derzeit volatil und es kommen im Durchschnitt täglich 60 bis 100 Personen durch Selbstmordanschläge und Raketenabwürfe ums Leben. Die Sicherheitslage in Herat und in Mazar-i Sharif ist ähnlich wie die in Kabul. Z.B. kommen in Herat mehr Entführungen vor.

 

RI an BF: Sind Sie immer noch bei der Lehre bei XXXX ?

 

BF: Ja. Der voraussichtliche Abschluss wird 2021 sein.

 

R: Wie religiös sind Sie?

 

BF: Einige Sachen mache ich mit, wie Ramadan und Moharam. Ich versuche, sie einzuhalten und damit Gott zufriedenzustellen. Ich habe aber auch Spaß im Leben, ich trinke ab und zu auch Alkohol.

 

SV: Wie ich dies bei Afghanen kenne, die in ähnlicher Situation wie der BF sind, verhält es sich so, dass deswegen diese manche religiösen Riten wie Ramadan oder Moharam einhalten, weil sie nicht von der schiitischen Gesellschaft ausgeschlossen werden wollen, wenn sie mit einem anderen Verhalten auffallen würden.

 

Der RI stellt fest, dass der BF ein sehr westlich orientiertes Auftreten hat."

 

6. In das Verfahren wurden neben den vom BFA und vom Bundesverwaltungsgericht eingeführten (s. weiter unten) u.a. folgende entscheidungsrelevante Bescheinigungsmittel vorgelegt, nämlich:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

 

1. Feststellungen

 

1.1. Zur Person und zum Vorbringen des Beschwerdeführers

 

Der Beschwerdeführer führt den oben im Spruch wiedergegebenen Namen, ist am XXXX .1999 in Afghanistan geboren, Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazara sowie dem moslemischen Glaubensbekenntnis an. Seine Familie stammt aus der Provinz Day Kundi, XXXX in Afghanistan. Sein Familienstand ist ledig. Seine Muttersprache ist Dari, seine gesprochene Sprache ist Farsi. Die Grundschule besuchte der Beschwerdeführer von 2006 bis 2011 im Iran, er weist keine Berufsausbildung auf, im Iran war er beruflich zuletzt als Hilfsarbeiter am Bau tätig. Er lebte im Iran, seit er zwei Monate alt ist, zuvor war er noch in Afghanistan aufhältig. In Afghanistan leben keine weiteren Familienangehörigen von ihm mehr. Er und seine Familienangehörigen weisen kein Vermögen auf.

 

Darüberhinaus werden die oben von der mündlichen Verhandlung wiedergegebenen Abschnitte (s. oben Pkt. I.5.2.) zum Inhalt der Feststellungen erhoben.

 

1.2. Zur politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

 

I. Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz

 

1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 22.08.2018:

 

"Daikundi / Dai Kundi / Daykundi

 

Die Provinz Daikundi ist seit dem Jahr 2014 autonom (UNDP 5.2.2017); davor war sie ein Distrikt der Provinz Uruzgan (Pajhwok. o.D.). Daikundi liegt 460 km vom Westen Kabuls entfernt und grenzt an die Provinzen Uruzgan im Südwesten, Bamyan im Osten, Ghor im Norden, Ghazni im Süden und Helmand im Nordosten (Pajhwok o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: der Provinzhauptstadt Nieli/Nili, Ashtarly, Khijran/Kajran, Khedir/Khadir, Kitti/Kiti, Miramor, Sang Takh/Sang-e Takht, Shahristan/Shahrestan (Pajhwok o. D.; vgl. UNOCHA 4.2014). Der Distrikt Gizab, früher Teil von Daikundi, unterliegt der Administration von Uruzgan (UNODC 11.2017). Mit 86% der Bevölkerung bestehend aus Hazara gilt die Provinz Daikundi als die zweitgrößte Region, in der Mitglieder dieser ethnischen Gruppe leben (UNDP 5.2.2017). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 475.848 geschätzt (CSO 4.2017).

 

Daikundi ist eine gebirgige Provinz mit kleinen Dörfern, die über unasphaltierte Straßen verbunden werden (Pajhwok 6.9.2017). In den letzten 17 Jahren wurden Quellen zufolge in der Provinz nur zehn Kilometer an Straßen gebaut. Dennoch sind laut Regierung Projekte für die Implementierung des Straßenbaus im Gange (Tolonews 5.11.2017).

 

Dennoch gilt die Provinz für Anrainer/innen als unterentwickelt - viele Gegenden haben wenig oder gar keinen Zugang zu Elektrizität; Gesundheitsleistungen und anderen elementaren Leistungen (Tolonews 15.11.2016; vgl. auch: Xinhua 1.10.2016).

 

Bis September 2017 war Daikundi die einzige Provinz im Land, die eine Frau als Gouverneurin vorweisen konnte; Ende September 2017 wurde Masooma Muradi dann von einem Mann ersetzt (Kurier 27.9.2017; vgl. TET 27.9.2017).

 

Allgemeine Informationen zur Sicherheitslage

 

Einer Quelle zufolge ist Daikundi eine sichere Provinz (Tolonews 10.3.2018). Im September wurde von einer Zunahme afghanischer Binnenvertriebener (IDP) berichtet, die in Daikundi Zuflucht gesucht hatten (Pajhwok 6.9.2017).

 

Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 3 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die folgende Darstellung der Staatendokumentation veranschaulicht werden sollen:

 

Bild kann nicht dargestellt werden

 

Im gesamten Jahr 2017 wurden 43 zivile Opfer (16 getötete Zivilisten und 27 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Blindgänger/Landminen, gefolgt von Bodenoffensiven und gezielten Tötungen. Dies bedeutet einen Rückgang von 59% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (UNAMA 2.2018). Eine weitere Quelle berichtete allerdings von keinen Opfern im Jahr 2017 in der Provinz Daikundi (Pajhwok 14.1.2018).

 

Militärische Operationen in Daikundi

 

Im März 2017 wurden in Daikundi 31 Aufständische durch die ANSF getötet (GIM o.D.). In den letzten 17 Jahren sind in Daikundi keine ausländischen Streitkräfte ums Leben gekommen (Pajhwok 1.1.2018). Ende Dezember 2017 wurde Daikundi einer Quelle zufolge als ruhige Provinz beschrieben (LAT 10.12.2017).

 

Regierungsfeindliche Gruppierungen in Daikundi

 

Daikundi zählt zu den Provinzen, in denen die Anzahl der Taliban gering ist (Pajhwok 1.2.2018). Der Zusammenhalt zwischen den Bewohnern ethnisch homogenerer Gesellschaften wie in Panjsher, Bamyan und Daikundi wird als Grund für die geringe Anzahl an Anschlägen betrachtet: Da die Bewohner dieser Provinzen mehrheitlich einer Ethnie zugehören, würden diese keine aufständischen Aktivitäten erlauben (Pajhwok 14.1.2018). Des Weiteren wurde für den Zeitraum 1.1.2017 - 31.1.2018 keine IS-bezogenen Sicherheitsvorfälle in der Provinz Daikundi gemeldet (ACLED 23.2.2018).

 

Quellen:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

II. Lage der Hazara

 

2. Auszug aus der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 27.06.2016 zur Situation der Volksgruppe der Hazara in Afghanistan (a-9695-1):

 

"Chris Johnson, die in den Jahren 1996 bis 2004 unter anderem als Mitarbeiterin in der im Bereich Entwicklungszusammenarbeit tätigen NGO Oxfam und der Forschungseinrichtung Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU) in Afghanistan tätig war, schreibt in einer aus dem Jahr 2000 stammenden Studie zu Hazarajat, dass dieses Gebiet die Provinz Bamiyan sowie Teile von benachbarten Provinzen umfasse. Die exakten Grenzen des Hazarajat seien umstritten, doch würden diese für den Zweck der Studie mit jenen des Gebietes alten Schura gleichgesetzt, das die folgenden Distrikte umfasse: Schebar, Bamiyan, Panjao, Waras, Yakawlang (Provinz Bamiyan); Balchab (Jowzjan); Dar-e-Souf (Samanghan); Lal o Sari Jangal (Ghor); Dai Kundi, Sharistan (Uruzgan); Malistan, Jaghori, Nawor (Ghazni); Behsud I und Behsud II (Wardak). Obwohl es auch möglich sei, historisch von einem noch größeren Gebiet Hazarajat zu sprechen, würden alle genannten Distrikte im Allgemeinen als Teil des Hazarajat anerkannt, und diese Definition des Gebietes entspreche auch den Realitäten der Arbeit der Hilfsorganisationen. Das Hazarajat stelle das am stärksten mono-ethnische Gebiet Afghanistans dar. Die Bevölkerung des Gebiets setze sich überwiegend aus Imami-Schiiten zusammen, obwohl es dort auch einige Ismaili-Schiiten sowie auch sunnitische Hazara gebe. Das am stärksten ethnische gemischte Gebiet innerhalb des Hazarajat sei die Provinz Bamiyan, deren Bevölkerung sich zu 67% aus Hazara, 15% aus Tadschiken, 14% aus Sayyed und zu knapp 2% aus Paschtunen sowie 2% aus Quizilabasch zusammensetze. Insgesamt habe es in den zwei Jahrzehnten vor Veröffentlichung der Studie eine Zunahme an ethnischen Spannungen gegeben, die sich nicht von der politischen Entwicklung loslösen lasse.

 

Doch auch innerhalb der ethnischen Gruppe der Hazara gebe es Gegensätze und ein System von Untergruppen, das derart komplex sei, dass sich das Ausmaß, in dem sich die Mitglieder dieser Gruppen als eigene Gruppe angesehen hätten, je nach Zeit in Abhängigkeit von den in dem Gebiet aktiven politischen Bewegungen unterschiedlich gewesen sei. Die Gruppenzugehörigkeit gehe sowohl aus Mustern traditioneller Führung in Bezug auf Land, Familie und Religion ab und diese Führungsmuster könnten sich überschneiden. Am ambivalentesten sei der Status der Sayyed, welche die traditionelle religiöse Führung der Hazara bilden und rund vier bis fünf Prozent der Bevölkerung des Hazarajat ausmachen würden. Sie würden ihre Abstammung auf den Propheten Mohammed zurückführen und seien ursprünglich Araber gewesen. Während Ehen zwischen Hazara-Männern und Sayyed-Frauen selten seien, komme es häufig zu Eheschließungen zwischen Sayyed-Männern und Hazara-Frauen. Manchmal würden sich Sayyed selbst als Hazara bezeichnen und auch von anderen als solche bezeichnet. In anderen Fällen würden sich die Sayyed als eigene Gruppe bezeichnen.

 

In einem Update zur Sicherheitslage in Afghanistan vom September 2015 thematisiert die regierungsunabhängige Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) die Situation von Hazara wie folgt:

 

‚Diskriminierung gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten sind verbreitet und es kommt immer wieder zu Spannungen zwischen verschiedenen Ethnien, welche zu Todesopfern führen. Die Diskriminierung Angehöriger der Hazara äußert sich in Zwangsrekrutierungen, Zwangsarbeit, Festnahmen, physischem Missbrauch oder illegaler Besteuerung. Hazara wurden überdurchschnittlich oft zu Opfern gezielter Ermordungen' (SFH, 13.09.2015).

 

Der im April 2016 veröffentlichte Länderbericht des US-Außenministeriums (US Department of State, USDOS) zur Menschenrechtslage (Berichtsjahr 2015) hält fest, dass im November 2015 unbekannte Bewaffnete mindestens 14 Hazara-Männer aus Bussen in der Provinz Zabul entführt hätten. Über deren Verbleib hätten bis Dezember 2015 keine Informationen vorgelegen. Im Februar 2015 hätten Aufständische 31 Hazara-Männer aus einem Bus in der Provinz Zabul entführt und im Mai 2015 19 Geiseln und im November 2015 acht weitere freigelassen. Mit Stand November 2015 seien die übrigen vier Geiseln weiterhin vermisst gewesen. Im März 2015 sei es im ganzen Land zu Protesten gekommen, bei denen Demonstrierende die Regierung aufgefordert hätten, die 31 im Februar entführten Hazara freizubekommen. Im November 2015 seien in Städten im ganzen Land Proteste ausgebrochen, nachdem Aufständische mit mutmaßlichen Verbindungen zum Islamischen Staat (IS) sieben Hazara in der Provinz Zabul enthauptet hätten, darunter zwei Frauen und ein neunjähriges Mädchen. Die Demonstrationen seien ein Ausdruck öffentlichen Unmuts gegen die Unfähigkeit der Regierung gewesen, mit der Bedrohung durch Aufständische fertig zu werden und hätten ein Licht auf die Ängste der Hazara vor weiteren Anschlägen geworfen.

 

Weiters berichtet das USDOS von fortwährender, sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung von Hazara in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt und Haft. Laut NGOs seien Hazara-Mitglieder der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) einem stärkeren Risiko ausgesetzt, in unsicheren Gebieten eingesetzt zu werden, als Nicht-Hazara-Beamte. Aus mehreren Provinzen, darunter Ghazni, Zabul und Baghlan, seien eine Reihe von Entführungen von Hazara berichtet worden. Die Entführer hätten Berichten zufolge ihre Opfer erschossen, enthauptet, Lösegeld für sie verlangt oder sie freigelassen. Wie das USDOS weiter bemerkt, seien ethnische Hazara, Sikhs und Hindus zusätzlich zur allgemeinen gesellschaftlichen Diskriminierung weiterhin von Diskriminierung bei der Jobeinstellung und bei der Zuteilung von Arbeiten betroffen.

 

Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) bemerkt in ihrem im Februar 2016 erschienenen Jahresbericht zum Jahr 2015, dass sie während des Jahres 2015 einen starken Anstieg bei Entführungen und Tötungen von Hazara-ZivilistInnen durch regierungsfeindliche Kräfte verzeichnet habe. So hätten regierungsfeindliche Kräfte zwischen 1. Jänner und 31. Dezember 2015 mindestens 146 Mitglieder der Hazara-Gemeinde bei insgesamt 20 verschiedenen Vorfällen getötet. Mit Ausnahme eines einzigen Vorfalls hätten sich alle in ethnische gemischten Gebieten ereignet, die sowohl von Hazara als auch von Nicht-Hazara-Gemeinden besiedelt seien, und zwar in den Provinzen Ghazni, Balch, Sari Pul, Faryab, Uruzgan, Baghlan, Wardak, Jowzjan und Ghor. UNAMA habe die Freilassung von 118 der 146 entführten Hazara bestätigen können. 13 entführte Hazara seien von regierungsfeindlichen Kräften getötet worden, während zwei weitere während der Geiselhaft verstorben seien. UNAMA habe den Verbleib der übrigen Geiseln nicht eruieren können. Die Motive für die Entführungen seien unter anderem Lösegelderpressung, Gefangenenaustausche, Verdacht der Spionage für die Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) und Nichtbezahlung illegaler Steuern gewesen. In manchen Fällen seien die zugrundeliegenden Motive unbekannt gewesen.

 

UNAMA führt folgende Beispiele für Entführungen und anschließende Tötungen von Hazara an: Am 23.02.2015 seien im Bezirk Shajoy der Provinz Zabul 30 Hazara-Insassen zweier öffentlicher Busse, die von Herat nach Kabul unterwegs gewesen seien, entführt worden. Drei der Entführungsopfer seien während ihrer Gefangenschaft getötet worden, während zwei offenbar aufgrund von natürlichen Ursachen verstorben seien. Zwischen Mai und August 2015 seien die übrigen Geiseln freigelassen worden, nachdem es Berichten zufolge zu einem Austausch mit einer Gruppe von Häftlingen gekommen sei. Am 13.10.2015 hätten regierungsfeindliche Kräfte sieben Hazara-ZivilistInnen, darunter zwei Frauen, zwei Jungen und ein Mädchen, die sich auf der Autobahn zwischen Kabul und Kandahar auf dem Weg in den Distrikt Jaghuri (Provinz Ghazni) befunden hätten, entführt. Stammesälteste hätten sich vergeblich um deren Freilassung bemüht. Die Hazara seien im Distrikt Arghandab der Provinz Zabul festgehalten worden, bis Kämpfe zwischen revalisierenden regierungsfeindlichen Gruppen, darunter auch der Gruppe, zu denen die Entführer gehört hätten, ausgebrochen seien. Im Zeitraum von 6. bis 8. November hätten die reguierungsfeindlichen Kräfte allen sieben Hazara-ZivilistInnen, darunter auch den Kindern, die Kehlen durchgeschnitten. Dieser Vorfall habe Demonstrationen in der Stadt Kabul ausgelöst, bei denen mehr Schutz für die Hazara-Gemeinde gefordert worden sei."

 

3. Auszug aus der gutachterlichen Stellungnahme des Ländersachverständigen Dr. RASULY vom 17.02.2016 zur Lage der Volksgruppe der Hazara in Afghanistan im Verfahren betreffend einen anderen Asylwerber vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Zl. W119 2102332-1:

 

"[...]

 

Die Lage der Hazara seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001:

 

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes wurde Ende 2001 in einer Konferenz in Bonn festgelegt, dass alle Ethnien Afghanistans, einschließlich der Hazara, an der staatlichen Macht beteiligt werden müssen. So haben die Hazara und andere schiitische Gruppen seit Ende 2001 im afghanischen Staat einen stellvertretenden Staatspräsidenten, fünf Ministerposten und jeweils einen stellvertretenden Minister im Staatssicherheits-, Verteidigungs- und Innenministerium. Außerdem haben sie mehrere Schlüsselpräsidien in diesen Ministerien. Der stellvertretende Armee-Chef ist derzeit ein Hazara namens General Morad Ali Morad. General Morad hat weitgehende Befehlsbefugnisse und befehligt derzeit in verschiedenen Provinzen wie Kunduz, Baghlan oder Helmand die Operationen gegen die Taliban. Die Hazara-Parteien, allen voran die Hezb-e Wahdat, kontrollieren derzeit die Hauptsiedlungsgebiete der Hazara im Rahmen der staatlichen Authorität.

 

Diese Gebiete sind: Bamiyan, Daykundi, die Distrikte Jaghuri, Malistan, Nawur, Jaghatu, Teile von Qarabagh usw. in der Provinz Ghazni, die Hazara-Wohnbezirke in Mazar-e Sharif und einige Distrikte der Provinzen Samangan, wie Dara-e Suf, Hazara-Siedlungsgebiete in der Provinz Sara-e Pul und in der Provinz Balkh, sowie die von Hazara bewohnten Distrikte und Dörfer in der Provinz Maidan Wardak, v.a. Hessa-i-Awal-i Behsud, Behsud-i Markazi und Daymirdad. Die Hazara sind in Kabul im politisch-kulturellen Leben und im Bildungs- und Wirtschaftsbereich maßgebend vertreten. Sie betreiben mehrere Fernsehsendungen und haben dutzende Privatuniversitäten und Institute im Land. Sie stellen in den staatlichen Universitäten im Verhältnis zu ihrer Anzahl mehr Studenten als jede andere Ethnie des Landes, weil sie durch ihre leidgeprüfte Geschichte die derzeitigen Möglichkeiten besser wahrnehmen.

 

Die Hazara und andere Schiiten haben in Großstädten wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat eigene islamische Bildungseinrichtungen für die schiitische Islam-Lehre. Diese werden vom Iran finanziert und mit Lehrkräften unterstützt. Die Hazara als Schiiten dürfen zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans seit dem Sturz des Taliban-Regimes ungestört und in vollem Umfang schiitische Rituale, wie den wichtigsten Feiertag Ashura, den Gedenktag an den Märtyrertod Imam Husain, mit Prozessionen auch in den nicht schiitischen Bezirken in Kabul und Mazar-e Sharif und in anderen Städten zelebrieren, ohne von den Sunniten gestört und lächerlich gemacht zu werden. Früher haben sie nur in ihren Moscheen unter sich gefeiert. Ca. ein Drittel der Parlamentsabgeordneten in Kabul sind Hazara bzw. Schiiten und sind mit den sunnitischen Abgeordneten gleichberechtigt am politischen Prozess beteiligt. Somit sind die Hazara an der Staatsgewalt maßgebend beteiligt. Sie waren bis zum Sturz des Taliban-Regimes im Jahre 2001 in diesem Ausmaß in Afghanistan nie an der staatlichen Macht beteiligt.

 

Sie sind nicht nur an der Zentralgewalt beteiligt, sondern sie stellen auch die Gouverneure und die Sicherheitskommandanten in den Provinzen Bamiyan, Daikundi und in allen anderen hauptsächlich von den Hazara bewohnten Distrikten in Ghazni und in Maidan Wardak. Alle bedeutenden Distrikte wie Jaghuri, Malistan, Jaghatu, Nawur und Teile von Qarabagh in Ghazni werden von den Kommandanten der Hezb-e Wahdat behördlich verwaltet. Auch in Maidan Wardak werden die Hauptsiedlungsgebiete von Hazara, wie Hisa-i-Awal-i Behsud, Behsud-e Markazi und Day Mirdad, von den Kommandanten der Hezb-e Wahdat kontrolliert und verwaltet. Mit ihrer neuen Stellung, ihrer Widerstandsfähigkeit und ihren Möglichkeiten befinden sich die Hazara in Afghanistan seit Ende 2001 nicht mehr in einer Opferrolle. Sie sind im Stande, sich kollektiv mit ihren Möglichkeiten im Rahmen des Staates zu verteidigen. Allerdings kommt es vor, dass immer wieder Taliban auf den Hauptstraßen zwischen den Provinzen im Süden, Westen und auf dem Weg nach Maidan Wardak und Bamiyan Reisebusse anhalten und bestimmte Reisende mitnehmen. Die meisten dieser Geiseln auf diesen Strecken sind Hazara. In den Jahren 2013 bis 2015 ist es mehrere Male vorgekommen, dass auf dieser Strecke Hazara aus den Reisebussen gezerrt und mitgenommen worden sind. Einige von ihnen wurden freigelassen, Dutzende wurden getötet. Diese Aktionen der Taliban richten sich nicht nur gegen die Hazara, sondern die Taliban töten und entführen auch Paschtunen, Usbeken und Tadschiken. Bei jeder dieser Aktionen erwecken die Taliban den Anschein, als wäre sie nur gegen die jeweilige Volksgruppe, deren Mitglieder sie gerade entführt und getötet haben, gerichtet. Die Hauptroute von Kabul über den Salang-Pass nach Norden, Baghlan - Mazar-e Sharif - Kunduz, wird hauptsächlich von Paschtunen, Tadschiken und Usbeken befahren. Die Strecke zwischen Baghlan und Kunduz ist sehr gefährlich und die Reisenden versuchen, bis 14 Uhr die Strecke Baghlan nach Kunduz zu passieren, weil nachmittags die Taliban die Route immer wieder kurzfristig unter ihre Kontrolle bringen. Sie zerren willkürlich Personen aus Reisebussen und Taxis und nehmen sie als Geiseln mit. Einige dieser Personen werden von den Taliban später getötet. Dies sind großteils Tadschiken und Usbeken. Die meisten von den Taliban kontrollierten Gebiete in Afghanistan werden von Usbeken, Paschtunen und Tadschiken bewohnt. In diesen Gebieten werden die Menschen willkürlich bestraft und Personen, die einmal für die Regierung gearbeitet haben, geraten unter die Verfolgung und Unterdrückung der Taliban. Die Provinzen und Distrikte, wo hauptsächlich die Hazara wohnen, werden von diesen kontrolliert. Sie haben bis jetzt ihre Siedlungsgebiete soweit geschützt, dass die Taliban dort nicht eindringen konnten. Aber Distrikte wie Gisab in Uruzgan und Nirkh in Maidan Wardak, die auch von Paschtunen bewohnt werden, sowie einige Dörfer, die in den mehrheitlich von Paschtunen oder Usbeken bewohnten Gebieten liegen, werden nicht von den Hazara-Parteien kontrolliert. Manche dieser Gebiete werden immer wieder von den Taliban kurzfristig kontrolliert.

 

Die Taliban sind Anhänger der arabischen Fundamentalisten, allen voran Saudis, die gegen den Iran und damit gegen die Schiiten eingestellt sind. Daher kommt es immer wieder vor, dass die Taliban ihre Opfer, wenn sie Schiiten sind, zur Schau stellen. Aber sie bringen mehr Paschtunen und Usbeken um, deren Gebiete sie leicht unter ihre Kontrolle bringen können. In diesen Gebieten kommt es häufig vor, dass die Taliban willkürlich Menschen verfolgen, töten und die Jugendlichen, wenn sie benötigt werden, rekrutieren. Eine Zwangsrekrutierung seitens der Taliban ist dort möglich, wo sie vorherrschen.

 

Diese Gebiete liegen in den von Paschtunen und Usbeken bewohnten Provinzen, wie Nangarhar, Kandahar, Kunar, Kunduz, Faryab, Helmand usw. Wenn die Jugendlichen sich nicht dort befinden oder sich der Zwangsrekrutierung der Taliban entziehen und in Großstädte oder ins Ausland flüchten, werden sie von den Taliban nicht weiter gesucht. Allerdings können diese Jugendlichen nicht mehr in ihre Heimatregion zurückkehren, wenn die Taliban weiterhin dort vorherrschend sind. Zwangsrekrutierung ist nicht weit verbreitet, weil viele Jugendliche aus Gründen der Arbeitslosigkeit und ethnischer Solidarität sich den Taliban anschließen. Auch gibt es Regionen, deren Bevölkerung aus Gründen des Paschtunwali - dem Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen - es in "Krisenzeiten" für notwendig erachtet, den Taliban freiwillig Soldaten bereitzustellen. Die meisten Opfer der Taliban sind von 2013 bis Februar 2016 in den von Paschtunen bewohnten Provinzen Kandahar, Nangarhar, Kunar, Helmand, Logar, Wardak und in den Provinzen Kunduz, Faryab, Baghlan und Badakhshan zu verzeichnen, wo hauptsächlich Usbeken, Tadschiken und Paschtunen wohnen. Die Taliban haben im Oktober 2015 die Stadt Kunduz eingenommen und in wenigen Tagen den UNO-Berichten zufolge mehr als 800 Menschen getötet. Die getöteten Zivilisten waren Tadschiken und Usbeken. Derzeit werden die meisten Distrikte von Nangarhar von den Taliban kontrolliert und von ihnen werden immer wieder Massaker an der Zivilbevölkerung verübt. [...]"

 

III. Situation von Rückkehrern aus Iran und Pakistan

 

4. Auszug aus der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 12.06.2015 zur Situation von afghanischen Staatsangehörigen (v.a. Angehörigen der Volksgruppe der Hazara), die aus dem Iran oder Pakistan nach Afghanistan zurückkehren (a-9219):

 

"[...]

 

In einem im August 2014 veröffentlichten Artikel für die British & Irish Agencies Afghanistan Group (BAAG), ein Dachverband von in Afghanistan tätigen britischen und irischen Hilfsorganisationen, berichtet die freiberufliche Forscherin und Autorin Vanessa Thevathasan über die Lage junger afghanischer RückkehrerInnen aus dem Iran und Pakistan. Laut Thevathasan seien viele nach ihrer Rückkehr aufgrund des anhaltenden Konflikts und der schlechten Sicherheitslage zu Binnenvertriebenen geworden. Sie seien gezwungen, in Zelten zu leben, und hätten nur geringen Zugang zu Nahrungsmitteln und Wasser.

 

Die Mehrheit der AfghanInnen sichere sich den Lebensunterhalt durch Subsistenzlandwirtschaft und informellen Handel. In den Städten seien die meisten entweder selbstständig oder GelegenheitsarbeiterInnen. Die Verankerung dieses informellen Sektors sowie der Mangel an grundlegenden Diensten habe Afghanistans Fähigkeit untergraben, der Forderung der internationalen Gemeinschaft nach einer organisierten Rückkehr und Reintegration afghanischer Flüchtlinge nachzukommen. Die Situation sei besonders für zurückkehrende afghanische Jugendliche hart [...]

 

Stars and Stripes, eine Nachrichtenwebsite, deren Aufgabe es laut eigenen Angaben ist, die US-Militärgemeinde mit unabhängigen Nachrichten und Informationen zu versorgen, schreibt in einem Artikel vom Jänner 2015, dass sich immer noch mehr als 2,5 Millionen afghanische Flüchtlinge im Ausland aufhalten würden, vor allem in den Nachbarländern Pakistan und Iran. Angesichts wirtschaftlicher Probleme und der zunehmenden Gewalt sei das Ausmaß der freiwilligen Rückkehr auf 16.000 Personen im Jahr 2014 zurückgegangen. Im Jahr zuvor seien noch mehr als doppelt so viele Personen zurückgekehrt.

 

Zurückkehrende Flüchtlinge hätten Zugang zu einer Reihe internationaler Hilfsmaßnahmen, etwa Zuschüssen von rund 200 US-Dollar als Hilfe zur Deckung von Transport- und Reintegrationskosten, temporären Unterkünfte, Unterweisungen in den Bereichen rechtliche Hilfe und (Aus )Bildung, sowie Impfungen für Kinder. Die afghanische Regierung habe zurückkehrenden Flüchtlingen und anderen vertriebenen Personen Land zugewiesen, allerdings sei die Fähigkeit der Regierung, andere Dienste wie (Aus )Bildung und Gesundheitsversorgung bereitzustellen, begrenzt.

 

Einem für die Provinz Herat zuständigen Offiziellen zufolge würden Flüchtlinge alles verlieren, wenn sie versuchen würden, wieder nach Afghanistan zu kommen. Die afghanische Regierung verfüge nicht über die nötigen Ressourcen, um allen zu helfen.

 

[...]

 

Die Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU), eine unabhängige Forschungsorganisation mit Sitz in Kabul, geht in einem Bericht vom Juli 2009 auf die Erfahrungen junger AfghanInnen bei ihrer Rückkehr aus Pakistan und dem Iran ein. Wie der Bericht anführt, sei die soziale Ablehnung durch AfghanInnen, die während der Konfliktjahre in Afghanistan geblieben seien, eine schwierige Erfahrung für einige RückkehrerInnen der zweiten Generation gewesen. Es gebe zwei wichtige Gründe, warum Flüchtlinge der zweiten Generation bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland mit dieser sozialen Exklusion konfrontiert seien: Zum einen könnten einige Flüchtlinge als ‚Eindringlinge' in die afghanische Gesellschaft angesehen werden, zum zweiten könnte es sich um das erste Mal handeln, dass sie als AfghanInnen mit tiefgreifenden ethnischen und Stammes-Unterschieden unter ihren Landsleuten konfrontiert würden.

 

Rund ein Viertel der befragten RückkehrerInnen, die meisten aus dem Iran, aber auch einige aus Pakistan, hätten berichtet, dass sie bzw. Familienangehörige oder Freunde von anderen AfghanInnen wegen ihrer Rückkehr aus einem anderen Land geächtet worden seien. Bei den RückkehrerInnen, die dies berichtet hätten, habe es sich vor allem um alleinstehende, gebildete und weibliche Personen gehandelt. Zurückgekehrte Frauen seien relativ einfach anhand ihrer Kleidung auszumachen und ihre Erscheinung und ihr Verhalten könnten im Widerspruch zu den lokalen kulturellen Erwartungen und sozialen Codes stehen. Bei diesen RückkehrerInnen handle es sich eindeutig um ‚AußenseiterInnen', die leichte Ziele für Schikanierungen seitens anderer AfghanInnen darstellen würden. Insbesondere dann, wenn Flüchtlinge der zweiten Generation sich sehr stark in die pakistanische oder iranische Lebensweise integriert hätten und nicht wüssten, was für AfghanInnen "normal" sei, bzw. sich nicht dementsprechend verhalten könnten, könnten sie als ‚verwöhnt', ‚Nichtstuer' oder ‚nicht afghanisch' betrachtet werden.

 

Im Großen und Ganzen scheine es eine generelle negative Einstellung gegenüber einigen RückkehrerInnen zu geben, denen von einigen in Afghanistan verbliebenen Personen vorgeworfen werde, ihr Land im Stich gelassen zu haben, dem Krieg entflohen zu sein und im Ausland ein wohlhabendes Leben geführt zu haben. Einer der Gründe für diese Vorwürfe sei Angst im Zusammenhang mit der Konkurrenz um Ressourcen. RückkehrerInnen der zweiten Generation, bei denen es wahrscheinlich sei, dass sie sich in einer besseren sozioökonomischen Lage befinden würden als Personen, die in Afghanistan geblieben seien, würden von ihren Landsleuten, die ihr ‚Territorium' in den Bereichen Bildung, Arbeit, Eigentum und sozialer Status bedroht sehen würden, manchmal als unerwünschte Eindringlinge angesehen. Darüber hinaus scheine es eine stereotype Wahrnehmung von zurückgekehrten Mädchen und Frauen zu geben, wonach diese ‚freier' seien. Dies hänge mit der generellen Wahrnehmung der AfghanInnen von pakistanischen und iranischen Frauen zusammen. Afghanische Flüchtlinge der zweiten Generation würden diese Frauen oftmals als ‚freier' ansehen, sowohl in negativer (z.B. Scham in Verbindung mit einem weniger moralischen Verhalten) als auch in positiver Hinsicht (z.B. besserer Zugang zu Bildung und Arbeit). Die jungen RückkehrerInnen, die in Pakistan und im Iran aufgewachsen seien, würden von den in Afghanistan Verbliebenen ähnlich betrachtet.

 

Wie der Bericht weiters anführt, werde Diskriminierung aus ethnischen, religiösen und politischen Gründen von Flüchtlingen der zweiten Generation noch intensiver erlebt als von Flüchtlingen der ersten Generation oder AfghanInnen, die bereits Erfahrungen in Afghanistan gemacht hätten und sich dieser Realität bewusster seien

 

[...]

 

[...]

 

In einer im September 2013 eingereichten Masterarbeit an der japanischen Ritsumeikan Asia Pacific University geht Ahmadi Yaser Mohammad Ali ebenfalls auf die Lage afghanischer RückkehrerInnen aus dem Iran ein. Die nötigen Informationen für die Arbeit wurden unter anderem mittels Interviews mit 17 Haushaltsvorständen (im Alter von 24 bis 70) in zwei Stadtvierteln von Kabul, in denen viele RückkehrerInnen aus dem Iran leben würden, gesammelt. Wie Ali anführt, hätten sich viele der Befragten darüber beschwert, dass die afghanische Gesellschaft eine negative Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus dem Iran habe. Allerdings sei dieses Problem vor allem von Flüchtlingen der zweiten Generation angesprochen worden.

 

Mit Verweis auf den weiter oben bereits zitierten AREU-Bericht von 2009 erläutert Ali, dass Flüchtlinge der zweiten Generation aufgrund der Diskriminierung, mit der sie im Iran konfrontiert gewesen seien, unter großem Druck gestanden hätten, in der Öffentlichkeit iranisches Persisch zu sprechen. Wegen ihres Akzents würden sie bei ihrer Rückkehr leicht als RückkehrerInnen ausgemacht, was zu sozialer Ausgrenzung führen könne. Einem Bericht der Afghanischen Unabhängigen Menschenrechtskommission zufolge seien diese RückkehrerInnen auch mit Diskriminierung und Erniedrigung seitens einiger staatlicher Einrichtungen, darunter auch Bildungseinrichtungen, konfrontiert. In manchen Fällen seien sie aufgrund ihres Akzents und ihrer Kleidung ihrer Rechte beraubt worden.

 

Wie Ali weiters anführt, habe die afghanische Regierung im Jahr 2001 ein Dekret erlassen, das die Diskriminierung von RückkehrerInnen verbiete. Trotz dieses Dekrets seien sich alle Befragten einig gewesen, dass RückkehrerInnen aus dem Iran von der Bevölkerung und der Regierung diskriminiert und schikaniert würden. Im Gegensatz dazu sei in der nationalen afghanischen Entwicklungsstrategie der afghanischen Regierung aus dem Jahr 2008 angeführt worden, dass es kein Muster von Diskriminierungen von RückkehrerInnen gegeben habe, auch wenn die Reintegration dieser Personen eine Herausforderung darstelle [...]"

 

5. Auszug aus der gutachterlichen Stellungnahme der Ländersachverständigen ASEF vom 15.09.2017 zur Situation von Rückkehrern aus dem Iran und aus Pakistan:

 

"[...]

 

Berichten der internationalen Hilfsorganisationen zufolge leben geschätzte drei Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan sowie zirka 2,5 Millionen im Iran. Darunter befinden sich viele im Exil geborene Afghanen der zweiten und dritten Generation.

 

Besonders im Iran sind afghanische Staatsangehörige nicht erwünscht, wo sie sehr benachteiligt sind und kaum über eine Perspektive verfügen. Bereits seit November 2013 schickt der Iran tausende Afghanen zum Kampf gegen die IS nach Syrien. Im Gegenzug verspricht die iranische Regierung afghanischen Flüchtlingen das Bleiberecht im Iran oder finanzielle Anreize. Einigen Afghanen soll aber auch mit der Abschiebung gedroht worden sein, falls sie sich weigern sollten, nach Syrien zu gehen. Am 2. Mai 2016 verabschiedete das Teheraner Parlament ein Gesetz, wonach im Falle eines Todes die Angehörigen der afghanischen Kämpfer die iranische Staatsbürgerschaft erhalten. Damit bestätigte die iranische Regierung erstmals die Existenz ausländischer Söldner.

 

Zur Situation von Rückkehrern in Afghanistan:

 

Afghanische Rückkehrer geraten beim Wiederaufbau einer Lebensgrundlage in Afghanistan in gravierende Schwierigkeiten. Diese verfügen über eine unzureichende Existenzgrundlage sowie einen schlechten Zugang zu Lebensmitteln und Unterkunft. Außerdem erschwert die prekäre Sicherheitslage die Rückkehr der meisten in ihre Heimatregionen. Es wird berichtet, dass viele Rückkehrende ihre Dörfer innerhalb von zwei Jahren erneut verlassen müssen und in die Städte ausweichen, insbesondere nach Kabul, wo es ihnen nach der Rückkehr auch wirtschaftlich schlechter geht als im Exilland.

 

Es darf nicht ungesagt bleiben, dass Rückkehrer bei ihrer Ankunft in Afghanistan nach einer Abwesenheit bemerken, dass sie weitgehend von den Verwandtschafts-, Geschäfts- und Patronage-Beziehungen - falls überhaupt vorhanden - ausgeschlossen werden. Damit ist gemeint, dass es für Rückkehrer besonders schwierig ist, sich ohne etwaige Verwandte oder Freunde zu Recht zu finden und Zugang zu Arbeitsstätten zu bekommen. Ihnen fehlt somit jeglicher Zugang zu nützlichen Ressourcen. Nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan gelten sie als Fremde im eigenen Land. Darüber hinaus müssen die meisten Jugendlichen, die aus dem Iran und Pakistan zurückkehren bzw. abgeschoben werden und über keine Fachausbildung verfügen, mit dem Problem der Arbeitslosigkeit kämpfen. Auf Grund der unsicheren Lage fühlen sich viele Unternehmer dazu gezwungen, ihre Firmen zu schließen. Dies führt ebenfalls zu einer schwierigen Situation am Arbeitsmarkt. Daraus ergibt sich, dass tausende junge Menschen derzeit auf dem Weg sind, außerhalb von Afghanistan Möglichkeiten nach wirtschaftlichem Überleben zu suchen. Jene Rückkehrer, die im Land verbleiben, geraten oft in die Drogenszene und leben zum Teil in Parkanlagen und in nicht bewohnbaren Häusern. Auf Grund dieser Umstände ist die Kriminalitätsrate, vor allem unter jungen Menschen, stark gestiegen. Diese Situation der jungen Rückkehrer hat dazu geführt, dass die afghanische Regierung vor allem die Nachbarländer gebeten hat, afghanische Flüchtlinge nicht abzuschieben.

 

Wenn Rückkehrer über kein soziales Netzwerk verfügen und auch keine finanzielle Unterstützung zugesichert bekommen, sind sie gezwungen, in Zelten zu leben und haben zudem nur geringen Zugang zu Nahrungsmitteln und Wasser. Die Situation ist insbesondere für junge afghanische Rückkehrer hart, zumal die afghanische Regierung nicht über die nötigen Ressourcen verfügt, um diese beim Aufbau einer Existenzgrundlage zu unterstützen. Viele Afghanen haben Afghanistan aufgrund des langjährigen Krieges verlassen, können aber, obwohl es in manchen Gebieten wieder sicher ist, wegen der wirtschaftlichen Lage nicht mehr dorthin zurückkehren.

 

Rückkehrer aus dem Iran berichten über soziale Ablehnung durch jene Afghanen, die während der Konfliktjahre in Afghanistan geblieben sind. Oftmals werden Rückkehrer als ‚Eindringlinge' oder ‚Fremde' angesehen. Im Großen und Ganzen gibt es eine generelle negative Einstellung gegenüber Rückkehrern, denen von den in Afghanistan verbliebenen Personen vorgeworfen wird, dem Krieg entflohen zu sein und das Land und die Bevölkerung im Stich gelassen zu haben und selbst ein wohlhabendes Leben im Ausland geführt zu haben. Vor allem Flüchtlinge zweiter Generation erleben Diskriminierung aus ethnischen, religiösen und politischen Gründen intensiver als die der ersten Generation.

 

Die Tatsache, dass die Mehrheit der im Iran geborenen Afghanen, vor allem die Dari- bzw. Farsi-sprechenden sunnitischen Tadschiken und schiitischen Hazara, durch ihren Schulbesuch oder durch die Ausübung eines Berufes im Iran die iranische Kultur und Lebensweise angenommen haben, erschwert die Rückführung dieser in die afghanische Gesellschaft. Für viele ist auch die Vorstellung, in ländliche Gebiete Afghanistans zurückzukehren, die meist nur ein sehr grundlegendes Maß an Infrastruktur, sozialen Diensten und Beschäftigungsmöglichkeiten bieten, beängstigend.

 

Die afghanische Bevölkerung betrachtet Rückkehrer aus dem Iran mit Argwohn und ist der Meinung, dass diese die Identität Afghanistans ändern und das Land ‚iranischer' machen. Sie werden auch oft als ‚falsche' Afghanen bezeichnet. Dieser Umstand führt oft zu Spannungen zwischen den Rückkehrern und jenen, die während der Kriegsjahre in Afghanistan verblieben sind. Rückkehrer berichten auch über ein unfreundliches Verhalten der Afghanen im Land und dass die afghanische Gesellschaft eine negative Wahrnehmung von Rückkehrern aus dem Iran habe. Auch werden solche Rückkehrer als kulturell nicht authentisch und politisch verdächtig angesehen. Die Aussprache, nämlich der iranische Akzent der Rückkehrer, führt zur sozialen Ausgrenzung, dem zufolge sie mit Diskriminierung und Erniedrigung seitens einiger staatlicher Einrichtungen, darunter auch Bildungseinrichtungen, konfrontiert sind. Ohne Beziehungen zu dort wohnhaften und mit der dortigen Gesellschaft vertrauten Personen ist es nahezu unmöglich, in Afghanistan Arbeit zu finden. Ihnen wird unter anderem auch vorgeworfen, dass sie zurückgekehrt seien, um von der sich teilweise stabilisierten Lage im Land zu profitieren.

 

Die afghanische Regierung hat im Jahr 2001 ein Dekret erlassen, welches die Diskriminierung von Rückkehrern verbietet. Trotz dieses Dekrets werden Rückkehrer aus dem Iran von der Bevölkerung und der Regierung diskriminiert und schikaniert. Am schwierigsten erweist sich die Situation für jene, die nicht in ihre Heimatdörfer zurückkehren wollen, vor allem aus Sicherheitsgründen oder wegen fehlender familiärer Anknüpfungspunkte. Diese Rückkehrer sind besonders verwundbar. Als Fremde im eigenen Land fehlen ihnen die wichtigen Netzwerke, die sie in der afghanischen Stammesgesellschaft brauchen. Eine Unterkunft oder eine Verdienstmöglichkeit zu finden, ist ohne solche Beziehungen viel schwieriger."

 

6. Auszug aus dem Gutachten der Ländersachverständigen STAHLMANN vom 28.03.2018 u.a. zur Identifizierung und Situation von Rückkehrern aus dem Iran in Afghanistan im Verfahren betreffend einen Asylwerber vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden zur Zl. AZ: 7 K 1757/16.WI.A:

 

"[Frage des Gerichts:] 12. Sind afghanische Staatsangehörige, die im Iran gelebt hatten und über das westliche Ausland als abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan zurückkehren, als solche in Afghanistan identifizierbar?

 

Wenn ja:

 

a) Wodurch ist eine solche Identifizierung möglich?

 

b) Hat diese Identifizierbarkeit Folgen für das alltägliche Leben dieser Person, insbesondere im Hinblick auf Eingliederung in die Gesellschaft, Finden einer Unterkunft und einer Arbeitsstelle? Gibt es Unterschiede, ob die Person sich in einer Großstadt oder auf dem Land niederlässt? Welche Rolle spielt die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit?

 

Ja, selbst mir, die ich selbst Fremde und in vielerlei Hinsicht kulturelle und soziale Analphabetin war, war es von Beginn meiner Zeit in Afghanistan an ohne Probleme möglich, Afghanen, die zumindest einige Jahre im Iran gelebt hatten, auch in flüchtigen Begegnungen als solche zu identifizieren. Nach längerem Aufenthalt im Iran müssen Rückkehrer aufgrund dieses Aufenthaltes mit sozio-ökonomischem, sozio-kulturellem sowie sozio-politischem Ausschluss und damit verbundenen Gefährdungen rechnen. Unabhängig von ethnischer und religiöser Zugehörigkeit oder dem Ort der Ansiedlung ist davon auszugehen, dass sie ohne unterstützungswillige und -fähige Netzwerke keine Chance auf Eingliederung und Überlebenssicherung haben.

 

Einleitung: Varianten der Migration in den Iran

 

Auffällige Unterschiede gibt es jedoch zwischen verschiedenen lokalen Kategorien von Iran-Rückkehrern, die sich aus unterschiedlichen Migrationsvarianten ergeben und grob in drei Kategorien einteilen lassen: Arbeitsmigration, zeitlich befristete Zuflucht und langfristiges Exil. All diese Migrationsvarianten sind für die Betroffenen prägend, sie unterscheiden sich jedoch deutlich wahrnehmbar bezüglich der sozialen Verortung in Afghanistan, der relativen Integration im Iran und der Chancen auf Reintegration in Afghanistan. Zustande kommen diese Varianten aufgrund unterschiedlicher Funktionen, welche die Migration erfüllt:

 

Arbeitsmigranten und hier insbesondere unverheiratete junge Männer gehen meist mit dem Ziel der Unterstützung ihrer Familien in Notzeiten oder für die ökonomische Abfederung spezifischer Herausforderungen wie Hochzeiten oder die Bewältigung von Schulden für begrenzte Zeit in den Iran. (Harpviken 2014, Monsutti 2006) Eine Untergruppe hiervon sind jene, die aus Afghanistan Richtung Europa fliehen und die Flucht unter anderem mit zeitweiser Arbeit im Iran finanzieren. Sozio-ökonomisch bleibt diese Gruppe in der Regel in Afghanistan fest verortet und auch wenn sie lernen, sich im Iran zu orientieren und sprachliche und kulturelle Kompetenz aneignen, führt dies aufgrund der Kürze des Aufenthalts und der sozialen Verankerung in Afghanistan in der Regel nicht zu einer sozio-kulturellen Entfremdung von ihren Herkunftsgemeinschaften und Familien. Diese Gruppe kann am ehesten einer Identifizierung in der Öffentlichkeit entgehen, auch wenn diese wie jede Migrationserfahrung die Betroffenen prägt und die Konfrontation mit einem kulturell, sozial, sprachlich, religiös und nicht zuletzt politisch sehr anderen Umfeld Spuren hinterlässt, die im persönlichen Umgang deutlich werden.

 

Im Zuge der Kriege hat der Iran jedoch auch Millionen Afghanen als Zufluchtsort gedient. Hieraus haben sich zwei Varianten der Migration entwickelt, von denen nicht nur Einzelne, sondern auch Familien betroffen waren. Die eine entspricht traditioneller Migration als Teil der Strategie des erweiterten Familienverbandes zur Streuung von Optionen der Überlebenssicherung. (Harpviken 2014, Monsutti 2006) Entsprechend dieses Musters bleibt ein Teil der Familie zurück, Ressourcen werden bei Bedarf weiterhin geteilt, und Ansprüche an z.B. Erbteile bleiben bestehen. Auch diese Form der Migration wird als zeitlich befristet verstanden und eine Rückkehr wird von allen Beteiligten erwartet, sobald die Umstände es wieder zulassen.

 

Anders ist der Fall bei jenen, die diese Form der Migration nicht aufrechterhalten konnten oder wollten und für die der Aufenthalt im Iran zum dauerhaften Exil wurde. Gründe hierfür waren zahlreich. Oft war es der gewaltsame Verlust der Überlebensgrundlage, wie des ererbten Landes, der dafür gesorgt hat, dass erweiterte Familien ins Exil gegangen sind. Manchmal haben Teile der Familienverbände ohne Aussicht auf ein Ende der Kriege ihr Land bewusst aufgegeben und sich für einen unabhängigen und dauerhaften Neuanfang im Exil entschieden. Mitunter haben auch politische Fronten Familienverbände geteilt und Solidarbeziehungen beendet. Auch diese unbefristete Migrationsvariante ist nicht neu und findet sich z. B. mit der Staatsgründung im Zuge des Genozids Abdur Rahmans an Hazara, die

 

zu dauerhaften Exilgemeinschaften in Pakistan und Iran geführt hat [...]. Dauerhaftes Exil wurde jedoch auch mit zunehmender Dauer der Kriege nach 1978 zu einem üblichen Phänomen.

 

Für beide Gruppen gilt, dass sie eine Identifizierung als Iran-Rückkehrer selbst im unverbindlichen, alltäglichen Kontakt wie etwa auf der Straße oder auf dem Markt in der Regel nicht vermeiden können. Der Grad der sozio-kulturellen Entfremdung im Vergleich zu den in Afghanistan Verbliebenen hängt hierbei vor allem von dem Alter der Betroffenen zur Zeit der Migration, der Dauer des Exils und den andauernden sozialen Verbindungen der Familie nach Afghanistan ab. Haben die Betroffenen prägende Jahre im Iran verbracht oder keinen regelmäßigen Kontakt mit Herkunftsgemeinschaften gepflegt, ist das Fremdheitserleben der in Afghanistan Verbliebenen oft so groß, dass die Betroffenen nicht mehr als Afghanen wahrgenommen werden. Die übliche Bezeichnung ist stattdessen der pejorative Ausdruck ‚Iranigak', also ‚kleine Iraner'. [...]

 

[...] Möglichkeiten der Identifizierung im alltäglichen Umgang

 

Im Gegensatz zu jenen, die nur kurzfristig als Arbeitsmigranten im Iran gelebt haben, ist das Auftreten derer, die sich dort niedergelassen haben, in der Regel bezüglich Habitus und Körpersprache wie Gestik und Gang so anders, dass selbst eine erfolgreiche Anpassung in der Kleidung diese Unterschiede nicht überspielen kann. Ausnahmen hierzu wären z.B. Einkaufszentren im Zentrum Kabuls, an denen ohnehin die ganze Bandbreite afghanischer Alltagskulturen aufeinandertrifft und Iranrückkehrer allein aufgrund ihres Auftretens wohl nicht von erfolgreichen Exilafghanen oder der pro-westliche eingestellten Bildungs- und Machtelite des Landes zu unterscheiden wären.

 

In jedem Fall offensichtlich sind jedoch die sprachlichen Besonderheiten. Farsi und Dari sind zwar in der Schriftform ähnlich. Dennoch sind auch in der Schriftsprache die Unterschiede im Wortschatz groß genug, um regelmäßig für Missverständnisse zu sorgen. Besonders eklatant sind diese in der Verwaltungssprache, die in Afghanistan häufig auf paschtunischen Wortschatz zurückgreift. Doch auch der Einfluss des Urdu ist auf Dari beschränkt, wie etwa die Währungsbezeichnung lakh für 100.000 Afghanis oder die umgangssprachliche Bezeichnung rupa für Afghani. Während Farsi sich zudem in der Regel auf französische Lehnwörter stützt, sind im Dari englische üblich, die gegenseitig somit nur verstanden werden, wenn auch die jeweiligen Fremdsprachen bekannt sind.

 

Divergierender Wortschatz betrifft hierbei auch alltägliche Begriffe wie ‚Straße', ‚Krankenhaus', ‚Auto' oder Verwandtschaftsbezeichnungen, während identische Wörter manchmal andere Bedeutungen haben. So bedeutet beispielsweise der Dari-Ausdruck für Auto auf Farsi Motorrad. Bei einer Bewerbung sagen zu wollen, dass man einen Universitätsabschluss (Farsi: license) hat, und damit auf Dari zu sagen, dass man über einen Führerschein verfügt, kann vielleicht noch aufgelöst werden. Dass aber selbst gleiche Vornamen, z.B. Azam, unterschiedliche Geschlechter konnotieren, sorgt schon sehr viel nachhaltiger für Komplikationen. Die Unterschiede in der gesprochenen Sprache, in Dialekt, Akzent und der Art des Ausdrucks sind noch um ein Vieles größer und lösen bei lokalen Gemeinschaften nicht nur großes Fremdheitserleben aus. Sie sind mitunter so gravierend, dass auch alltägliche Kommunikation scheitern kann. [...]

 

[...]

 

Insbesondere bei jenen, die im Iran aufgewachsen waren, fiel zudem auch in alltäglichen Situationen auf, wie unterschiedlich die Regeln und Rituale des Umgangs in den beiden Ländern sind. Das fing bei Begrüßungs- und Dankesformeln an, ging über Arten des Handelns auf dem Markt, galt für das Verhalten im öffentlichen Raum, betraf aber auch den Umgang mit Autoritätspersonen und staatlicher Bürokratie. Das Verhalten der ‚Iranigak' fiel so regelmäßig als situationsunangemessen, unbeholfen und fremd bzw. falsch auf. Mit die größten Unterschiede finden sich in Bezug auf die gelebte Religiosität. Die unterscheidet sich insbesondere durch das religiöse Wissen, den Kanon der religiös definierten Werte und Normen, die Art wie Religion im Alltag gelebt wird, die Frage, welche Lebensbereiche religiös definiert sind und die Organisation religiöser Institutionen.

 

All diese sozio-kulturellen Unterschiede und die erlebte Fremdheit waren schwächer bei denen ausgeprägt, die nur vorübergehend im Iran gelebt hatten, in Afghanistan kulturell und sozial noch beheimatet und verwurzelt waren und bei denen die Rückkehr tatsächlich eine Rückkehr in ein bekanntes soziales Umfeld war. Doch selbst bei dieser Gruppe fiel im persönlichen Kontakt und bei Besuchen auf, dass die privat gelebte Kultur und die gepflegten sozialen Beziehungen sich deutlich von jenen derer unterschieden, die während des Krieges in Afghanistan geblieben waren. Das betraf die Interessen, welche die Gespräche prägten, die Einrichtung der Häuser, die Wahl der Statussymbole, das Essen, den sehr viel offeneren Umgang zwischen den Geschlechtern und Generationen, die Hoffnungen für die Zukunft und persönliche Ziele und die Art und den Grad der Bildung.

 

Selbst wenn es jemandem möglich wäre, all diese Marker der Fremdheit in der Öffentlichkeit zu verbergen - was mir bei mehrjährigem Aufenthalt im Iran nicht vorstellbar ist - sorgt spätestens die Überprüfung der biografischen Angaben durch das neue Umfeld für das soziale Wissen um den Aufenthalt im Iran. [...]

 

[...] Hürden erfolgreicher Eingliederung nach Rückkehr aus dem Iran

 

Die Chance einer Wiedereingliederung ist - nicht nur, aber auch - für Iran-Rückkehrer, von der Bereitschaft sozialer Netzwerke zur Wiederaufnahme und dem Zugang zu andauernden Mitteln der Existenzsicherung und hier insbesondere Landbesitz abhängig. Wer diese Voraussetzungen nicht hat, muss nach längerem Aufenthalt im Iran mit sozio-ökonomischem, sozio-kulturellem sowie sozio-politischem Ausschluss und damit verbundenen Gefährdungen rechnen. Mit Ausnahme der Arbeitsmigranten sind jedoch nahezu alle derer, die diese Voraussetzungen erfüllen, bereits in den Jahren nach dem Sturz der Taliban nach Afghanistan zurückgekehrt. Bei den im Iran Verbliebenen ist somit davon auszugehen, dass sie unabhängig von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit oder Ort der Ansiedlung keine Chance auf Eingliederung und Überlebenssicherung haben.

 

[...] Sozio-ökonomische Ausschlussrisiken

 

Die Rückkehr von Arbeitsmigranten in den Iran ist, zumindest wenn die ökonomischen Erwartungen durch die Migranten erfüllt sind, vorgesehen. Bei Migration in den Iran drohen zwar inzwischen auch die ökonomischen und physischen Risiken des illegalen Grenzübertritts und der Abschiebung, und bei mehrmaliger Abschiebung steigt auch die Gefahr der Zwangsrekrutierung für den Syrienkrieg. Da die Investition in die Migration jedoch deutlich geringer ist, als bei einer Flucht nach Europa, sind auch die sozio-ökonomischen Risiken im Fall einer Abschiebung geringer. Sofern die familiären Erwartungen nicht erfüllt sind, kann eine Abschiebung für die Betroffenen aufgrund internalisierter Versorger- und Leistungsansprüche durchaus belastend sein. [...]

 

[...]

 

Unabhängig von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit bedingt das einen sozialen Ausschluss, der mit dafür verantwortlich ist, dass Rückkehrer aus dem Iran wie auch aus anderen Ländern ohne Zugang zu wohlwollenden sozialen Netzwerken und nachhaltigen Formen der Existenzsicherung keine Chance auf nachhaltige Integration haben. Das bestätigt sich auch in den UNHCR-Angaben von 2012, wonach bis zu 60 % der Rückkehrer aus Pakistan und Iran keine erfolgreiche Wiedereingliederung gelungen war. (vgl. Schmeidl 2016) Auch Bildung ist hierfür keine Grundlage, wobei auch das Bildungsniveau derer, die im Iran aufgewachsen sind, große Unterschiede aufweist. Während manche über selbstorganisierte Schulen in der Flüchtlingsgemeinschaft kaum lesen und schreiben gelernt haben, haben andere ein Bildungsniveau erreicht, das ihnen den Zugang zu iranischen Universitäten erlaubt hat. Letztere hatten mangels lokaler Konkurrenz auf dem durch (I)NGOs zeitweise geschaffenen [...] atypischen Arbeitsmarkt nach 2001 zunächst tatsächlich einen Startvorteil. Der hat jedoch nicht zu einer Eingliederung oder nachhaltigen Existenzgründung geführt. Wie auch in Kabul konnten sich selbst die oben zitierten hochqualifizierten Iran-Rückkehrer, die ich in Bamyan kennengelernt habe, dort nur so lange halten, wie es nach den atypischen Arbeitsmarktregeln in internationalen Organisationen, wie z.B. Frauenquoten oder Einstellung aufgrund von Qualifikation, noch Jobangebote gab, die nicht lokal vermittelbar waren. [...]

 

Dass diese Stellen meist die einzigen waren, die Iran-Rückkehrern ohne soziale Anbindung zeitweise offenstanden, lag auch daran, dass sie von bestehenden sozialen Netzwerken abhängig gewesen wären, um im staatlichen oder privatwirtschaftlichen Sektor Fuß fassen zu können [...]. Doch häufig waren selbst die handwerklichen Fähigkeiten, die sie im Iran erworben hatten, nicht an die Produktionsweisen und den afghanischen Markt angepasst (Saito July 2009: 39f.).

 

Das entscheidende Kriterium dafür, auf dem Arbeitsmarkt eine Chance zu haben, ist auch hier [...] nicht die Qualifikation der Betroffenen, sondern der Zugang zu unterstützungsfähigen und -willigen sozialen Netzwerken. [...]

 

Der Unterschied zwischen Rückkehrern und Eingesessenen besteht darin, dass die Chance für Rückkehrer Teil bestehender Netzwerke und ‚bekannt zu sein', entsprechend kleiner ist. So hatten viele der Familien, die nach dem Sturz der Taliban zwangsweise oder ohne derartige Netzwerke zurückgekehrt waren, 2009 Afghanistan schon wieder verlassen müssen, während andere Familien in ihrem Überleben in Afghanistan auf die erfolgreiche Arbeitsmigration der Männer zurück in den Iran (oder Pakistan) angewiesen waren (Saito July 2009: 40). Eine Studie zu IDP-Lagern in der Umgebung von Herat hat ergeben, dass aus nahezu jeder Familie 1-2 Jungen und Männer zur Unterstützung ihrer Familien als Arbeitsmigranten im Iran arbeiten (Inter-Agency Durable Solutions Initiative October 2016: 30, 42, 54, 78). Doch auch diese Überlebensstrategie ist zu einem gewissen Grad von der Unterstützung sozialer Netzwerke abhängig - für das Aufbringen der Reisekosten, den Schutz der zurückbleibenden Familie und den die Vermittlung von Arbeit im Iran (Saito July 2009: 40). Da diese Rückmigration jedoch umso schwieriger ist, je schwieriger der Zugang zu den Nachbarländern und ihren Arbeitsmärkten ist, gibt es bei freiwillig zurückkehrenden Familien eine Tendenz, dass ein oder mehrere Männer im Iran verblieben sind, um die zurückkehrende Familie ökonomisch abzusichern. Genauso wie Rückmigration von Teilen der Familie als Arbeitsmigranten ins Zufluchtsland und viele andere Überlebensstrategien setzt dies jedoch sowohl transnationale Netzwerke, als auch eine Familie als soziale Grundeinheit voraus, und ist somit für Einzelne nicht realisierbar. (vgl. Harpviken 2014)

 

[...]

 

Die meisten der aus dem Iran abgeschobenen Afghanen versuchen angesichts dieser fehlenden Überlebensaussichten, das Land so schnell wie möglich wieder Richtung Iran zu verlassen. Nach Schusters Forschungsergebnissen verbringen sie im Schnitt drei Monate in Afghanistan (Schuster/Majidi 2013: 13). Dass viele von ihnen jedoch auch nicht die Rückkehr in den Iran schaffen, zeigt sich an der großen Zahl von Rückkehrern, die in der Folge zu Binnenvertriebenen werden und keine Aussicht auf die Sicherung ihrer Existenz haben (vgl. 9, IDMC/Samuel Hall/NRC December 2017, NRC/IDMC/Samuel Hall 24.01.2018).

 

Ein sichtbares Zeichen hiervon ist die große Zahl obdachloser Heroinabhängigen, die man in Städten wie Kabul zu Tausenden unter Brücken und an Straßenrändern findet und die lange fast ausschließlich Rückkehrer aus dem Iran waren. (Constable/Washington Post 19.06.2017) [...]"

 

IV. Situation von Rückkehrern allgemein

 

7. Auszug aus der Anfragebeantwortung von AMNESTY INTERNATIONAL vom 05.02.2018 zur Situation in Afghanistan im Verfahren betreffend einen Asylwerber vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden zur Zl. AZ: 7

K 1757/16.WI.A:

 

"Für Rückkehrer_innen aus dem westlichen Ausland, die über keine familiären Netzwerke verfügen, ist es zudem in der heutigen Situation so gut wie unmöglich, den Lebensunterhalt zu sichern und Wohnraum zu finden [...]

 

[...]

 

Angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Situation und der Struktur des Arbeitsmarktes ist davon auszugehen, dass es sehr schwierig sein wird, sich an in einer anderen Region das Existenzminimum zu sichern. Dies gilt insbesondere - aber nicht ausschließlich - wenn am neuen Wohnort kein familiäres Netzwerk besteht.

 

Im Kontext des anhaltenden bewaffneten Konflikts in Afghanistan ist es schwer, verlässliche Informationen zu der wirtschaftlichen Lage zu erhalten. Für das letzte Jahr wurden zum Beispiel Daten zum Bruttoinlandsprodukt oder zur Arbeitslosenrate überhaupt nicht mehr erhoben. Die letzten Zahlen stammen aus dem Jahr 2015: Hier lag die offizielle Arbeitslosenquote schon bei 40 Prozent.[...] Seit 2012 schrumpft die afghanische Wirtschaft radikal. Zahlen der Weltbank belegen, dass das Wirtschaftswachstum von 14,4 Prozent in 2012 auf 1,1 Prozent in 2015 gefallen ist.[...] Dies ist vor allem dadurch zu erklären, dass die wirtschaftliche Entwicklung des Landes sehr stark an die Präsenz der internationalen Truppen im Land geknüpft ist - mit dem Abzug eines Großteils der internationalen Truppen brach die Auftragslage in vielen Sektoren der afghanischen Wirtschaft zusammen. Auch die zunehmende Unsicherheit durch die sich verschlechternde Sicherheitslage sowie die anhaltende Korruption beeinträchtigen die wirtschaftliche Entwicklung.

 

Angesichts des Rückgangs der wirtschaftlichen Entwicklung in Afghanistan sind die Aufnahmekapazitäten der größeren Städte aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung und der Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen, insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, äußerst eingeschränkt.[...] Die Studie Afghan Conditions Survey 2013-2014 zeigt, dass 73,8 Prozent der städtischen Bevölkerung in Slums leben. [...]

 

Die wirtschaftliche Lage und humanitäre Notsituation in Afghanistan wurde 2016 und 2017 noch verschärft durch die hohe Anzahl Binnenvertriebenen sowie an Rückkehrer_innen aus Pakistan und Iran. Anfang 2017 lag die Zahl der Binnenvertriebenen bei mindestens 1,5 Millionen.252 Im Jahr 2017 kam es in 31 von 34 Provinzen zu weiteren massiven Vertreibungen - rund 448.069 Menschen mussten aufgrund des bewaffneten Konflikts ihre Häuser verlassen. [...]

 

Zudem wurden im Laufe des Jahres 2016 nach UNHCR-Angaben circa 620.000 afghanische Flüchtlinge (registrierte und nichtregistrierte) aus Pakistan in ihr Herkunftsland rückgeführt - die höchste Zahl von Rückführungen seit 2002. Mehr als 420.000 Afghan_innen kehrten spontan aus dem Iran zurück oder wurden von dort abgeschoben - insgesamt 1.034.000 Rückkehrer_innen.[...] Dieser Trend setzte sich 2017 fort: Wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) berichtete, kamen vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2017 über 560.000 nicht registrierte Afghan_innen aus Pakistan und dem Iran zurück. [...] Die Zahl der als Flüchtlinge registrierten Rückkehrer_innen aus den zwei Ländern belief sich zusätzlich auf rund 59.000 Personen im Jahr 2017.256 Am 1. Februar 2018 kündigte das Kabinett Pakistans an, die zwei Millionen in Pakistan lebenden Afghan_innen müssten innerhalb von 60 Tagen das Land verlassen.[...] Sollte dieser Beschluss umgesetzt werden, hätte dies verheerende Folgen für die Rückkehrenden sowie für die gesamte Situation in Afghanistan selbst. [...]

 

Laut UNHCR hatte die gestiegene Zahl von Rückkehrer_innen aus Iran und Pakistan, kombiniert mit den internen Fluchtbewegungen, enorme Folgen für die Infrastruktur und die vorhandenen Ressourcen in Afghanistan, vor allem in den aufnehmenden Gemeinden. Dies berichten auch Human Rights Watch und der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte von Binnenflüchtlingen.[...] Alle verweisen auf die extrem angespannte Lage, insbesondere auch in Kabul, die es so gut wie unmöglich macht, ein Einkommen zu verdienen, regelmäßig zu essen, eine Unterkunft zu finden und andere Grundbedürfnisse zu befriedigen.[...]

 

Die Situation von Binnenvertriebenen und Rückkehrer_innen aus Iran und Pakistan gibt Aufschluss darüber, mit welchen Schwierigkeiten bei der Existenzsicherung eine Person, die aufgrund von Bedrohungen gezwungen ist, ihren Heimatort zu verlassen, konfrontiert sein wird.

 

Untersuchungen humanitärer und Menschenrechtsorganisationen zur Situation von Binnenvertriebenen und Rückkehrer_innen machen deutlich, dass selbst diejenigen, die in der Lage sind, Arbeit zu finden, kaum in der Lage sind, sich selbst und ihrer Familie das Existenzminimum zu sichern. Der überwiegende Teil dieser Bevölkerungsgruppen leidet an Hunger, hat begrenzten Zugang zur Grundversorgung und lebt in ständiger Angst, provisorische Notunterkünfte und Lager räumen zu müssen.[...] Viele von ihnen leben in Slums, in denen Arbeitslosigkeit und Ernährungsunsicherheit herrschen und es nur sehr beschränkten Zugang zu sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung gibt.[...]

 

Binnenvertriebene leben nach ihrer Flucht in anderen Städten oder Gegenden unter oft erbärmlichen Bedingungen am Rande des Hungertods.[...] Ein Großteil der Menschen, die aus ihren Häusern fliehen mussten, lebt in provisorischen Notunterkünften, ohne Schutz vor heißen Sommern und kalten Wintern. Es mangelt ihnen an ausreichend Nahrung und Wasser, um durch den Tag zu kommen. Sie erhalten, wenn überhaupt, nur eine minimale staatliche Hilfe. Den Binnenvertriebenen in Afghanistan wird regelmäßig der Zugang zu grundlegenden Leistungen, wie Gesundheitsversorgung oder Bildung verwehrt.[...]

 

[...]

 

Rückkehrer_innen ohne familiäre Netzwerke müssen normalerweise versuchen, sich im städtischen Raum niederzulassen und hier eine Arbeit zu finden, da sie so gut wie keine Möglichkeit haben, Land zu erwerben, um sich über die Landwirtschaft eine Existenz zu sichern. Die Chancen für eine_n Rückkehrer_in, ohne Hilfe der Familie und Freunde eine Arbeitsstelle zu finden, sind jedoch sehr gering. Auch die Wenigen, denen es doch gelingt, Arbeit zu finden - zumeist als Tagelöhner - verdienen nur unregelmäßig und oftmals so wenig, dass es ihnen nicht möglich ist, mit ihrem Einkommen eine weitere Person zu versorgen.

 

Der Zugang zu Arbeit (ebenso wie zu Wohnraum, siehe unten) funktioniert in Afghanistan im Wesentlichen über Kontakte, Netzwerke oder Bestechung. Qualifikationen und die formale Bildung spielen demgegenüber eine deutlich geringere Rolle.[...] EASO beispielsweise verweist darauf, dass in den Städten circa 80 Prozent der Jobs im gering qualifizierten Niedriglohnsektor oder auf Tageslohnbasis angesiedelt sind und dass die Arbeitsplätze im gering qualifizierten Sektor (auf dem Basar, in der Bauindustrie oder als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft) normalerweise über Netzwerke vergeben werden.[...] Eine Studie zur Situation in Mazar-i-Sharif zeigt, dass 85 Prozent der Beschäftigten angaben, ihre Tätigkeit durch Freunde oder Familienangehörige vermittelt bekommen zu haben.[...] Auch eine Studie zur Situation von jungen Männern in Kabul belegt, dass 87 Prozent der Jugendlichen eine Arbeit nur mit Hilfe von Familie und Freunden finden konnten.[...] Die Afghanistan Public Policy Research Organisation (APPRO) untersuchte im April 2016 die Verwirklichung politischer und sozioökonomischer Rechte in mehreren Provinzen und fasste zusammen: ‚Der Zugang zu vielen Jobs ist nur über Kontakte oder Bestechung möglich.'[...] Auch die Asylexpertin Stahlmann schreibt zu der Relevanz von familiären Netzwerken bei der Arbeitssuche: ‚Nicht nur für die traditionellen Familienbetriebe, die die Privatwirtschaft prägen, sondern auch für den Staatsdienst gilt, dass Arbeitsplätze nur über Beziehungen zu erlangen sind. Schulische und berufliche Qualifikationen sind demgegenüber auf dem Arbeitsmarkt von geringer Bedeutung.'[...]

 

Eine Reihe von Studien zur Situation von Rückkehrer_innen zeigt ebenfalls, wie schwer es für Personen ohne Unterstützungsnetzwerk ist, eine Arbeit zu finden.[...] Das Refugee Support Network berichtet, dass es für diese Personen fast unmöglich sei, eine Beschäftigung zu finden.292 Eine Studie der Organisation, die mehrere männliche Rückkehrer in Afghanistan begleitete, stellte fest, dass diese sich fast ausschließlich als Tagelöhner verdingten.[...] Allerdings sind selbst diese Tätigkeiten äußerst begrenzt verfügbar und stark nachgefragt, sodass sich als Tagelöhner kein stetiges Einkommen erwirtschaften lässt.[...] In einigen Fällen verweigerten Arbeitgeber den Befragten eine Anstellung, als sie erfuhren, dass die jungen Männer Rückkehrer waren.[...]

 

Die Statistiken einer weiteren Studie zur Situation von Rückkehrern aus dem Jahr 2013 bestätigen diesen Trend.[...] Laut dieser Studie suchen junge Männer (Altersgruppe 15-24 Jahre) in Afghanistan im Durchschnitt zwischen neun und zehn Monaten nach einem Job. Wenn sie einen Job finden, erhalten sie für diesen zumeist keinen Arbeitsvertrag - dies war bei 95 Prozent der Beschäftigungen der Fall. Ausbeutung und willkürliche Entlassungen sind unter diesen Bedingungen keine Seltenheit. 87 Prozent der befragten jungen Männer fanden eine Arbeit, indem sie auf familiäre Netzwerke zurückgriffen.[...] Betrachtet man die aktuelle allgemeine Wirtschaftslage in Afghanistan, ist davon auszugehen, dass sich die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt seither noch weiter verschärft hat. Ferner fehlt es Rückkehrer_innen an finanziellen Mitteln für selbst geringe Investitionen, die nötig wären, um einer selbstständigen Tätigkeit im informellen Sektor nachzugehen.

 

[...]

 

Der Zugang zu Arbeit ist für Rückkehrer_innen auch aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage sowie der zunehmenden Konkurrenz um Arbeit und Wohnraum in den städtischen Gebieten erschwert. [...]. Rückkehrende aus Europa finden eine äußerst angespannte wirtschaftliche und humanitäre Lage vor, in der sie mit den Millionen von Binnenvertriebenen und Rückkehrer_innen um Arbeit und Unterkunft konkurrieren.

 

Auch in den oben von Ihnen genannten Provinzen und Städten ist die wirtschaftliche Lage schlecht.

 

Kabul ist die wirtschaftlich bedeutendste und fortschrittlichste Stadt Afghanistans. Trotzdem sind nach offiziellen Angaben 79,4 Prozent der Einwohner in der Landwirtschaft tätig - entweder direkt oder indirekt (zum Beispiel als Verkäufer_innen auf Märkten).[...] Weitere 14,9 Prozent der Erwerbstätigen sind im Dienstleistungssektor beschäftigt, 5,7 Prozent in der Industrie.[...] Obwohl sowohl afghanische Regierungsbehörden als auch viele große Firmen ihren Sitz in Kabul haben, ist die Arbeitslosigkeit in der Hauptstadt sehr hoch. Oft stellen korrupte Einstellungspraktiken erhebliche Hindernisse für den Berufseinstieg für qualifizierte Nachwuchskräfte dar.[...]

 

Hinzu kommt, dass die Hauptstadt Kabul, sowie viele andere Großstädte in Afghanistan, in den letzten Jahren ein starkes Bevölkerungswachstum erfahren hat - nach aktuellen Schätzungen leben zwischen sieben und acht Millionen Menschen in Kabul. Hohe Zahlen an Rückkehrer_innen aus den Nachbarländern Pakistan und Iran sowie Binnenvertriebene steigern den Druck auf die Aufnahmekapazitäten der Stadt, insbesondere mit Blick auf den Zugang zu Versorgungsleistungen und den Wohnungs- und Arbeitsmarkt.[...] Als Folge dieser Dynamiken steht eine Überfüllung von informellen Siedlungen, in denen Menschen kaum Chancen auf feste Arbeit haben - aktuell besteht Kabul zu circa 75 Prozent aus informellen Siedlungen.[...] Hinzu kommt ein natürliches Bevölkerungswachstum, welches zu einer enormen Verjüngung der Stadt führt: Nahezu zwei Drittel der Bevölkerung Kabuls sind unter 25 Jahre alt.305 Besonders für diese jungen Menschen ist es schwierig, sich in dem ohnehin schon strapazierten Arbeitsmarkt zurechtzufinden.

 

Infolge der angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt lebt die große Mehrheit der Einwohner Kabuls unterhalb der Armutsgrenze von

 

1.150 Afghani (20 US-Dollar) pro Monat: laut einer Studie von 2014 betraf dies rund 78 Prozent der Haushalte in der Hauptstadt.306 Kinderarmut ist besonders ausgeprägt in Kabul - Anfang 2017 arbeiteten mindestens 100.000 Kinder auf der Straße als Tagelöhner.[...]

 

Bamiyan und Panjshir gehören zu den ärmsten Gebieten in Zentralafghanistan, in denen die Mehrheit der Bevölkerung von der Landwirtschaft abhängig ist. Zugang zu Land ist rar und insbesondere für Fremde kaum möglich. Aufgrund der Armut und Perspektivlosigkeit verlassen vor allem junge Menschen die Gegenden, um in Kabul Arbeit zu finden. Die APPRO schreibt über die Situation in Bamiyan: ‚Die meisten Einwohner von Bamiyan arbeiten in der Landwirtschaft und es gibt wenig Industrie in der Provinz. Daher gibt es sehr wenige bezahlte Beschäftigungsmöglichkeiten, insbesondere außerhalb der Stadt Bamiyan. Nepotismus dominiert die wenigen Beschäftigungsmöglichkeiten'.[...] Die Provinzen Bamiyan und Panjshir sind zudem dadurch gekennzeichnet, dass sie ethnisch homogen sind. In Bamiyan leben fast ausschließlich Hazara, in Panjshir Tajiken. Die Menschen in den Dörfern kennen sich gegenseitig und sind oftmals miteinander verwandt. Es ist so gut wie unmöglich für Fremde, sich in diesen Gebieten niederzulassen. Panjshir ist dafür bekannt, dass die Einwohner die Zugänge zu ihrer Provinz kontrollieren und es Fremden nicht erlauben, sich niederzulassen. Bamiyan ist zudem nur unter großen Gefahren zu erreichen, da die Fahrt von Kabul und Mazar-i-Sharif nach Bamiyan durch sehr unsichere Gebiete führt, darunter die Provinzen Maidan Wardak und Parwan. Taliban kontrollieren die Straßen, die nach Bamiyan führen und haben Straßensperren und Checkpoints errichtet.

 

Mazar-i-Sharif ist die Hauptstadt der Provinz Balkh. Laut dem UNHCR, zitiert von EASO, haben sich in den Jahren 2015 und 2016 fast 20.000 Binnenvertriebene sowie weitere 6.000 Rückkehrer_innen neu in Balkh, und zwar zumeist in und um Mazar-i-Sharif, niedergelassen.[...] Nach dem Ende der Talibanherrschaft erlebte Balkh zunächst eine vergleichsweise gute wirtschaftliche Entwicklung aufgrund der stabilen Sicherheitslage in Balkh und der geographischen Lage in Nordafghanistan, mit Verbindungen zu Zentralasien. Die Provinz ist stärker industrialisiert und verfügt über eine Reihe von Unternehmen und Firmen, die Arbeitsmöglichkeiten bieten. Seit 2013 hat sich die wirtschaftliche Lage jedoch deutlich verschlechtert, u.a. durch den Abzug militärischer Stützpunkte. Mittlerweile gibt es deutlich weniger Arbeitsplätze und weniger wirtschaftliche Aktivitäten, auch aufgrund der verschlechterten Sicherheitslage. Laut dem UNHCR ist es sehr schwer für Binnenvertriebene und Rückkehrer_innen, eine Arbeit zu finden.[...] 85 Prozent der Haushalte leben unterhalb der Armutsgrenze.[...] APPRO berichtet über die Situation in Balkh: ‚Es gibt Einstimmigkeit darüber, dass der Zugang zu Beschäftigung stark durch Korruption und Nepotismus eingeschränkt wird. Bestechung ist eine Notwendigkeit, um eine Anstellung zu bekommen, auch wenn der Kandidat oder die Kandidatin über die nötigen Qualifikationen verfügt.'

 

Herat gilt als Knotenpunkt für regionalen Handel zwischen Afghanistan und den Nachbarländern Iran und Turkmenistan. Die Wirtschaft der Stadt wird seit jeher vom Textilgewerbe dominiert - haben in den letzten Jahren eine erhöhte Anzahl an Importen aus dem Iran sowie stetig fallende Konsumzahlen von Mitarbeiter_innen internationaler Nichtregierungsorganisationen, die seit dem Einsatz der US-Streitkräfte zu den Hauptkunden von kleinen und mittleren Unternehmen zählten, zu einer Wirtschaftskrise geführt.[...]

 

Laut Berichten gibt es kaum Festanstellungen in der Stadt, die große Mehrheit der Erwerbstätigen arbeitet als Tagelöhner oder ist selbstständig. Expert_innen schätzen, dass mehr als die Hälfte aller Berufstätigen in Herat als Tagelöhner arbeitet.314 Ähnlich wie in Kabul ist Arbeitslosigkeit ein sehr großes Problem: Für Jugendliche über 15 Jahren wird die Arbeitslosenquote auf circa 59 Prozent beziffert. [...] Laut APPRO ist der Zugang zu Arbeit von Diskriminierung und Nepotismus geprägt.[...] Die Armutsquote für Herat liegt über dem nationalen Durchschnitt: 82 Prozent der Haushalte leben in Armut.[...]

 

[...]

 

Rückkehrer_innen erfahren in Afghanistan zudem häufig soziale Stigmatisierung. Personen, die Zeit im Ausland verbracht haben, werden innerhalb der afghanischen Gesellschaft oft als Fremde wahrgenommen. Afghan_innen, die als Kleinkinder mit ihren Familien in die Nachbarländer wie den Iran geflohen sind oder dort geboren wurden, sind mit den kulturellen Gepflogenheiten in Afghanistan nicht vertraut. Sie sind zudem an ihrer Sprache, ihrer Kleidung und ihrem Verhalten leicht zu erkennen.[...] [...] Die öffentliche Wahrnehmung von Rückkehrer_innen bezieht sich aber nicht ausschließlich auf kulturelle Differenzen zum Rest der afghanischen Bevölkerung. So berichten der Informationsbund Asyl und Migration und andere Studien, dass häufig ein Stigma als Versager auf Personen lastet, die aus dem Ausland zurückkehren. [...] Darüber hinaus kann eine Abschiebung nach Afghanistan zu der Annahme führen, dass die Person aufgrund krimineller Machenschaften das Land verlassen musste. Wenige Afghan_innen sind sich der oft anspruchsvollen Rechtslage rund um Asylverfahren und Bleiberecht in den Zielländern bewusst.[...]

 

[...]

 

Afghanische Staatsangehörige, die lange im Iran gelebt haben oder dort aufgewachsen sind, sind in Afghanistan als solche zu identifizieren.

 

Die Identifikation erfolgt aufgrund der Sprache, äußerer Merkmale wie Kleidung oder Bartwuchs, fehlender Kenntnisse der Kultur und der sozialen Regeln sowie aufgrund des Verhaltens.[...] Insbesondere Afghan_innen, die als Kleinkinder mit ihren Familien in die Nachbarländer geflohen sind oder dort geboren wurden, sind mit den kulturellen Gepflogenheiten in Afghanistan nicht vertraut.

 

[...]

 

Eine Reihe von Studien hat sich mit der Integration und den damit verbundenen Problemen für junge Rückkehrer_innen aus dem Iran beschäftigt.[...] So wurde in Interviews mit betroffenen Afghan_innen, die über ihre Rückkehr sprachen, neben der Arbeits- und Wohnungssuche besonders die gesellschaftliche Integration als Herausforderung genannt.[...] Viele Afghan_innen haben negative Vorurteile gegenüber dem Iran. Rückkehrer_innen, die mit einem iranischen Akzent sprechen oder aufgrund anderer Merkmale wie zum Beispiel ihres Kleidungsstils mit dem Iran in Verbindung gebracht werden, erfahren oft Diskriminierung und Ausgrenzung innerhalb der afghanischen Gesellschaft.[...]

 

Die gesellschaftliche Diskriminierung erschwert die Chancen, eine Arbeit und eine Wohnung zu finden.[...] Rückkehrer_innen aus Europa, die vor ihrer Flucht in Pakistan oder dem Iran lebten, verfügen zudem häufig nicht mehr über familiäre Netzwerke in Afghanistan, was ihre Situation zusätzlich erschwert [...].

 

Eine weitere Studie zeigt, wie schwer es jungen Rückkehrer_innen aus dem Iran fiel, sich an die traditionellen und oft sehr konservativen gesellschaftlichen Normen zu gewöhnen und sich entsprechend zu verhalten.[...]

 

[...]

 

Viele Rückkehrer_innen, die im Iran aufgewachsen sind, haben auch im Iran eine starke gesellschaftliche Diskriminierung erfahren und daher nur eine geringe Schulbildung. Human Rights Watch dokumentierte wie afghanische Flüchtlinge im Iran unter der fehlenden Anerkennung als Flüchtlinge, sowie unter Diskriminierung, rassistischen Übergriffen und einem Mangel an Grundversorgungsleistungen leiden.[...] In Kombination mit fehlenden Netzwerken macht dies es für sie noch schwerer, in Afghanistan ein Einkommen zu erwirtschaften, das ihr Überleben sichert."

 

Die soeben wiedergegebenen Ausführungen finden sich großteils - und zum Teil wortident - auch in der in das Verfahren eingeführten Anfragebeantwortung von AMNESTY INTERNATIONAL vom 08.01.2018 zur Situation in Afghanistan im Verfahren betreffend einen Asylwerber vor dem Verwaltungsgericht Leipzig zur Zl. AZ: 1 K 825/16.A.

 

8. Auszug aus der gutachterlichen Stellungnahme des Ländersachverständigen Dr. RASULY vom 23.10.2015 zur Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul im Verfahren betreffend einen anderen Asylwerber vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Zl. W119 2006001-1:

 

"Versorgungs- und Sicherheitslage in der Stadt Kabul:

 

Betreffend die Versorgungs- und Sicherheitslage in Kabul habe ich in Kabul vom 24.08. bis zum 03.09.2015 Forschungen angestellt. Außerdem habe ich bis Mitte Oktober durch meine Mitarbeiter in Kabul Informationen zu diesem Thema erhalten. Meine persönlichen Beobachtungen in Kabul umfassten folgende Schritte:

 

1. Ich habe in Kabul zivile Angestellten und Beamten des Staates, Angehörige der Sicherheitsministerien und Vertragsbedienstete zu diesem Zweck befragt und Zahlen betreffend das Gehaltsschema der Ministerien und Firmen gesammelt.

 

2. Ich habe auch Privatfirmen, wie Laden- und Firmenbesitzer und Geschäftsmänner, Pendler aus den umliegenden Regionen von Kabul und aus anderen Provinzen, die nach Kabul kommen und arbeiten bzw. Arbeit suchen, befragt.

 

3. Ich habe Studenten, Politiker, Hoteliers, Straßenkinder, Rückkehrer aus dem Ausland, die auf der Straße leben, Straßenbettler, Geschäftsleute und Familien vom 06. - 09.01.2015 in Kabul angetroffen und sie befragt.

 

4. Meine Mitarbeiter haben ihre diesbezüglichen Beobachtungen in meinem Auftrag bis Mitte Oktober fortgesetzt und ihre Informationen mir telefonisch übermittelt. Nach diesen

 

Informationen und nach meinen Beobachtungen in Kabul möchte ich das folgende Gutachten zur derzeitigen Versorgungs- und Sicherheitslage in Kabul erstatten:

 

Versorgungslage in Kabul:

 

In Kabul ist die Versorgungslage verschieden zu beurteilen: In Kabul gibt es alle Konsumgüter, die man in Europa vorfindet, d.h. man kann in Kabul jede Konsumware finden, die man in Österreich kaufen kann.

 

Allerdings sind die Preise der meisten Luxuswaren unerschwinglich, und ein Afghane mit dem Gehalt eines Lehrers oder eines Soldaten oder eines Hilfsarbeiters kann sich nicht diese Waren leisten.

 

Versorgungslage für Unterschicht und Rückkehrer ohne Familienrückhalt:

 

Die Waren, die für Grundversorgung benötigt werden, sind auch für die breite Schicht der Kabuler Bevölkerung, die zunehmend aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit verarmen, sehr teuer geworden, z.B. Lebensmittel, Kleidung, Medikamente und Miete. Für einen Afghanen, der als Lehrer oder Hilfsarbeiter oder Soldat in Kabul lebt, sind die Preise dieser Waren derzeit sehr hoch. Sie können sich und ihre Familie in Kabul mit notwendigsten Grundnahrungsmitteln ernähren, aber nicht ausreichend, sodass die Mehrheit der Unterschicht in Kabul im Winter vor Hunger, Kälte, und Krankheiten nicht geschützt ist. Die Unterschicht ist froh, wenn sie täglich zwei Mal am Tag Brot und Tee und Gemüse, welche sie sich leisten können, als Hauptspeise vor sich finden. Mindestens 20% der Kabul Bevölkerung sind sehr verarmt; sie sind teilweise die internen Flüchtlinge, können manchmal nur einmal am Tag für ihre Familie Brot und Tee besorgen. Diese Familien können sich Monate lang kein Fleisch leisten, und sie wären froh, wenn sie bei einer Totenzeremonie oder einer anderen Almosen-Gabe etwas Fleisch oder Reis oder etwas anderes zubereitetes Essen vielleicht in der Woche einmal zu sich nehmen könnten. Wenn es die internationale Hilfe, die sehr spärlich ist, und Almosengabe in der Gesellschaft nicht gäbe und wenn die Flüchtlinge im Ausland ihre Familien nicht unterstützen könnten, würde unter diesen 20% der Bevölkerung in Kabul im Winter eine Hungersnot ausbrechen.

 

Behausung:

 

Die Hilfsarbeiter leben meistens am Rande der Stadt Kabul in Slums, oder mehrere Personen mieten ein Zimmer, wo sie unter sehr schwierigen und menschenunwürdigen Bedingungen leben. Sie haben großteils keine Wasch-und Kochgelegenheit, keinen Strom und Heizung und keinen geschützten Mietvertrag und sind jederzeit von Verlust der Behausung bedroht. Diese Situation ist auch dadurch bedingt, dass hunderttausende Menschen aus den unruhigen Provinzen sich, seit dem Beginn der Kriege im Norden, nach Kabul begeben haben, mit der Hoffnung, in Kabul in Sicherheit zu leben und Arbeit zu finden. Ein Großteil von Rückkehrern, die aus dem Iran oder Pakistan abgeschoben werden, gehört zu dieser Kategorie der Menschen in Kabul.

 

Versorgungslage für Rückkehrer mit Familienrückhalt aus der Mittel- und Oberschicht:

 

Personen, die in Kabul eine eigene Wohnung oder ein Haus besitzen und mindestens einen kleinen Laden betreiben oder Familien haben, zu denen sie hinziehen könnten, haben keine Versorgungsschwierigkeiten. Besonders die Jugendlichen werden von ihren Eltern und leiblichen Brüdern langfristig aufgenommen und auch versorgt.

 

Unter engen Verwandten gibt es eine traditionelle verpflichtende Solidarität, dass kein enges Familienmitglied vom Hause der Familie verstoßen wird. Solange einer der Elternteile am Leben ist, ist der Rückkehrer am Erbe beteiligt. Ausgenommen die Jugendlichen, die in die Drogenszene geraten und mit ihren Familien nicht auskommen. Diese behausen unter den Brücken und in Abbruchhäusern in Kabul.

 

Fachkräfte wie gute Köche, gut ausgebildete Mechaniker, Krankenschwester, gute Buchhalter, soweit sie eine Arbeit finden und benötigt werden, können mit ihrem Gehalt in Kabul ohne besondere Probleme leben. Berufsgruppen mit hoher Verdienstmöglichkeiten, wie Ärzte, junge qualifizierte Ingenieure, qualifizierte Universitäts-Lehrkräfte, Dolmetscher und Übersetzer, Anwälte, Investoren usw. haben auch ohne Aussicht auf Anstellung die Möglichkeit, sich in Kabul und in Umgebung niederzulassen und von ihrem Einkommen sich und ihre Familien zu unterhalten. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass durch den Abzug der ausländischen Truppen und Schließung ihrer Armeebasen, sowie mit dem Abzug der ausländischen NGO auch tausende Fachkräfte, wie Dolmetscher, Ingenieure und Investoren arbeitslos geworden sind. Denn Millionen Arbeitsstellen wurden von ISAF-Truppen und von ausländischen NGO in Afghanistan nach dem Sturz des Taliban-Regimes geschaffen. Diese Arbeitsplätze gehen großteils verloren, und auch Fachkräfte kommen dadurch wirtschaftlich in Bedrängnis.

 

Gerade diese Berufsgruppe versucht, mit ihren Ersparnissen und durch den Verkauf ihrer Häuser und Autos ins Ausland zu gelangen, weil die derzeitige schlechte Wirtschafts- und Sicherheitslage diesen Menschen Zukunftsangst erzeugen.

 

Betreffend die Jugendlichen ohne Fachausbildung und jugendlichen Rückkehrer aus den Nachbarländern habe ich verschiedene Parkanlagen, abgelegene Straßenränder und Abbruchhäuser in Kabul besucht und solche Personen angetroffen. Ich habe beobachten können, dass tausende junge Menschen in den öffentlichen Parkanlagen und in Abbruchhäusern sich zusammentun und dort großteils Drogen einnehmen und ein elendes Leben führen. Nach meiner Information sind diese Jugendlichen meisten Personen, die aus den Nachbarländern wie dem Iran abgeschoben worden sind, oder sie sind Kriegskinder, die Waisen waren oder ihre Familienbindung verloren haben. Ein Großteil dieser jungen Menschen stammt aus den Provinzen, die mit der Hoffnung nach Kabul gekommen waren, Arbeit zu finden.

 

Die Zahl der Arbeitslosigkeit ist unter den Jugendlichen in Afghanistan im Allgemeinen und in Kabul im Besonderen derzeit im Wachsen. Nach meiner Schätzung beträgt die Arbeitslosigkeitsrate unter den Jugendlichen derzeit mehr als 60 Prozent. Gäbe es keine Familiensolidarität, so würden sofort noch weitere tausende Jugendliche in Kabul verelenden.

 

Afghanische Firmen:

 

Bedingt durch die Streitigkeiten zwischen den Präsidentschaftskandidaten, die noch andauern, und den Beginn des Abzuges der ISAF Truppen haben viele Firmen geschlossen, weil einerseits ein Teil von diesen unsicher sind und ins Ausland abwandern, und andererseits sie keine Förderung bzw. Projekte mehr von den Ausländern bekommen, ihre Firmen weiter in Betrieb zu halten. Dieser Zustand hat auch dazu geführt, dass tausende Menschen ihre Arbeitsplätze verloren und keine Aussicht auf Arbeit in naher Zukunft haben.

 

Für diese Menschen hat der afghanische Staat und die internationale Gemeinschaft, allen voran der UNHCR, keine geeignete Programme, um einerseits die Unternehmer zu stärken und den Abbau der wenigen Arbeitsplätze zu verhindern, andererseits die Verelendung der jungen Menschen zu verhindern. Sie haben keine Programme zum Schutz der Jugendlichen und keine Programme, die den Jugendlichen Zukunftsperspektive zur Verbesserung ihrer Lage bieten könnten.

 

Ich habe diesbezüglich auch die Politiker in Kabul befragt. Sie waren teils gleichgültig gegenüber diesem Problem und teils ratlos. Sie haben zugegeben, dass sie keine Möglichkeit haben, solche Missstände zu beseitigen, weil ihnen die finanzielle Unterstützung fehlen würde. Sie hätten keine geeigneten Infrastrukturen, z.B. Wohnheime, genügende geeignete Krankenhäuser, Rehabilitationszentren und geeignete Fachkräfte. Fachkräftemangel ist auch dadurch entstanden, dass ein Teil der Fachkräfte das Land allmählich verlässt.

 

Durch die Befragung über die Versorgungslage habe ich folgende Informationen über Lebensunterhaltskosten und Löhne und Gehälter in Kabul gesammelt, die einen Überblick darüber geben kann, wie hoch die Lebensunterhaltskosten sind und wie weit die jugendlichen Rückkehrer sich ohne Schwierigkeiten in Kabul niederlassen können oder auch nicht.

 

Lebenskosten in Kabul:

 

Ausgehend von diesen Informationen braucht z.B. ein junger Rückkehrer in Kabul, um ein menschenwürdigen Leben führen zu können, im Monat für sich alleine folgendes am Mittel:

 

Eine Einzelperson braucht in Kabul ca. USD 350.- für seine Lebensunterhaltskosten. Diese Kosten beinhalten: Zimmermiete, Kleidung, Transport und Essen.

 

Eine Familie benötigt ca. USD 600.- im Monat in Kabul für ihre Lebensunterhaltskosten. Diese Kosten beinhalten Wohnungsmiete, Kleidung, Fahrtkosten und Lebensmittelkosten.

 

Wenn eine Person oder eine Familie schon im Vorhinein ein eigenes Privat-Haus oder Privatwohnung in Kabul hat, können diese Kosten sich auf $250.- bzw. auf $400 minimieren.

 

Ich möchte im Folgenden die gesammelten Daten bezüglich der Versorgungslage ausgehend von Gehältern, Einkommenshöhe und Einkommensquellen der Menschen in Kabul auflisten, damit ich die derzeitige Versorgungslage in Kabul verständlicher darstellen kann:

 

1 USD ist derzeit 62.- Afghani

 

[...]

 

Studenten:

 

Studenten aus den Provinzen bekommen teilweise Wohn- und Verpflegungsmöglichkeit. Aufgrund der Sicherheitslage und der besseren Qualifikation versuchen die Studenten, an den Kabuler Universitäten unterzukommen, obwohl in den meisten Provinzen Universitäten und Fachschulen gegründet worden sind. Aber aufgrund der Mangel an Fachlehrer ist die Qualität dieser Unis und Fachschulen sehr schlecht. Deshalb können auch die Absolventen der Universitäten des Landes auf dem Arbeitsmarkt sich nicht durchsetzen.

 

Zusammenfassung:

 

Kosten für Lebensunterhalt einer Person pro Monat $ 200 -300.-

 

Kosten für Lebensunterhalt einer Familie pro Monat: $ 500.-

 

Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeitsrate kann die Mehrheit der Menschen in Kabul diese Summe nicht immer aufbringen, und sie leben ständig mit Schwierigkeiten im Hinblick auf Versorgung. Zudem hat sich die Anzahl der Personen in einem Haushalt, die vom Gehalt von einer Personen leben, erhöht. Bis zum Abzug der ausländischen Truppen und NGO haben oft von einer Familie zwei Personen Gehälter bezogen, und sie könnten locker ihre Familie ohne Sorgen ernähren.

 

Wenn die Rückkehrer nach Kabul keine familiäre Bindung und kein Geldmittel bei sich haben, werden sie mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein. Wenn sie Fachausbildung haben, könnten sie sich im Lauf der Zeit etwas verdienen bzw. eine Stelle bekommen oder ein Geschäft gründen. Aber wenn junge Leute keine Bildung- und keine Fachausbildung haben, werden sie mit Sicherheit in ernster Versorgungssituation geraten. Die jungen Leute in den Dörfern laufen zu den Taliban über, damit sie etwas verdienen können. Auf diesem Weg sind viele Fronten in Dörfern entstanden, die mit den Taliban Ideologisch nichts am Hut haben, aber sie arbeiten für sie als Söldner.

 

Die schlechte Versorgungslage in Kabul hat auch dazu geführt, dass Gewaltbereitschaft und Raubüberfälle in den Außenbezirken Kabuls vermehr zugenommen haben.

 

Ad Sicherheitslage in Afghanistan:

 

Eine Einnahme der Stadt Kabul durch die Taliban in naher Zukunft ist nicht möglich, weil die internationale Gemeinschaft die Fortsetzung der Präsenz ihrer Truppen in Afghanistan angekündigt hat. Diese Ankündigung schreckt die Taliban ab, eine Großoffensive gegen die Stadt Kabul vorzunehmen. Aber monatlich werden durch Attentate der Taliban in der Stadt Kabul durchschnittlich, nach meiner Schätzung, 50-80 Personen verletzt und getötet. Solche Vorfälle sind unvorhersehbar, und kann nicht vorausgesagt werden, welche Zivilisten-Gruppe und welche Orte in Kabul diese Attentate treffen.

 

Kabul ist seit Juli diese Jahres von den afghanischen Sicherheitskräften und den Sicherheitskräften der ISAF soweit geschützt, dass die Taliban bis jetzt keine Chance hatten, diese Stadt, wie z.B. Kunduz, Faryab oder Helmand, umfassend anzugreifen und kurzfristig auch unter ihrer Kontrolle zu bringen. Der Grund für die strengen Maßnahmen liegt darin, dass alle Ministerien, ausländischen Botschaften und internationalen Organisationen sich in Kabul befinden. Die Taliban versuchen immer wieder, durch schwere Selbstmordattentate, Raketenabwurf auf Kabul und Angriffe auf bestimmte staatliche Einrichtungen und auf Häuser der Politiker auf sich aufmerksam zu machen. Dadurch werden im Durchschnitt im Monat in der 5-Millionen-Stadt mehr als fünfzig Zivilisten getötet und verletzt.

 

Die Attentate finden nicht jeden Tag in Kabul statt, obwohl die Taliban gerne jeden Tag einen Anschlag verüben würden. Aufgrund der starken Präsenz der Sicherheitskräfte in sensiblen Ecken und Plätzen, sowie vor den Amtsgebäuden, können sie ihre Pläne nicht jeden Tag durchführen. Aber jeden Tag sind Taliban-Selbstmörder in verschiedenen Ecken unterwegs und versuchen, die ausländischen Konvois und die Konvois der Sicherheitskräfte anzugreifen. Es wird auch jeden zweiten Tag gemeldet, dass die afghanischen Sicherheitskräfte Selbstmordattentäter vor der Ausführung ihrer Terrorakte erwischt hätten.

 

Derzeit verlassen tausende Menschen die Stadt Kabul; insgesamt reisen hunderttausend Menschen monatlich aus ganz Afghanistan aus. Dies ist unter anderem auf die Angst der Menschen zurückzuführen, weil sie nicht wissen, wie die Sicherheitslage in den nächsten Monaten und Jahren sich in Afghanistan entwickeln würde. Heuer sind die Taliban in hunderten Distrikten in Afghanistan aktiv, und ich gehe davon aus, dass mehr als 70% der außerstädtischen Gebiete des Landes unter direkter oder indirekter Kontrolle der Taliban stehen.

 

Die Bezirke außerhalb der Stadt Kabul sind nicht so sicher wie die Stadt Kabul. Die Bevölkerung dieser Bezirke beschwert sich darüber, dass die Sicherheitskräfte in diesen Regionen sich nicht kümmern würden. Diese Bezirke sind zwar nicht unter der Kontrolle der Taliban, aber sie sind nicht so sicher wie die Stadt Kabul."

 

Diese Ausführungen hat der Ländersachverständige in der Folge in mehreren gutachterlichen Stellungnahmen im Wesentlichen bestätigt (vgl. BVwG 22.09.2016, W151 1435926-2; 28.07.2016, W154 2009999-1 ua.; 03.02.2017, W217 2122982-1).

 

9. Auszug aus einem Beitrag von STAHLMANN, Überleben in Afghanistan? Asylmagazin 3/2017, zur humanitären Lage von nach Afghanistan rückkehrenden afghanischen Staatsangehörigen:

 

"[...]

 

I. Politische Rahmenbedingungen

 

I.1. Allgemeine ökonomische Lage

 

Genauso wie die Dunkelziffer zu Opfern von Krieg und Gewalt in Afghanistan immens ist, können auch aktuelle Wirtschaftsdaten in Afghanistan nur dazu dienen, Tendenzen nachzuzeichnen. Große Teile des Landes sind aufgrund der Sicherheitslage für internationale Akteure nicht mehr ausreichend zugänglich und von Seiten der afghanischen Regierung besteht kein Interesse daran, mit schlechten Nachrichten Schlagzeilen zu machen. Daten wie Arbeitslosenrate oder Bruttoinlandsprodukt wurden so im letzten Jahr gar nicht mehr erhoben.[...] Selbst die Einwohnerzahl Afghanistans oder von Städten wie Kabul beruht auf Schätzungen. Noch viel weniger weiß man, wie viele Menschen tatsächlich im Land auf der Flucht sind, wie viele akut humanitäre Hilfe bräuchten oder wie viele letztes Jahr an vermeidbaren Krankheiten gestorben sind.[...]

 

Was die verfügbaren Daten jedoch deutlich belegen, ist ein massiver Einbruch der Wirtschaft seit 2012. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts ist von 14,4 % in 2012 auf 0,8 % in 2015 gesunken.[...] Schon im Jahr 2015 hat UNHCR die Zahl der ‚Persons of Concern' (also der Personen, die unter das Mandat der Organisation fallen, im Fall Afghanistan vor allem Binnenvertriebene und Rückkehrende) mit 1,77 Millionen veranschlagt.[...] Für 2017 geht das UNOCHA davon aus, dass 9,3 Millionen Afghanen akut von humanitärer Hilfe abhängig sein werden, was einen Zuwachs von 13 % im Vergleich zum Vorjahr bedeutet.[...]

 

Für den wirtschaftlichen Einbruch ist zunächst der Abzug der internationalen Truppen, als dem größten singulären Auftraggeber und Dienstleistungsempfänger, verantwortlich. Die sich konstant verschlechternde Sicherheitslage und fehlende Rechtsstaatlichkeit reduzieren Investitionen durch private Akteure, aber auch durch Staaten und Organisationen im Rahmen internationaler Entwicklungshilfe, auf ein Minimum.[...]

 

[...]

 

I.2. Binnenvertreibung und Landflucht

 

Insbesondere die Städte sind zudem mit immenser Zuwanderung konfrontiert. Dies ist mehreren Faktoren geschuldet: Der Hauptgrund sind akute Kampfhandlungen, da diese nicht nur eine Gefahr für Leib und Leben darstellen und für viele persönliche Verfolgung begründen, sondern auch die sensiblen landwirtschaftlichen Abläufe stören. Nur wenige Bauern können eine ausgefallene Ernte wirtschaftlich verkraften und haben dann häufig keine andere Wahl, als ihr Land zu verkaufen.

 

Die Landflucht ist aber auch dem Versagen der Institutionen geschuldet, die für die Aufrechterhaltung rechtstaatlicher Strukturen relevant sind, sowie der Macht krimineller Organisationen und ihrer Verquickung mit politisch machtvollen Akteuren.[...] Land wird so zur leichten und, aufgrund seines hohen Wertes, zur willkommenen Beute für Raub.[...]

 

Vom Land in die Städte müssen auch viele derer fliehen, die aufgrund von Naturkatastrophen, wie zum Beispiel Erdbeben, Überschwemmungen, Dürren, Lawinen oder Erdrutschen, ihre Lebensgrundlage verlieren. Laut UNOCHA waren in den letzten zehn Jahren jährlich im Schnitt 235.000 Menschen in Afghanistan von Naturkatastrophen betroffen.[...] Amnesty International hat schon im April 2016 die Zahl intern Vertriebener auf 1,2 Millionen geschätzt.[...] Bis Jahresende wurden 2016 zudem insgesamt 623.345 Menschen kriegsbedingt vertrieben. Das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012,[...] wobei das nur diejenigen sind, die offiziell registriert wurden. [...]

 

I.3. Vertreibung aus Nachbarländern

 

Dazu kommen all jene, die zwangsweise aus den Nachbarländern nach Afghanistan zurückkehren müssen. Nicht nur der Iran schiebt vermehrt afghanische Staatsangehörige ab, auch Pakistan hat im letzten Herbst entschieden, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden.[...] Der Termin ist so nicht zu halten und wurde inzwischen auch vertagt.[...] An dem Druck auf afghanische Staatsangehörige, der unter anderem mittels Drohungen, Inhaftierung, Erpressung und unrechtmäßige Verhaftung etabliert wird, das Land zu verlassen, wird das aller Voraussicht nach nichts ändern.[...] Zusätzlich zu den 1,6 Millionen afghanischen Staatsangehörigen, die in Pakistan bisher einen Flüchtlingsstatus hatten, betrifft diese Entscheidung nach Schätzungen der pakistanischen Regierung zumindest eine weitere Million illegal dort lebender afghanischer Personen. Allein 2016 sind so 1.034.000 Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt,[...] wobei als ‚Rückkehrende' auch jene gelten, deren Eltern schon in Pakistan geboren wurden.[...]

 

Diese erzwungene Rückkehr wird nicht nur aufgrund der akut drohenden Gefahren durch Krieg und Verfolgung von vielen verurteilt.[...] Die immensen Zahlen von Rückkehrenden verschärfen auch weiter die schon bestehende humanitäre Notsituation.

 

I.4. Begrenzte Niederlassungsoptionen für Rückkehrende

 

[...]

 

Die über 600.000 kriegsbedingt Binnenvertriebenen im Jahr 2016 illustrieren zudem eindrücklich, dass selbst viele derer, die ihr Land bisher nicht verloren hatten und vor Ort sozial eingebunden waren, es kriegsbedingt nicht schaffen, in ihren Heimatorten zu überleben.

 

Die Mehrheit der Rückkehrenden hat daher keine andere Wahl als in Städten Zuflucht zu suchen, wobei die Situation in Kabul als Beispiel dienen kann. Als Hauptzielort der größten Rückkehrbewegung der Geschichte ist die Stadt seit 2001 von 500.000 auf geschätzte 5-7 Millionen Einwohner angewachsen,[...] ohne dass der Aufbau der Infrastruktur auch nur annähernd damit hätte Schritt halten können.

 

[...]

 

II. Notwendigkeit sozialer Netzwerke

 

Unter den Rückkehrenden, aber auch unter den Binnenvertriebenen, sind insbesondere jene akut in ihrem Überleben gefährdet, die keine verlässliche Unterstützung durch bestehende soziale Netzwerke haben.

 

Es ist kein neues Phänomen, dass Zugang zu Arbeit, Wohnraum und überlebenswichtigen Ressourcen in Afghanistan in der Regel über bestehende Kontakte und klientelistische Netzwerke funktioniert.[...]

 

II.1. Arbeits-und Wohnungsmarkt

 

Angesichts fehlender sozialstaatlicher Sicherheiten stellt der Zugang zum Arbeitsmarkt die Grundbedingung für sozio-ökonomische Sicherung dar. Schon 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote jedoch bei offiziell 40 %,[...] wobei der Anteil in den Städten deutlich höher liegt, da die Landwirtschaft, in der 60 % der erwerbstätigen Bevölkerung tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.[...] Zudem betrifft der weitgehende Abzug internationaler Truppen, der Einbruch von Investitionen und die Verringerung der Entwicklungshilfe vor allem das Baugewerbe und den Dienstleistungssektor.[...] Der allgemeine Niedergang der Wirtschaft trifft somit insbesondere die Stadtbevölkerung, die im Gegensatz zur Landbevölkerung keine Chance auf subsistenzbasierten Lebensunterhalt hat. [...]

 

Nicht nur für die traditionellen Familienbetriebe, die die Privatwirtschaft prägen, sondern auch für den Staatsdienst gilt, dass Arbeitsplätze nur über Beziehungen zu erlangen sind.[...] Schulische und berufliche Qualifikationen sind demgegenüber auf dem Arbeitsmarkt von geringer Bedeutung.[...]

 

Auch die gezielte Beratung von Rückkehrenden in Kabul stößt hier an ihre Grenzen, denn wo es keine Arbeitsplätze gibt, können auch keine vermittelt werden. Die Auswertung der Erfahrung mit weitergehender Rückkehrförderung abgelehnter Asylsuchender durch Großbritannien, wie zum Beispiel zur beruflichen Qualifizierung oder der Förderung eines eigenen Gewerbes, hat ebenfalls ergeben, dass dies ohne unterstützende Netzwerke und lokalen Schutz keine nachhaltige Perspektive eröffnet.[...] Die zunehmende Alltagskriminalität und insbesondere die Bedrohung, denen privatwirtschaftliche Betriebe gerade in den Städten durch kriminelle Banden ausgesetzt sind, versetzt Einzelpersonen in Fällen von Raub, Schutzgelderpressung oder Entführungen in eine noch ungeschütztere Lage als sie für jene besteht, die zumindest über soziale Netzwerke verfügen.

 

Fehlender Zugang zum Arbeitsmarkt schränkt in der Konsequenz auch den Zugang zum Wohnungsmarkt ein, soweit dieser angesichts des immensen Zuzugs in die Städte noch als ‚Markt' bezeichnet werden kann. Schon der ‚Afghan Living Conditions Survey 2013-2014' hat ergeben, dass 73,8 % der städtischen Bevölkerung in Slums leben.[...]

 

Die Kaltmiete für eine Wohnung liegt laut IOM zwischen 400 und 600 US-$ pro Monat, was mit durchschnittlichen afghanischen Löhnen von 80-120 US-$ offensichtlich nicht bezahlbar ist.[...] Sofern überhaupt noch Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben allerdings in aller Regel nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen.[...] Man benötigt also sowohl soziale Netzwerke, als auch außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben.

 

II.2. Gesundheitsversorgung

 

Ohne Perspektive auf Arbeit oder Wohnraum zu sein, ist nicht nur im harschen afghanischen Winter lebensbedrohlich. UNOCHA warnt eindringlich, dass die katastrophalen sanitären und hygienischen Bedingungen, der fehlende Zugang zu Trinkwasser und die Enge in den Slums die akute Gefahr der unkontrollierten Ausbreitung von Krankheiten und Seuchen begründet.[...] Unter- und Mangelernährung[...] und die schlechte Qualität der medizinischen Versorgung, so es sie denn gibt, potenzieren diese Gefahr. Die in den Städten verfügbare, jedoch weitgehend kommerzielle, medizinische Versorgung zwingt Betroffene zudem häufig in die Verschuldung, welche die gesundheitlichen Gefahren von Unterernährung und Obdachlosigkeit nach sich zieht.[...]

 

Nicht nur für Kinder, Alte und Kranke, sondern auch für junge, gesunde Erwachsene sind diese Umstände lebensgefährlich. Selbst Hilfe in Notfällen ist mit den 15 verfügbaren Krankenwagen in der Millionenstadt Kabul offensichtlich nicht gewährleistet.[...] Doch mit dem Transport ins Krankenhaus alleine wäre Notfallversorgung auch noch nicht gesichert, denn es bedarf wiederum privater Hilfe, um die Medikamente und häufig auch die Ärztinnen und Ärzte zu bezahlen, Essen gebracht zu bekommen, gepflegt zu werden und nicht zuletzt muss jemand Hab und Gut der verletzten Person schützen.

 

[...]

 

II.3. Überleben aus eigener Kraft?

 

Einschätzungen zur allgemeinen ökonomischen Lage, die sich weiterhin auf Daten von 2012 beziehungsweise auf noch ältere Urteile beziehen wie sie häufig in Bescheiden des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zu finden sind,[...] können weder den Zusammenbruch der afghanische Wirtschaft seither, noch die grundlegend infrage gestellten Überlebenschancen angesichts der sich abzeichnenden humanitären Katastrophe berücksichtigen. Die Annahme, dass zumindest alleinstehende junge gesunde Männer und kinderlose Paare ihr Überleben aus eigener Kraft sichern können, ist durch die derzeitige humanitäre Lage inzwischen jedoch grundlegend infrage gestellt.

 

Selbst wer vom Land in die Städte flieht und dort keine Angehörigen hat, die in der Lage und bereit sind, Arbeit und Wohnraum zu bieten, hat auf dieser Grundlage keine Chance mehr, sich oder seine Familie zu ernähren. Das trifft jedoch umso mehr diejenigen, die aus langjährigem Exil zurückkehren oder dort sogar aufgewachsen sind, denn sie hatten auch keine Chance, alternative Unterstützungsnetzwerke aufzubauen oder die komplexen Regeln des alltäglichen Überlebens in Afghanistan zu lernen.

 

Manche derer, die aus den Nachbarländern zurückkehren, werden noch ein paar Monate von Erspartem leben oder von den Einmalzahlungen von UNHCR ein paar Wochen lang Lebensmittel kaufen können. Eine nachhaltige Lösung oder Aussicht auf Arbeit oder Wohnraum wird damit aber nicht geschaffen.[...] Dasselbe gilt für diejenigen, die finanzielle Rückkehr- oder Wiedereingliederungshilfen im Zuge einer Abschiebung aus Europa erhalten, sich aber nicht auf die Unterstützung eines vertrauenswürdigen, ökonomisch abgesicherten Netzwerks verlassen können.

 

[...]"

 

10. Auszug aus dem Referat von RUTTIG vom 12.04.2017 zum Alltag in Afghanistan:

 

"[...]

 

2. Eine dreifache Krise

 

Heute herrschen in Afghanistan drei Krisen, die eng miteinander verwoben sind: Eine Krise der Sicherheitslage, eine tiefe sozial-ökonomische Krise sowie eine politisch-institutionelle Krise.

 

2.1. Sicherheitslage

 

Die Krise der Sicherheitslage lässt sich an der Intensität des Konfliktes festmachen. Allerdings werden wichtige Angaben dazu nicht mehr veröffentlicht, etwa die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle.

 

Einen ersten öffentlich zugänglichen Indikator bilden die Zahlen der Zivilopfer des Krieges, die seit 2009 von der UNO erfasst werden. Mit einer Ausnahme haben diese Zahlen Jahr für Jahr zugenommen. Grundlage sind die Angaben der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA), die nur über Fälle berichtet, die von drei voneinander unabhängigen Quellen bestätigt werden. Man kann wohl davon ausgehen, dass die Zahlen der Zivilopfer des Konfliktes noch höher sind als angegeben.[...]

 

Die Zahlen der Binnenflüchtlinge sind ein zweiter Indikator. Diese sind ebenfalls so hoch wie nie zuvor. Im Jahr 2016 hat sich diese Zahl gegenüber dem Vorjahr in etwa verdoppelt und erreicht nun 1,2 Millionen. Im letzten Jahr gab es Vertriebene in 31 der 34 Provinzen des Landes, davon 73 % im Norden. Als dritte Größe, die eine Verschlechterung der Sicherheitslage belegt, dient das Ausmaß der Kontrolle der Taliban über das Territorium. Kriterien für den Begriff ‚Kontrolle des Territoriums' sind zwar umstritten, aber der Trend lässt sich klar erkennen: Seit ihrem Sturz im Jahr 2001 haben die Taliban nie so viele Gebiete kontrolliert bzw stark beeinflusst - 43 % Prozent des Landes. Der amerikanische Special Inspector for Reconstruction in Afghanistan spricht von einer Zunahme um 10 % von Distrikten, die die Taliban zwischen 2015 und 2016 unter ihren Einfluss gebracht haben.[...]

 

2.2. Sozial-ökonomische Situation

 

Die sozial-ökonomische Krise zeichnet sich dadurch aus, dass in den letzten 15 Jahren, also während der militärischen Intervention ausländischer Streitkräfte, rund 95 % der Gelder in den militärischen Bereich geflossen sind. Es bleibt also wenig für soziale Zwecke in einem Land, das nach wie vor zu den ärmsten der Welt zählt. Es gibt sehr unterschiedliche Zahlen dazu. Bei einem Wert von 1,80 USD pro Tag leben nach Angaben des Präsidenten beispielsweise fast zwei Drittel der Afghanen unter der Armutsgrenze.

 

Afghanistan ist weltweit das Land, das am meisten von externen Mitteln abhängig ist. Das norwegische Forschungsinstitut Prio schreibt in einer Studie, dass 64 % aller Mittel, die dem afghanischen Staat zur Verfügung stehen, aus ausländischen Quellen stammen.[...]

 

Wichtig ist, dass in den letzten zwei, drei Jahren das Wirtschaftswachstum, das 2010-2012 im Durchschnitt bei 10 % lag, unter die Ein-Prozentmarke gesunken ist. Dem gegenüber steht ein relativ starkes Bevölkerungswachstum, von dem allerdings niemand mit Sicherheit sagen kann, wie groß es ist. Eigentlich weiß keiner, wie viele Menschen in Afghanistan leben. Die letzte Volkszählung fand 1979 statt, basierte auf Stichproben und konnte wegen der sowjetischen Intervention nicht zu Ende geführt werden. Heutige Schätzungen beruhen auf dieser Grundlage. Selbst mit solchen grundlegenden Daten muss man also sehr vorsichtig sein.

 

Die Consulting Firma Samuel Hall hat zusammen mit dem Dänischen Flüchtlingsrat eine Studie über städtische Armut in Afghanistan gemacht. Man findet dort Zahlen zu Mazar-e Sharif, Herat, Kandahar, Jalalabad und Kabul.[...] Ein Drittel der Bevölkerung kann demnach die täglichen Nahrungsbedürfnisse nicht sichern, ein zweites Drittel ist dicht an dieser Situation. Gemäss internationalen Organisationen hat die akute Unterernährung in 17 von 34 Provinzen Afghanistans ‚emergency levels' erreicht. 60 % der Kinder unter fünf Jahren sind zu klein für ihr Alter.

 

2.3. Politische Krise

 

Die politische Krise ist mit der Einheitsregierung vom Jahr 2014 verbunden. Die afghanischen Behörden wollten die Präsidentschaftswahlen selbst durchführen, nur mit ausländischen Geldern, aber ohne internationale Expertise. Fazit: Das Ergebnis wurde nicht von allen Hauptakteuren akzeptiert.

 

Der damalige U.S.-State Secretary John Kerry hat darauf eine Einheitsregierung zwischen den beiden Hauptkontrahenten erzwungen. Seitdem sind sie immer noch damit beschäftigt, Positionen, v.a. auf Provinzebene, untereinander aufzuteilen. Bis heute sind zahlreiche Kabinettposten immer noch nicht besetzt, weil sich die Streitigkeiten beider Regierungslager im Parlament fortsetzen.

 

Die Schattenseite dieser Beschäftigung der Regierung mit sich selbst ist, dass die wichtigen Fragen - gerade im Sicherheitsbereich und noch viel stärker im sozial-ökonomischen Bereich - nicht angegangen worden sind, weiter vor sich her gären und so neue Probleme schaffen.

 

Ein weiteres Problem sind die Parlamentswahlen, die seit über zwei Jahren überfällig sind, weil es nicht zu den Wahlreformen gekommen ist, die sich die Einheitsregierung vorgenommen hatte. Wahlsystem und Wahldistrikte sind bisher nicht definiert. Es sieht so aus, dass Afghanistan einfach eine Runde der Parlamentswahlen aussetzen könnte.

 

Ohne Wahlen in den Provinzen entsteht in einem Staat, der überzentralisiert ist, ein großes institutionelles Loch. Das Präsidentenamt ist stärker als das Kabinett und auch das Parlament. Damit fehlt eine Gewalten-Balance. Wenn man die Militarisierung der Gesellschaft und des Konfliktes hinzunimmt, so wächst die Gefahr des Autoritarismus.

 

3. Soziales und Wirtschaft

 

3.1. Statistiken

 

Zahlen und Statistiken sind in Afghanistan unzuverlässig. So gibt es beispielsweise unterschiedliche Angaben über die Anzahl der Bezirke (Districts) im Land. Das zentrale Statistikamt spricht von etwa 370 Distrikten, die Wahlkommission von 408/09, der amerikanische Special Inspector nennt wieder eine andere Zahl.

 

Es ist einer der Trends in der afghanischen Politik, dass Zahlen (um Erfolge zu kommunizieren) teilweise maßlos übertrieben werden und relativiert werden müssen. Ein Beispiel liefern die jüngsten Diskussionen über die Einschulung von Kindern. Das Bildungsministerium hatte von 11 Millionen Kindern gesprochen, die die Schulen besuchen würden. Der neue Bildungsminister sagte hingegen Ende 2016 öffentlich, dass diese Zahl maßlos übertrieben sei. Er geht davon aus, dass sechs Millionen Kinder in die Schule gehen. AAN hat darauf selbst nach Zahlen geforscht und das Ergebnis war, dass niemand konkret weiß, wie viele Lehrer und wie viele Schüler es effektiv gibt. Einige der von der Regierung geführten Schulen existieren nicht, werden aber trotzdem bezahlt. Genauso wie es sog. ‚Geister-Schulen' gibt, existieren auch ‚Geister-Lehrer', ‚Geister-Ärzte', ‚Geister-Polizisten' oder ‚Geister-Soldaten'. Budgets werden abgeschöpft und die Gelder auf dem Weg in die Provinzen und Distrikte manchmal abgezweigt. Das ist eine der Hauptformen der oft diskutierten Korruption.[...]

 

[...]

 

3.2. Kabul: Wachstum der Bevölkerung

 

Wie gesagt ist die Bevölkerungszahl Afghanistans unbekannt. Man weiß auch nicht, wie viele Einwohner Kabul hat. Man liest manchmal Angaben von bis zu sieben Millionen für Kabul. Es ist manchmal unklar, auf welches Gebiet sich die Angaben beziehen. Administrativ zu unterscheiden sind ja die Stadt Kabul und 14 ländlichen Distrikte, die dann zusammen die Provinz Kabul bilden. Das ergibt wahrscheinlich mehr als sieben Millionen Einwohner.

 

Städte im Orient sind eher Konglomerate von Dörfern. Man siedelt nach wie vor in relativ kompakten, ethnischen Clustern. Die Hazaras ziehen zu den Hazaras, Paschtunen zu Paschtunen etc., was sich in den letzten Jahren durch ethnische Spannungen in Afghanistan auch wieder verstärkt hat.

 

Die meisten der Millionen Menschen, die im Großraum Kabul leben, sind Binnenflüchtlinge. In den 40 Jahren des Konfliktes haben sich verschiedene Wellen von Menschen nach Kabul bewegt, weil sie damals dachten, sie würden Infrastruktur erhalten und Arbeit finden. Das hat natürlich zu einer Überlastung geführt. Kabul war vor ein paar Jahrzehnten als Hauptstadt Afghanistans für eine Bevölkerung von 750 000 Einwohnern konzipiert worden. Heute hat man es mit dem Zehnfachen zu tun. Neuzuzügler hatten sich in den Außenbezirken angesiedelt. In der Zwischenzeit sind sie fast zu Stadtzentren geworden. Man hat dadurch ein riesiges Wachstum der Stadt, ohne dass die Infrastruktur mitgewachsen ist. Viele Viertel Kabuls sind Slum-ähnliche Siedlungen. Dazu kommen zuletzt die Gruppen neuer Binnenflüchtlinge, die sich häufig in primitiven, provisorischen Unterkünften bis hin zu Zelten aufhalten und versuchen, sich als Tagelöhner durchzuschlagen.

 

Ob jetzt diese Binnenvertriebenen der letzten zwei, drei Jahre bei den sieben Millionen mitgezählt sind, ist mir nicht bekannt. Was man aber sehr gut sehen kann, ist die Polarisierung der Gesellschaft. Armut ist natürlich von der Quantität her sehr viel stärker vertreten als Reichtum. Die Schere in der Gesellschaft ist weiter aufgegangen. Man sieht es auch an der Art und Weise, wie man sich in Kabul ansiedelt.

 

3.3. Entstehung einer Art ‚Mittelschicht'

 

Es gibt inzwischen zunehmend modernere Wohnungen, die sogenannten Shahrak, einschließlich von ‚Gated Communities', wo Leute mit Geld eine Eigentumswohnung erwerben. Die Pyramide fängt mit den Afghanen an, die mit ausländischen Firmen und ausländischen Militärs im Geschäft sind - das sind die Eigentümer der Shahraks. Auf einer Ebene darunter kommen diejenigen dazu, die für internationale Organisationen, die UNO, Botschaften, Militärs oder NGOs arbeiten, die eher gut und regelmäßig bezahlen. Diese Angestellten haben ebenfalls angefangen, sich Wohnungen zu kaufen in neuen, zum Teil umzäunten Wohnvierteln, wo nicht jedermann reinkommt. Von außen sieht es nach Wohlstand aus (es unterschiedet sich natürlich auch erheblich von den Slum-ähnlichen Siedlungen), aber die Qualität ist nicht mit Europa zu vergleichen: Wenn jemand die Wohnung oben im Block bekommen hat, merkt er manchmal, dass der Wasserdruck nicht bis in obere Stockwerke reicht. Die Angehörigen dieser Mittelschicht haben oft ihr gesamtes Kapital in eine Wohnung investiert. Sie befürchten, dass sie bei erneuten Kampfhandlungen alles verlieren könnten. Die Verbesserung ist also nicht gesichert, die Mittelschicht prekär. Es gibt keine Garantie, dass man sich auf diesem Niveau halten kann.

 

3.4. Versorgung

 

3.4.1. Wasser- und Luftverschmutzung

 

Der Zugang zu Wasser und Strom hat sich in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Bei der zentralen Wasserversorgung ist die Wasserqualität aber schlecht geworden. Die Stadt Kabul war ja für viel weniger Einwohner geplant. Es gibt zwar ein öffentliches Wasserleitungssystem, das aber meistens nur stundenweise funktioniert.

 

Die meisten Menschen wohnen aber nicht in diesen neuen Appartementblocks, sondern in den Slums. Sie beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen, oder man legt Brunnen an und zapft Grundwasser. Das lag früher in drei bis fünf Metern Tiefe. Jetzt ist man bei 70 bis 80 Metern angekommen. Man bringt dieses Wasser besser nicht zu einer Qualitätskontrolle. Wer es sich leisten kann, Ausländer und einige Afghanen, ist auf Flaschenwasser umgestiegen.

 

Kabul soll zu den 10 oder 15 am meisten verschmutzten Städten weltweit zählen. Es gab schon 2002 Luftuntersuchungen in Kabul. Als diese Zahlen rausgekommen sind, haben 90 % des damaligen kanadischen Truppenkontingents einen Antrag auf Verlegung in die Heimat gestellt.

 

[...]

 

3.4.2. Ernährung

 

In Kabul und in den anderen großen Städten findet man an Lebensmitteln im Grunde alles. Obst, Gemüse und Brot, alles ist da.

 

Die Studie von Samuel Hall über Armut warnt aber: ‚Food availability is not a major determinant of food insecurity.'[...] Das heißt, Lebensmittel sind zwar vorhanden, aber man muss sie sich auch leisten können.

 

Samuel Hall hat sich die fünf großen Städte angesehen und mehrere tausend Familien befragt. Es ist wohl die Studie mit dem breitesten Sample. Die Armutsziffern liegen demnach zwischen 69 % und 85 %. Wenn die Armut landesweit um 59 % beträgt, würde das bedeuten, dass es der ländlichen Bevölkerung vergleichsweise besser geht als der städtischen. Das hat sicher mit der Binnenflucht und der Verslumung der großen Städte zu tun, und dass Eigenversorgung auf dem Lande leichter ist.[...]

 

Samuel Hall hat herausgefunden - und das wird auch von UN-Berichten bestätigt -, dass die Menschen sich zwar ernähren können, dabei handelt es sich aber um Mangelernährung. Laut Samuel Hall essen zum Beispiel nur 36 % der Kabuler Obst. Im Wesentlichen essen die Menschen Reis und Brot. Fleisch kommt oft nur ein Mal pro Monat auf den Tisch.[...] Den Mangel an Kalorien soll der Gebrauch von viel billigem Speiseöl in fast allen Speisen kompensieren. Dies hat natürlich Auswirkungen auf die Gesundheit.

 

[...]

 

3.5. Lebensunterhalt

 

Die Sorgen, die die Einwohner Kabuls am meistens beschäftigen, kann man mit drei Worten zusammenfassen: Mangel an Sicherheit, prekäres Einkommen - also jeden Tag muss man sehen wie man durchkommt und seinen Lebensunterhalt bestreiten kann - und dann natürlich auch Korruption.

 

Die Studie über Armut von Samuel Hall enthält detaillierte Angaben zu Wohnung und Ernährung. Interessant ist ein Vergleich zwischen Kabul, Herat und Jalalabad. Jeweils nur 5 % oder 6 % der befragten Haushalte in diesen drei Städten gaben an, dass sie eine reguläre regelmäßige Anstellung oder Einkommen haben, während der Rest Tagelöhner, Gelegenheitsarbeiter oder im informellen Gewerbe sind.[...] Viele arbeiten zuhause, machen ein Handwerk und das, was Afghanen ‚self employment' nennen. Man versucht also, sich als selbstständig durch das Leben zu schlagen. Familien sind ja in Afghanistan sehr groß. In der Regel wird ein Durchschnittshaushalt mit acht Personen angenommen. Inzwischen ist es auch so - gerade durch diese Ballung in den Städten -, dass Familien sich oft im größeren Rahmen wieder zusammenschließen. Ein Kollege muss zum Beispiel als Alleinversorger die 21 Kinder von mehreren im Kampf gefallenen Brüdern mitversorgen. Das ist kein Einzelfall. Das findet man in Afghanistan immer wieder.

 

Wenn die Familienoberhäupter ein bisschen älter sind und die Kinder ein bisschen größer, wird schon versucht, ihnen eine Bildung zu ermöglichen, da die Chancen auf einen gut und regelmäßig bezahlten Job in einer ausländischen oder einheimischen Institution höher sind. Die anderen Kinder werden schon im frühen Alter in die verschiedenen Bereiche des Berufs-lebens geschickt.

 

[...]

 

3.5.2. Armut in den großen Städten

 

Eine Aussage der Samuel Hall-Studie, die von ihrer Methodologie her überzeugend ist, lautet, dass die städtischen Armen ärmer werden. Armut liegt demnach bei 85 %. 60 % der Haushalte haben von einer Verschlechterung ihrer ökonomischen Situation in den letzten zwölf Monaten berichtet; in Herat und Mazar-e Sharif noch stärker als in Kandahar, Jalalabad und Kabul. Drei Viertel sagen, es liege vor allem an den erhöhten Lebensmittelpreisen.[...]

 

Es gibt von Ausnahmen abgesehen (Armee, Polizei) kein Rentensystem, keine Sozialversicherung. Die Versicherung in Afghanistan ist die große Familie und die Möglichkeit, beispielsweise nach dem Ableben eines Ehemannes zu einem überlebenden Bruder zu gehen, der sich aus traditionellen Gesichtspunkten in der Gesellschaft um Frau oder Frauen und Kinder der anderen Brüder kümmern muss und sich dem nur sehr schwer entziehen kann.

 

[...]

 

5. Migration

 

[...]

 

5.2. Rückkehrer

 

Die meisten Rückkehrer nach Kabul sind afghanische Flüchtlinge, die in Iran oder Pakistan gelebt haben und dort, zu großen Teilen unter erheblichem Druck, repatriiert werden. Es gibt freiwillige Rückkehr von dort, die auch nur mehr oder weniger freiwillig ist. Dagegen fallen zahlenmäßig die Abgeschobenen und freiwilligen Rückkehrer aus unseren Ländern nicht ins Gewicht. Aber letztendlich kommen alle in dieselbe Situation, egal auf welche Art und Weise man zurückkommt:

 

Nämlich, dass eine Infrastruktur letztendlich nicht vorhanden ist, die sie auffängt; dass die afghanische Regierung weder Institutionen noch Budget noch überhaupt eine Idee hat, wie man mit dieser großen Zahl an Menschen umgeht.

 

1,2 Millionen Menschen sind insgesamt im letzten Jahr aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekommen. Und aus Europa ein paar Hundert. Wir haben jetzt als Stichprobe nachgeforscht, was mit denen passiert, die abgeschoben worden sind, aber auch was mit freiwilligen Rückkehrern geschieht.[...] Aus Deutschland sind das seit Dezember 2016 knapp hundert Personen (Stand März 2017). Es gibt ein paar Übergangsregelungen, darunter eine Übergangsunterkunft, die von der International Organization for Migration gemanagt wird und sich auf dem Gelände des afghanischen Flüchtlingsministeriums befindet; dort dürfen Abgeschobene 14 Tage lang bleiben, dann müssen sie sich eine eigene Unterkunft suchen. Das ist auch alles toll ausgestattet für afghanische Verhältnisse. Aber nach den 14 Tagen ist Schluss.

 

Dann muss man sehen, wo man bleibt, auf einem Arbeitsmarkt, der schon völlig überlastet ist und wo natürlich auch die Rückkehrer aus Pakistan und Iran dominieren, die auch alle Beschäftigungen suchen, sodass im Grunde die Chancen letztendlich gering sind. Das trifft v.

a. auf Rückkehrer zu, die keine Familie mehr haben, oder wo die Familie außer Landes ist. Die über IOM angebotenen Unterstützungsleistungen sind überbürokratisiert, zu gering und laden zudem zum Missbrauch ein. Viele nutzen das Geld, um sich wieder zumindest bis in den Iran durchzuschlagen. [...]

 

[...]"

 

11. Auszug aus der Arbeitsübersetzung des EASO-Berichts von Jänner 2018 über Netzwerke in Afghanistan:

 

"[...]

 

4. Möglichkeit der Ansiedlung in städtischen Zentren ohne Netzwerk

 

4.1. Zugang zum Arbeitsmarkt

 

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist das Um und Auf jeder erfolgreichen Wiederansiedelung. Der Arbeitsmarkt in Afghanistan ist angespannt und die Arbeitslosigkeit hoch. Aufgrund der informellen Natur des Arbeitsmarktes lässt sich die Arbeitslosenrate schwer abschätzen. Sogar für gut ausgebildete und gut qualifizierte Personen ist es nach Angaben der Quelle innerhalb der VN schwierig, ohne ein Netzwerk einen Arbeitsplatz zu finden, wenn man nicht empfohlen oder einem Arbeitgeber vorgestellt wird [...]. Afghanistan wird von Transparency International als höchst korrupt qualifiziert [...]. Vetternwirtschaft ist gang und gäbe und die höchsten Posten in der Verwaltung und in der Gesellschaft werden ganz allgemein aufgrund von Beziehungen oder Bekanntschaften vergeben. Aus der Sicht eines Arbeitgebers ist es zweckdienlich, jemanden aus dem eigenen Netzwerk einzustellen, da er ganz genau weiß, was er bekommt. Wird jemand aus der Großfamilie eingestellt, so verbleiben die Ressourcen innerhalb des familiären Netzes. Eine im Jahr 2012 von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitsgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen, was wichtig sei, um zu einer Anstellung zu gelangen [...]. Analysen von Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise darüber, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte.

 

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gibt es lokale Websiten, die offene Stellen im öffentlichen und privaten Sektor annoncieren [...]. Die meisten Afghanen sind unqualifiziert und Teil des informellen, nicht-regulierten Arbeitsmarkts. Der Arbeitsmarkt besteht großteils aus manueller Arbeit ohne Anforderungen an eine formelle Ausbildung und spiegelt das niedrige Bildungsniveau wieder [...].

 

Ein Mitarbeiter einer Botschaft vor Ort beschrieb, wie Tagelöhner von der Straße weg angeheuert werden. In Kabul gibt es öffentliche Plätze, wo sich Arbeitssuchende und Nachfragende treffen. Diese Treffpunkte befinden sich an speziellen Orten der Stadt. Hier treffen sich Arbeitssuchende und Anbieter von Arbeit am frühen Morgen und einigen sich über Tagelöhnerschaft und kurzzeitige geringfügige Tätigkeiten, für gewöhnlich manuelle Hilfsarbeit, manchmal auch qualifiziertere Arbeit. Durch das Mitführen seiner eigenen Werkzeuge oder Ausrüstung zeigt der Arbeitssuchende, was er kann. Nach einem kurzen Gespräch und einer Prüfung entscheidet der "Arbeitgeber", wer angeheuert wird. Viele bewerben sich, aber nicht jeder wird engagiert. Der Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können [...].

 

4.2. Zugang zu Unterkunft

 

In den großen Städten werden die meisten Menschen an den Vermietmarkt verwiesen, da der Erwerb von Eigentum teuer ist. Nach Angaben der IOM betrugen die Mietkosten für eine Wohnung im Jahr 2016 zwischen USD 400 und 600 im Monat, dazu kommen Wasser und Strom in der Höhe von ca. USD 40 [...]. Der vom statistischen Zentralamt Afghanistans herausgegebene staatliche Verbraucherpreisindex für März 2014 bestätigt, dass nach der Übergangsphase 2014 die Mietpreise in Kabul wie auch an anderen Orten bedingt durch eine gesunkene Nachfrage gefallen sind [...]. Nach Angaben einer Quelle in den Vereinten Nationen, die im Mai 2017 befragt wurde, hat das Preisniveau aufgrund der großen Zahl an Rückkehrern aus Pakistan wieder angezogen [...]. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, anstelle

 

einer Wohnung ein Zimmer zu mieten, was - so Landinfo - billiger ist

 

[...].

 

[...]

 

Für Fahrer und andere Reisende, Tagelöhner, Straßenverkäufer, Jugendliche, unverheiratete Männer und andere, die über keine permanente Wohnmöglichkeit in der Gegend verfügen, gibt es im ganzen Land Angebote geringerer Qualität. Dabei handelt es sich um einfache, große Zimmer, wo Tee und einfaches, billiges Essen aufgetischt wird. Um wenig Geld kann man hier auch übernachten. Nach Quellen von Landinfo beträgt der Preis zwischen 30 und 100 Afghani (in etwa USD 0,4 bis 1,4) pro Nacht. Diese Lokale werden örtlich als chai khana bezeichnet - generell bekannt als samawar - oder übersetzt Teehaus. In Kabul und den anderen großen Städten gibt es viele solcher chai khana und wenn ein derartiges Haus voll ist, lässt sich Kost und Logis leicht anderswo finden. Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden, und es ist nichts Ungewöhnliches, dass Gäste alleine kommen [...]. Der afghanische Forscher Hafizullah Emadi bezeichnet die chai khana als wichtige Treffpunkte und Orte der Sozialisierung [...]. Von der afghanischen Botschaft in Oslo werden sie wie folgt beschrieben:

 

Eine Besonderheit der afghanischen Gesellschaft sind die typischen chai khanas oder Teehäuser, die es überall im Lande in großer Zahl gibt. Oft wunderschön dekoriert, sind die chai khanas ein zentraler Treffpunkt in jeder Stadt und jedem Dorf Afghanistans [...].

 

Nach Angaben einer diplomatischen Quelle sind sie ein Männern vorbehaltener Ort; es wäre eine Seltenheit, würden Frauen ein chai khana unter Tags besuchen; dass Frauen über Nacht bleiben, ist undenkbar [...].

 

[...]

 

4.3. Hilfe aus entfernten Netzwerken

 

In einer Empfehlung des UNHCR an Asylländer im Juni 2005 heißt es, dass Hilfe und Unterstützung durch Netzwerke auf Gebiete beschränkt seien, wo diese Netzwerke physisch präsent sind (153). Nach Einschätzung von Landinfo verliert der Faktor geografische Nähe durch technologische Entwicklungen an Wichtigkeit für den Zugriff auf Netzwerke. Wie schon erwähnt, ist der Besitz von Mobiltelefonen "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten.

 

Geld kann über das Bankensystem überwiesen werden, doch nicht alle Afghanen verfügen über ein Bankkonto. Dies gilt vor allem für die ländliche Bevölkerung. In der Durchschnittsbevölkerung ist das Vertrauen in Banken und den Bankenapparat gering [...]. Wer das Bankensystem nicht nutzen kann oder möchte, kann Geld über ein informelles Geldüberweisungssystem (hawala) überweisen. Es gibt ein gut etabliertes System für grenzüberschreitende Zahlungen und Überweisungen, in das die Menschen Vertrauen haben. Ein gewisser Prozentsatz der transferierten Summe wird als Gebühr verrechnet. Geld kann in alle Landesteile überwiesen werden, auch in die und aus den Nachbarstaaten, etwa Iran und Pakistan [...]."

 

12. Auszug aus den Anmerkungen von UNHCR von Dezember 2016 zur Situation in Afghanistan:

 

"Nach Auffassung von UNHCR muss man bei einer Bewertung der gegenwärtigen Situation in Afghanistan sowie des Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender berücksichtigen, dass sich die Sicherheitslage seit Verfassen der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender (April 2016) insgesamt nochmals deutlich verschlechtert hat.

 

[...]

 

Mit Blick auf eine regionale Differenzierung der Betrachtung der Situation in Afghanistan möchte UNHCR anmerken, dass UNHCR aufgrund der sich ständig ändernden Sicherheitslage bei der Feststellung internationalen Schutzbedarfes selbst keine Unterscheidung von ‚sicheren' und ‚unsicheren' Gebieten vornimmt. Für jede Entscheidung über den internationalen Schutzbedarf von Antragstellern aus Afghanistan ist es vor allem erforderlich, die Bedrohung unter Einbeziehung sämtlicher individueller Aspekte des Einzelfalls zu bewerten. Die Differenzierung ist also in erster Linie eine individuelle, welche die den Einzelfall betreffenden regionalen und lokalen Gegebenheiten berücksichtigt.

 

Dasselbe gilt auch hinsichtlich der Feststellung einer internen Schutzalternative. Ein pauschalierender Ansatz, der bestimmte Regionen hinsichtlich der Gefahr von Menschenrechtsverletzungen, wie sie für den Flüchtlingsschutz oder den subsidiären Schutz relevant sind, als sichere und zumutbare interne Schutzalternative ansieht, ist nach Auffassung von UNHCR vor dem Hintergrund der aktuellen Situation in Afghanistan nicht möglich. Vielmehr ist stets eine sorgfältige Einzelfallprüfung erforderlich.

 

UNHCR möchte des Weiteren betonen, dass die Situation in Afghanistan volatil ist. Vor diesem Hintergrund ist zu unterstreichen, dass die Bewertung des Schutzbedarfs stets aufgrund aller zum Zeitpunkt der Entscheidung verfügbaren, neuesten Erkenntnisse erfolgen muss. Bei einem bereits länger zurückliegenden negativen Abschluss eines Asylverfahrens wird somit häufig Anlass bestehen, aufgrund der Veränderung der Faktenlage eine neue Ermittlung des Schutzbedarfs vorzunehmen.

 

[...]

 

Im Hinblick auf die Prüfung der Zumutbarkeit einer Neuansiedlung wird in den UNHCR-Richtlinien betont, dass den Antragsteller keine ‚unzumutbaren Härten' treffen sollten, was die Sicherheit, die Achtung der Menschenrechte und die Möglichkeiten für das wirtschaftliche Überleben unter menschenwürdigen Bedingungen im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet anbelangt. Dazu sollten Punkte, wie beispielsweise Zugang zu einer Unterkunft, die Verfügbarkeit grundlegender Infrastruktur und Zugang zu grundlegender Versorgung wie Trinkwasser, sanitärer Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung sorgfältig geprüft werden. Es bedeutet auch, nicht von interner Vertreibung bedroht zu sein.

 

UNHCR bleibt bei seiner Empfehlung, dass es ein starkes soziales Netzwerk im vorgeschlagenen Gebiet der Neuansiedlung geben muss, wenn die Zumutbarkeit einer Neuansiedlung bewertet werden soll.

 

[...]

 

[...]

 

Neue Umstände seit der Veröffentlichung der UNHCR-Richtlinien im April 2016

 

UNHCR erhält seine in der Veröffentlichung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom April 2016 vorgenommene Bewertung der Risikoprofile aufrecht. Seit der Veröffentlichung dieser Richtlinien hat sich allerdings die Gesamtsicherheitslage in Afghanistan weiter rapide verschlechtert. Diese veränderte Tatsachengrundlage sollte bei der Prüfung der internationalen Schutzbedürftigkeit und der Prüfung der Möglichkeit der Rückkehr von abgelehnten Asylsuchenden in Übereinstimmung mit nationalen Gesetzen und Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention berücksichtigt werden.

 

Verschärfung des Konflikts: Im Laufe des Jahres 2016 hat sich der innerstaatliche bewaffnete Konflikt in Afghanistan weiter ausgebreitet und ist durch eine Fragmentierung und Stärkung der aufständischen Kräfte gekennzeichnet. Die Konfliktparteien ergreifen keine ausreichenden Maßnahmen, um Zusammenstöße und zivile Opfer zu minimieren, wie es den Verpflichtungen des Humanitären Völkerrechts entspräche.[...] Der Konflikt ist charakterisiert durch immer wiederkehrende Konfrontationen und groß angelegten militärischen Operationen zwischen nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen und den afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräften (ANDSF), durch den Konflikt zwischen verschiedenen nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen - insbesondere zwischen den Taliban und den neu auftretenden Gruppen, die mit ISIS verbunden sind - und Zusammenstößen zwischen verschiedenen Stämmen, oftmals stellvertretend für die Konfliktparteien. Darüber hinaus finden unvermindert gezielte Gewaltakte, Übergriffe und Einschüchterungen durch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen gegen Einzelpersonen und Familien, die vermeintlich mit der Regierung verbunden sind, statt.

 

Daneben gibt es eine deutlich erkennbare Umstellung der Taktiken bei den Taliban vom herkömmlichen Guerillakrieg hin zu großangelegten Angriffen insbesondere in städtischen Gebieten, die Zivilisten in großem Maße gefährden. Solche Angriffe führen zu Fluchtbewegungen in erheblichem Umfang.

 

Anstieg an zivilen Opfern: In der ersten Jahreshälfte 2016 dokumentierte das Menschenrechts-Team der Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) 1.601 zivile Tote und 3.565 verletzte Zivilpersonen.[...] Dies stellt einen Anstieg um weitere 4 Prozent gegenüber der absoluten Zahl von Opfern im Verhältnis zu den ersten sechs Monaten 2015 dar - und ist gleichzeitig die höchste Zahl an zivilen Opfern für einen Halbjahreszeitraum seit 2009. Bodenkämpfe verursachen die höchste Zahl an zivilen Opfern, gefolgt von komplexen Angriffen und Selbstmordanschlägen sowie improvisierten Sprengkörpern. Während regierungsfeindliche Kräfte weiter für die Mehrheit - 60 Prozent - der zivilen Opfer verantwortlich sind, gab es im Zeitraum Januar bis Juni 2016 auch einen Anstieg der Zahlen von Zivilisten, die durch regierungsnahe Kräfte getötet oder verletzt wurden. Während dieses Zeitraums dokumentierte UNAMA 1.180 zivile Opfer, die regierungsnahen Kräften zugerechnet wurden. Dies sind 23 Prozent der Gesamtzahl ziviler Opfer in diesem Jahr. Gleichzeitig bedeutet dies einen Anstieg um 47 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum des letzten Jahres. Zurückzuführen ist dieser Anstieg hauptsächlich auf Bodenkämpfe. Opfer explosiver Kampfmittelrückstände werden in besonderem Maße (zu 85 %) Kinder. Von UNAMA sind Berichte von Kindern dokumentiert, die beim Spiel mit Kampfmittelrückständen getötet oder verstümmelt wurden.

 

Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung durch bewaffnete Konflikte: Bis Mitte Dezember 2016 wurden mehr als 530.000 Personen neu durch Konflikte innerhalb Afghanistans in die Flucht getrieben. Diese Zahl überstieg somit die Zahl von 450.000 Personen, die im Jahr 2015 neu vertrieben wurden. Zudem kam sie zu der Zahl von Binnenvertriebenen hinzu, die schon vor längerer Zeit fliehen mussten und die geschätzt bei mehr als 1,2 Millionen insgesamt liegt.[...] Aus 31 der 34 Provinzen mussten Menschen im Jahre 2016 fliehen und in allen 34 Provinzen von Afghanistan waren Binnenvertriebene zu finden. Die internationale humanitäre Gemeinschaft schätzt, dass im kommenden Jahr, wenn bisherige Trends sich fortsetzen, bis zu 450.000 Personen neu in die Flucht getrieben werden könnten.

 

Rückkehr in großen Zahlen unter ungünstigen Bedingungen: Ungefähr 372.000 registrierte Flüchtlinge kehrten im Jahr 2016 mehrheitlich aus Pakistan nach Afghanistan zurück. Ausgelöst wurde diese Rückkehrbewegung durch eine Zunahme des Drucks auf afghanische Staatsangehörige von offizieller Seite und der einheimischen Bevölkerung in der zweiten Hälfte des Jahres 2016, unter anderem durch Drohungen, Erpressung, unrechtmäßiger Verhaftung und Inhaftierung.[...] Zusätzlich zu den registrierten Flüchtlingen kehrten 2016 ungefähr weitere 242.000 afghanische Staatsangehörige aus Pakistan nach Afghanistan in ähnliche Umstände zurück. Mehr als 420.000 Afghanen kehrten spontan aus dem Iran zurück oder wurden von dort abgeschoben.[...] Die ungeplante und plötzliche Abreise, insbesondere aus Pakistan, verschärfte das ohnehin hohe Niveau von Vulnerabilität. Viele Familien berichteten, dass sie Wertgegenstände für einen Bruchteil des eigentlichen Wertes verkauften, oder dass sie gezwungen wurden, materielle Güter, die sie über Jahrzehnte im Exil angesammelt hatten, aufzugeben. Die Krise, die durch diese Bevölkerungsbewegungen kurz vor dem erwarteten Wintereinbruch ausgelöst wurde, veranlasste den Humanitären Koordinator der Vereinten Nationen für Afghanistan, mit einem dringenden Hilfsappell an die Öffentlichkeit zu treten, um zusätzlich über 150 Millionen US-Dollar an humanitärer Hilfe für die Notversorgung von über einer Million zurückgekehrten Menschen zu fordern.[...] Wenn der aktuelle Trend sich fortsetzt, rechnet UNHCR mit bis zu 650.000 registrierten zurückkehrenden Flüchtlingen allein im Jahr 2017.

 

Gravierende Belastungen der existierenden Aufnahmekapazitäten und Infrastruktur: Der enorme Anstieg an Rückkehrern hat zu einer extremen Belastung der ohnehin bereits überstrapazierten Aufnahmekapazitäten in den wichtigsten Städten der Provinzen und Distrikte in Afghanistan geführt, da hierdurch viele Afghanen zu der großen Zahl der Binnenvertriebenen hinzukamen, die auf Grund des sich verschlechternden Konflikts nicht in ihre Herkunftsorte zurückkehren können.

 

Die Weltbank führte die gewaltigen Herausforderungen in Bezug auf die Sicherheit und Entwicklung als Hemmnisse für die Vertrauensbildung, Investitionen und Wachstum auf. Im Jahr 2015 wurde ein Wirtschaftswachstum von 0,8 Prozent verzeichnet und es wird für 2016 ein Wachstum von 1,2 Prozent prognostiziert. Diese Werte liegen weit unter dem erforderlichen Wert für ein Land mit stark ansteigenden Fertilitätsraten und einer massiven Zahl an Rückkehrern.[...] Im Jahr 2017 werden die Wachstumsraten voraussichtlich nur einen nominellen Anstieg erfahren und im besten Fall 1,7 Prozent erreichen.

 

[...]

 

Die Zahl der Selbstmordanschläge in Kabul hat im Laufe des Jahres zugenommen. Sie sind außerdem komplexer geworden und führen zu einer höheren Zahl an Todesopfern als die sporadischen Zusammenstöße in anderen Teilen des Landes.[...]

 

Außerdem ist Kabul massiv vom starken Anstieg der Zahl der Rückkehrer aus Pakistan betroffen, mit fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und einem ähnlichen Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan, die sich in den überfüllten informellen Siedlungen in Kabul niedergelassen haben. Angesichts des ausführlich dokumentierten Rückgangs der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 ist die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen, insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, äußerst eingeschränkt.

 

Kabul ist zudem traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen aus der Zentral-Region und anderswo (insbesondere auch aus der östlichen Region des Landes und aus Kunduz). Im Jahr 2016 haben sich Primär- und Sekundärfluchtbewegungen (2.349 Familien bzw. etwa 15.500 überprüfte Personen) aus der östlichen Region weiter fortgesetzt, insbesondere aus Kot, Achin, dem Deh Bala Distrikt der Nangarhar Provinz. Dies sind Distrikte, die von den Auseinandersetzungen zwischen den Taliban und mit ISIS verbundenen Gruppen sowie von großangelegten Militäroperationen der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräften (ANDSF) und der internationalen Streitkräfte betroffen sind. Aus den Beobachtungen von UNHCR geht hervor, dass binnenvertriebene Familien sich oft deshalb in Kabul niederlassen, weil sie dort auch familiäre Verbindungen haben, im Gegensatz zu Jalalabad, wo viele andere binnenvertriebene Familien aus den gleichen Provinzen Sicherheit gesucht haben.

 

Darüber hinaus führte eine zweite Fluchtwelle aus Kunduz - als Folge der temporären Übernahme von Kunduz durch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen im Oktober 2016 - zu neuerlichen Ankünften von Binnenvertriebenen in Kabul. Die Profile der vertriebenen Familien bestehen aus einer Mischung aus Staatsbediensteten mit guten Verbindungen in die Hauptstadt und anderen Familien, die kaum eine andere Wahl hatten, als in südlicher Richtung vor den Kämpfen zu fliehen. Baghlan blieb im Jahr 2016 weiterhin zu instabil, um Sicherheit für Binnenvertriebene zu bieten. Daher flohen diese nach Kabul, wo sich Familien temporär auch in Lagern niederließen. Diese Binnenflucht geschah in einem kurzen Zyklus und die Mehrheit der Familien ist wahrscheinlich bereits wieder nach Kunduz zurückgekehrt, nachdem von den Behörden im Oktober und November gezielt Druck ausgeübt wurde, staatlich geförderte Rückkehrprogramme wahrzunehmen. Dies geschah allerdings unter Umständen, in denen die Freiwilligkeit der Rückkehr zumindest in einigen Fällen stark bezweifelt werden kann.

 

Die Wohnraumsituation sowie der Dienstleistungsbereich in Kabul sind aufgrund der seit Jahren andauernden Primär- und Sekundärfluchtbewegungen im Land, die in Verbindung mit einer natürlichen (nicht konfliktbedingten) Landflucht und Urbanisierung zu Massenbewegungen in Richtung der Stadt geführt hat, extrem angespannt. Im Jahr 2016 wurde die Situation durch den Umstand, dass mehr als 25 Prozent der Gesamtzahl der aus Pakistan zurückgekehrten Afghanen nach Kabul gezogen ist, weiter erschwert. Diese Umstände haben unmittelbare Auswirkungen auf die Prüfung, ob Kabul als interne Schutzalternative vorgeschlagen werden kann, insbesondere mit Blick auf eine Analyse der Zumutbarkeit. Die in den UNHCR-Richtlinien vom April 2016 dargestellten Erwägungen bleiben für die Bewertung des Vorhandenseins einer internen Schutzalternative in Kabul bestehen. Die Verfügbarkeit einer internen Schutzalternative im Umfeld eines dramatisch verschärften Wettbewerbs um den Zugang zu knappen Ressourcen muss unter Berücksichtigung der besonderen Umstände jedes einzelnen Antragstellers von Fall zu Fall geprüft werden.

 

[...]"

 

13. Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016:

 

"[...] Bei der Prüfung der Relevanz einer internen Schutzalternative für afghanische Antragsteller müssen die folgenden Aspekte erwogen werden:

 

(i) Der instabile, wenig vorhersehbare Charakter des bewaffneten Konflikts in Afghanistan hinsichtlich der Schwierigkeit, potenzielle Neuansiedlungsgebiete zu identifizieren, die dauerhaft sicher sind, und

 

(ii) die konkreten Aussichten auf einen sicheren Zugang zum vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet unter Berücksichtigung von Risiken im Zusammenhang mit dem landesweit verbreiteten Einsatz von improvisierten Sprengkörpern und Landminen, Angriffen und Kämpfen auf Straßen und von regierungsfeindlichen Kräften auferlegte Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Zivilisten.

 

[...] Im Lichte der verfügbaren Informationen über schwerwiegende und weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen durch regierungsfeindliche Kräfte [...] in von ihnen kontrollierten Gebieten sowie der Unfähigkeit des Staates, für Schutz gegen derartige Verletzungen in diesen Gebieten zu sorgen, ist nach Ansicht von UNHCR eine interne Schutzalternative in Gebieten des Landes, die sich unter tatsächlicher Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte [...] befinden, nicht gegeben; es sei denn in Ausnahmefällen, in denen Antragsteller über zuvor hergestellte Verbindungen zur Führung der regierungsfeindlichen Kräfte [...] im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet verfügen. UNHCR geht davon aus, dass eine interne Schutzalternative in den vom aktiven Konflikt betroffenen Gebieten unabhängig davon, von wem die Verfolgung ausgeht, nicht gegeben ist.

 

[...]

 

Ob eine interne Schutzalternative zumutbar ist, muss anhand einer Einzelfallprüfung unter vollständiger Berücksichtigung der Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet zum Zeitpunkt der Entscheidung festgestellt werden. Insbesondere stellen die schlechten Lebensbedingungen sowie die prekäre Menschenrechtssituation von Afghanen, die derzeit innerhalb des Landes vertrieben wurden, relevante Erwägungen dar, die bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer vorgeschlagenen internen Schutzalternative berücksichtigt werden müssen. UNHCR ist der Auffassung, dass eine vorgeschlagene interne Schutzalternative nur dann zumutbar ist, wenn der Zugang zu (i) Unterkunft, (ii) grundlegender Versorgung wie sanitärer Infrastruktur, Gesundheitsdiensten und Bildung und zu (iii) Erwerbsmöglichkeiten gegeben ist. Ferner ist UNHCR der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative nur dann zumutbar sein kann, wenn betroffene Personen Zugang zu einem traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gruppe im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet haben und davon ausgegangen werden kann, dass diese willens und in der Lage sind, den Antragsteller tatsächlich zu unterstützen.

 

Die einzigen Ausnahmen von dieser Anforderung der externen Unterstützung stellen nach Auffassung von UNHCR alleinstehende leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf dar. Diese Personen können unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semiurbanen Umgebungen leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen. Angesichts des Zusammenbruchs des traditionellen sozialen Gefüges der Gesellschaft aufgrund jahrzehntelang währender Kriege, der massiven Flüchtlingsströme und der internen Vertreibung ist gleichwohl eine einzelfallbezogene Analyse notwendig. [...]

 

Nach den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender in der aktuellsten Fassung vom 30.08.2018, die keine maßgebliche Änderung im Vergleich zu den UNHCR-Richtlinien vom 19.04.2016 aufweist, steht eine interne Flucht- und Neuansiedlungsalternative in Kabul allgemein nicht zur Verfügung (arg. S. 114 a.a.O.: "UNHCR considers that given the current security, human rights and humanitarian situation in Kabul, an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA) is generally not available in the city"). Unter bestimmten Umständen könnten aber alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter ohne familiäre und soziale Unterstützung in urbaner und semi-urbaner Umgebung leben, soweit diese Umgebung über die notwendige Infrastruktur und Lebensgrundlagen verfüge, um die Grundbedürfnisse des Lebens zu decken und soweit diese einer wirksamen staatlichen Kontrolle unterliegen würden (vgl. S. 109 f. a. a.O.)."

 

2. Beweiswürdigung

 

2.1. Die angeführten Feststellungen ergeben sich aus den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Akteninhalten des Beschwerdeführers. Feststellungen zu Identität, Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Muttersprache und Herkunft des Beschwerdeführers beruhen auf den diesbezüglich glaubwürdigen Angaben des Beschwerdeführers im Asylverfahren. Glaubwürdig ist auch das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinen persönlichen und familiären Verhältnissen in seinem Herkunftsstaat, im Iran und in Österreich, da keine hinreichenden Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Ausführungen hervorkamen. Weiters weist er entsprechende Orts- und Sprachkenntnisse auf Seine zudem an westlichen Werten orientierte und geprägte Lebenseinstellung wirkte auf das Gericht authentisch (zur Bedeutung des persönlichen Eindrucks, den das zur Entscheidung berufene Organ vom Asylwerber gewinnt, vgl. für viele z.B. VwGH 20.05.1999, 98/20/0505, 24.06.1999, 98/20/0435). Auch die in der mündlichen Verhandlung vom 02.07.2018 einvernommene Zeugin bestätigte die Angaben des Beschwerdeführers. Ihrer Aussage konnte gefolgt werden, da aufgrund ihres seriösen und ernsthaften Auftretens keine ihrer Glaubwürdigkeit entgegensprechende Anhaltspunkte hervorkamen. Aus amtlicher Informationslage ergibt sich weiters, dass der Beschwerdeführer unbescholten ist.

 

Im Ergebnis war daher dem Vorbringen des Beschwerdeführers hinsichtlich einer etwaigen ihn treffenden Gefährdung im Falle seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat zu folgen, da sein Vorbringen diesbezüglich hinreichend glaubwürdig war (vgl. die hier auch auf eine Refoulemententscheidung übertragbaren Erläuterungen zum Asylgesetz 1991, RV 270 BlgNR 18. GP , zu § 3, wonach im Zusammenhang mit der "Glaubhaftmachung" - bzw. der Beurteilung der Glaubwürdigkeit - lediglich die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit des festzustellenden Sachverhaltes erforderlich sei, die bereits bei geringfügigem Überwiegen der dafür sprechenden Gründe vorliege, und die dort zitierte Judikatur: VwGH 14.01.1959, 81/56, 20.10.1966, 690/66, u.a.).

 

2.2. Der hier festgestellte Sachverhalt hinsichtlich der politischen und Menschenrechtslage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers bezüglich seiner Situation im Falle seiner Rückkehr in diesen Staat beruht im Wesentlichen auf die stellvertretend für andere Informationsunterlagen in das Beschwerdeverfahren eingeführten und erörterten Berichten und Gutachten von als seriös und fachlich-kompetent anerkannten Quellen (zu den in diesen Unterlagen angeführten und bislang auch vom BFA als speziell eingerichtete Bundesbehörde als notorisch anzusehenden und daher jedenfalls auch von Amts wegen zu berücksichtigenden Tatsachen vgl. die einschlägige Judikatur z.B. VwGH 12.05.1999, 98/01/0365, und VwGH 25.11.1999, 99/20/0465; zu den laufenden Ermittlungs- bzw. Informationspflichten der Asylbehörden VwGH 06.07.1999, 98/01/0602, u.v.a.).

 

Die den Feststellungen zugrunde liegenden Ausführungen sind mit weiteren Nachweisen substantiiert, schlüssig und nachvollziehbar. Auf eine Ausgewogenheit von sowohl amtlichen bzw. staatlichen als auch von nichtstaatlichen Quellen, die auch aus verschiedenen Staaten stammen, wurde Wert gelegt.

 

Die herangezogenen Bescheinigungsmittel wurden im Hinblick sowohl auf ihre Anerkennung als seriöse und zuverlässige Quellen als auch auf ihre inhaltliche Richtigkeit von den Parteien dieses Verfahrens nicht bestritten, bzw. es sind diesbezüglich keine Zweifel hervorgekommen. Weiters wurden im Verfahren von den Parteien keine Umstände vorgebracht und haben sich bisher keine Anhaltspunkte ergeben, auf Grund derer sich die Feststellungen zur Situation im betreffenden Herkunftsstaat in nachvollziehbarer Weise als unrichtig erwiesen hätten.

 

Auch kann unter Hinweis auf die Rechtsprechung zur erforderlichen Aktualität der Quellen, wonach diese am konkreten Einzelfall zu prüfen sei (s. VwGH 09.03.1999, 98/01/0287 u.v.m.), davon ausgegangen werden, dass seit dem letzten Herausgebezeitpunkt der maßgeblichen Länderberichte etwaige mittlerweile hervorgekommene neue Quellen zur politischen und menschenrechtlichen Situation im betreffenden Herkunftsstaat - die jedenfalls für die spezifischen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers relevant wären - nichts an den oben getroffenen Feststellungen ändern würden.

 

3. Rechtliche Beurteilung

 

3.1. Zur Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts, zum anzuwendenden Recht und zur Zulässigkeit der Beschwerde

 

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 i.d.g.F. entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

 

Gemäß § 6 BVwGG, BGBl. I Nr. 10/2013 i.d.g.F. entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da weder im BFA-VG noch im AsylG 2005 eine Senatsentscheidung vorgesehen ist, liegt in der vorliegenden Rechtssache Einzelrichterzuständigkeit vor.

 

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 i. d.g.F. (VwGVG) geregelt (§ 1 leg. cit.). Gemäß § 58 Abs. 1 leg. cit. trat dieses Bundesgesetz mit 01.01.2014 in Kraft. Nach § 58 Abs. 2 leg. cit. bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

 

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

 

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Das Verwaltungsgericht hat gemäß Abs. 2 leg. cit. über Beschwerden dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

 

Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl, BGBl. I Nr. 100/2005 i. d.g.F. (AsylG 2005) ist mit 01.01.2006 in Kraft getreten und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.

 

§ 1 BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG 2005 und FPG bleiben unberührt. Gemäß §§ 16 Abs. 6 und 18 Abs. 7 BFA-VG sind die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anwendbar.

 

Die gegenständliche Beschwerde wurde fristgerecht bei der belangten Behörde eingebracht. Sie ist somit rechtzeitig und auch zulässig.

 

3.2. Zu Spruchpunkt A.I.) betreffend

 

die Zurückziehung der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides

 

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Beschluss eine Verfahrenseinstellung bei einer rechtswirksam erklärten Beschwerdezurückziehung vorzunehmen (VwGH 29.04.2015, Fr 2014/20/0047-11).

 

§ 7 Abs. 2 VwGVG normiert, dass eine Beschwerde nicht mehr zulässig ist, wenn die Partei nach Zustellung oder Verkündung des Bescheides ausdrücklich auf die Beschwerde verzichtet hat.

 

Eine Zurückziehung der Beschwerde durch den Beschwerdeführer ist in jeder Lage des Verfahrens ab Einbringung der Beschwerde bis zur Erlassung der Entscheidung möglich (Eder/Martschin/Schmid, Das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte, § 7 VwGVG, K 6).

 

Die Annahme, eine Partei ziehe die von ihr erhobene Beschwerde zurück, ist nur dann zulässig, wenn die entsprechende Erklärung keinen Zweifel daran offen lässt. Maßgebend ist daher das Vorliegen einer in dieser Richtung eindeutigen Erklärung (vgl. VwGH 22.11.2005, 2005/05/0320, u.v.m.).

 

Durch den unmissverständlich formulierten Parteiwillen, welcher auf Zurückziehung der Beschwerde gerichtet war, ist einer Sachentscheidung durch das Gericht die Grundlage entzogen. Aufgrund dieser Zurückziehung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 05.10.2018 mit ist dieser Spruchpunkt rechtskräftig geworden und war daher das gegenständliche Verfahren einzustellen.

 

3.3. Zu Spruchpunkt A.II.) betreffend

 

die Stattgebung der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. des Bescheides

 

3.3.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen,

 

1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

 

2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,

 

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

 

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 leg. cit. mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 leg. cit. oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 leg. cit. zu verbinden.

 

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 leg. cit.) offen steht.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung erkannt, dass der Antragsteller das Bestehen einer solchen Bedrohung glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffende, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (für viele VwGH 23.02.1995, 95/18/0049). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, 93/18/0214 u.a.). Es obliegt grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. VwGH 05.10.2016, Ra 2016/19/0158 mit Verweis auf das Urteil des EGMR vom 05.09.2013, I gegen Schweden, Appl. 61.204/09 m.w.H.).

 

Hinsichtlich des realen Risikos einer drohenden Verletzung der Art. 2 und 3 EMRK und zur ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im innerstaatlichen Konflikt hat sich jüngst der Verwaltungsgerichtshof mit der bisherigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung auseinandergesetzt (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137):

 

"Zum realen Risiko einer drohenden Verletzung der Art. 2 oder 3 EMRK

 

[...] Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH vom 8. September 2016, Ra 2016/20/0063, mit weiteren Nachweisen).

 

[...] Um von der realen Gefahr ("real risk") einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüber hinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (vgl. etwa VwGH vom 26. Juni 2007, 2007/01/0479, und vom 23. September 2009, 2007/01/0515, jeweils mit weiteren Nachweisen).

 

[...] Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein "real risk" (reales Risiko) vorliegt, wenn stichhaltige Gründe ("substantial grounds") dafür sprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der EGMR in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Risiko i.S.d. Art. 3 EMRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen ("in the most extreme cases") diese Voraussetzung erfüllt (vgl. etwa EGMR vom 28. November 2011, Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi gg. Vereinigtes Königreich, RNr. 218 mit Hinweis auf EGMR vom 17. Juli 2008, Nr. 25904/07, NA gg. Vereinigtes Königreich). In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen ("special distinguishing features"), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (vgl. etwa EGMR Sufi und Elmi, RNr. 217).

 

[...] Thurin (Der Schutz des Fremden vor rechtswidriger Abschiebung2 (2012), 203) fasst die bezughabenden Aussagen in der Rechtsprechung des EGMR dahingehend zusammen, dass der maßgebliche Unterschied zwischen einem "realen Risiko" und einer "bloßen Möglichkeit" prinzipiell im Vorliegen oder Nichtvorliegen von "special distinguishing features" zu erblicken ist, die auf ein "persönliches" ("personal") und "vorhersehbares" ("foreseeable") Risiko schließen lassen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz bestehe nur in sehr extremen Fällen ("most extreme cases"), wenn die allgemeine Lage im Herkunftsstaat so ernst sei, dass praktisch jeder, der dorthin abgeschoben wird, einem realen und unmittelbar drohenden ("real and imminent") Risiko einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sei. Diesfalls sei das reale Risiko bereits durch die extreme allgemeine Gefahrenlage im Zielstaat indiziert.

 

[...] Auch im jüngst ergangenen Urteil der Großen Kammer vom 23. August 2016, Nr. 59166/12, J.K. u.a. gegen Schweden, beschäftigte sich der EGMR mit seiner einschlägigen Rechtsprechung und führte u. a. aus, dass die Beweislast für das Vorliegen eines realen Risikos in Bezug auf individuelle Gefährdungsmomente für eine Person grundsätzlich bei dieser liege (v.a. RNr. 91 und 96), gleichzeitig aber die Schwierigkeiten, mit denen ein Asylwerber bei der Beschaffung von Beweismitteln konfrontiert sei, in Betracht zu ziehen seien und bei einem entsprechend substantiierten Vorbringen des Asylwerbers, weshalb sich seine Lage von jener anderer Personen im Herkunftsstaat unterscheide (vgl. RNr. 94), im Zweifel zu seinen Gunsten zu entscheiden sei (RNr. 97). Soweit es um die allgemeine Lage im Herkunftsstaat gehe, sei jedoch ein anderer Ansatz heranzuziehen. Diesbezüglich hätten die Asylbehörden vollen Zugang zu den relevanten Informationen und es liege an ihnen, die allgemeine Lage im betreffenden Staat (einschließlich der Schutzfähigkeit der Behörden im Herkunftsstaat) von Amts wegen festzustellen und nachzuweisen (RNr. 98).

 

Zur ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im innerstaatlichen Konflikt

 

[...] Der Tatbestand einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes in § 8 Abs. 1 Z 2 Asyl 2005 orientiert sich an Art. 15 lit. c der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU ) und umfasst - wie der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) erkannt hat - eine Schadensgefahr allgemeiner Art, die sich als willkürlich" erweist, also sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann. Entscheidend für die Annahme einer solchen Gefährdung ist nach den Ausführungen des EuGH, dass der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson liefe bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr, einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Dabei ist zu beachten, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH vom 17. Februar 2009, C- 465/07 , Elgafaji, und vom 30. Jänner 2014, C-285/12 , Diakite).

 

Schlussfolgerungen für die Annahme eines realen Risikos bzw. einer ernsthaften Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt

 

[...] Nach der dargestellten Rechtsprechung sowohl des EGMR als auch des EuGH ist von einem realen Risiko einer Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte einerseits oder von einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts andererseits auszugehen, wenn stichhaltige Gründe für eine derartige Gefährdung sprechen.

 

[...] Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen."

 

Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte beruhenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen (vgl. VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0063).

 

3.3.2. Gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Antrag auf internationalen Schutz von Asylwerbern, denen in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden kann, und denen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann, abzuweisen (innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1 AsylG 2005) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

 

Selbst wenn einem Antragsteller in seiner Herkunftsregion eine Art. 3 EMRK-widrige Situation drohen sollte, ist seine Rückführung dennoch möglich, wenn ihm in einem anderen Landesteil seines Herkunftsstaates eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht (§ 11 AsylG 2005). Ihre Inanspruchnahme muss dem Fremden - im Sinne eines zusätzlichen Kriteriums - zumutbar sein (Prüfung der konkreten Lebensumstände am Zielort); für die Frage der Zumutbarkeit (im engeren Sinn) muss daher ein geringerer Maßstab als für die Zuerkennung subsidiären Schutzes als maßgeblich angesehen werden (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, 2016, § 11 AsylG 2005, K15). Dass das mögliche Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative auch bei der Prüfung des subsidiären Schutzes zu berücksichtigen ist, ergibt sich aus dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 AsylG 2005, wonach sich die innerstaatliche Fluchtalternative, die als ein Kriterium u.a. die Zumutbarkeit des Aufenthalts in einem bestimmten Teil des Staatsgebietes vorsieht, auf den "Antrag auf internationalen Schutz" und somit auch auf jenen auf Zuerkennung des Status subsidiär Schutzberechtigten bezieht (vgl. hierzu auch VwGH 23.02.2016, Ra 2015/20/0233).

 

Zur Frage einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Afghanistan nahm der Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung ein willkürliches Vorgehen des (zum damaligen Zeitpunkt noch bestehenden) Asylgerichtshofes an, wenn dieser das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul für afghanische Asylwerber bejaht hatte, obwohl diese nie in der Stadt Kabul gelebt und dort keine sozialen bzw. familiären Anknüpfungspunkte hatten (s. u. a. VfGH 06.06.2013, U 2666/2012; 07.06.2013, U 2436/2012; 13.09.2013, U 370/2012); auch in jüngster Vergangenheit traf der Verfassungsgerichtshof Entscheidungen, die dieser Judikaturlinie entsprachen (vgl. VfGH 23.02.2017, E 1197/2016; 22.09.2017, E 240/2017, betreffend Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes). Seitens des Verfassungsgerichtshofes wurde auch betont, dass es im Falle der Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten Feststellungen dahingehend bedarf, dass der Asylwerber auf sicherem Weg in seine Herkunftsregion bzw. in den sonst in Betracht kommenden Zielort gelangen könnte (s. z.B. VfGH 19.11.2015, E 707/2015).

 

Auch der Verwaltungsgerichtshof verlangt in seiner Judikatur eine konkrete Auseinandersetzung mit den den Beschwerdeführer konkret und individuell betreffenden Umständen, die er bei Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in der Stadt Kabul zu gewärtigen hätte (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/20/0233). Vor diesem Hintergrund ging der Verwaltungsgerichtshof jüngst mitunter auch davon aus, dass betreffend die Beschwerdeführer in den konkreten Verfahren - auf Basis der darin getroffenen Feststellungen - keine Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul dargetan worden sei (vgl. VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0063). Die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative erfordert nämlich im Hinblick auf das ihr u.a. innewohnende Zumutbarkeitskalkül insbesondere nähere Feststellungen über die zu erwartende konkrete Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet (VwGH 29.04.2015, Ra 2014/20/0151; 08.09.2016, Ra 2016/20/0063).

 

3.3.3. Für den vorliegenden Fall ist Folgendes festzuhalten:

 

Der Beschwerdeführer stammt von der Familie her aus der Provinz Day Kundi, Distrikt Khidir. Daikundi ist als relativ friedliche Provinz anzusehen, gleichwohl gilt diese Provinz für Anrainer/innen als unterentwickelt - viele Gegenden haben wenig oder gar keinen Zugang zu Elektrizität; Gesundheitsleistungen und anderen elementaren Leistungen.

 

Ausgehend von den besonderen Umständen, die beim Beschwerdeführer vorliegen, nämlich aufgewachsen im Iran, keine Familienangehörigen in Afghanistan, westlich-orientiert und sozialisiert in Österreich, erst kürzlich volljährig geworden und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara (s. Pkt. II.1.1.), geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass es nicht ausgeschlossen sei, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedlung in diese Provinz eine reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK drohen könnte.

 

Zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer jedoch bei diesen bei ihm vorliegenden persönlichen Umständen - unter Berücksichtigung der von UNHCR aufgestellten Kriterien für das Bestehen einer internen Schutzalternative für Afghanistan - nach den oben angeführten Länderberichten zur Situation in Kabul-Stadt oder auch in Mazar-e Sharif und/oder Herat (s. Pkt. II.1.2.) und vor dem Hintergrund der o. a. höchstgerichtlichen Judikatur in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in andere Landesteile Afghanistans, konkret in die Hauptstadt Kabul oder auch in anderen Städten wie Mazar-e Sharif oder Herat verwiesen werden kann.

 

Aus dem o.a. Länderberichtsmaterial (s. insbesondere zur Situation in dessen Herkunftsprovinz, s. Pkt.II. 1.2.I., zur Lage der Hazara,

s. Pkt.II. 1.2.II., zur Situation von Rückkehrern aus Iran und Pakistan, s. Pkt. II.1.2.III., und zur Situation von Rückkehrern allgemein, s. Pkt. II.1.2.IV.) geht im Wesentlichen Folgendes hervor:

 

Vor dem Hintergrund eines in den vergangenen fünf Jahren aus verschiedenen Gründen erfolgten massiven Einbruchs der afghanischen Wirtschaft stellt sich auch in der Stadt Kabul - neben einer prekären Sicherheitslage - die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wohnraum insbesondere für alleinstehende Rückkehrer ohne familiären oder sonstigen sozialen Rückhalt und ohne finanzielle Unterstützung nur unzureichend dar, weshalb diese mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert und bei fehlender Bildung bzw. Fachausbildung in ernste Versorgungsschwierigkeiten und eine akute Gefährdung ihres Überlebens geraten werden. Der Zugang zu Arbeit, Wohnraum und sonstigen überlebenswichtigen Ressourcen erfolgt in Afghanistan in der Regel über bestehende Kontakte und Netzwerke.

 

Näher ausgeführt bedeutet dies, dass die für die Grundversorgung benötigten Waren auch für die breite Schicht der Bevölkerung in der Stadt Kabul so teuer geworden sind, dass Hilfsarbeiter in der Regel am Rande der Stadt in Slums unter schwierigen und menschenunwürdigen (hierbei u.a.: hygienischen) Bedingungen ohne Wasch-, Koch- oder Heizgelegenheit unter ständiger Gefahr des Verlusts ihrer Behausung leben. Die Situation ist von einer hohen Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Der weitgehende Abzug internationaler Truppen, der Einbruch von Investitionen und die Verringerung der Entwicklungshilfe führten dabei in jüngster Vergangenheit zu Problemen v.a. innerhalb des Baugewerbes und des Dienstleistungssektors.

 

Schätzungen zufolge leben ca. drei Millionen Afghanen in Pakistan und ca. 2,5 Millionen Afghanen im Iran, worunter sich auch viele im Exil geborene Afghanen befinden. Die Stadt Kabul als Hauptzielort von Rückkehrbewegungen ist massiv vom starken Anstieg der Zahl der (auch unfreiwilligen) Rückkehrer aus Pakistan, der im Jahresvergleich gleichbleibend großen Zahl an (auch unfreiwilligen) Rückkehrern aus dem Iran und von den vom Konflikt (sowie auch von Naturkatastrophen) betroffenen Binnenvertriebenen (v.a. aus der Zentralregion) betroffen, weshalb sich die Wohnraumsituation sowie die Lage im Dienstleistungsbereich als extrem schwierig darstellen.

 

Besonders problematisch stellt sich die Situation von für einen längeren Zeitraum im Iran bzw. in Pakistan aufhältig gewesenen afghanischen Staatsangehörigen dar, denen oftmals vorgeworfen wird, ihr Land im Stich gelassen zu haben, dem Krieg entflohen zu sein und im Ausland ein wohlhabendes Leben geführt zu haben, weshalb sie von ihren Landsleuten, die ihr "Territorium" in den Bereichen Bildung, Arbeit, Eigentum und sozialer Status bedroht sehen, als unerwünschte "Eindringlinge" angesehen werden. Viele Afghanen geraten bei einer Rückkehr nach Afghanistan beim Wiederaufbau einer Lebensgrundlage in gravierende Schwierigkeiten, insbesondere im Hinblick auf Zugang zu Nahrungsmitteln sowie Wasser und Wohnraum. Nach längerer Abwesenheit aus Afghanistan sind "Rückkehrer" weitgehend von Verwandtschafts-, Geschäfts- und Patronage-Beziehungen - falls solche zuvor überhaupt vorhanden waren - ausgeschlossen, weshalb es für sie besonders schwierig ist, ohne etwaige Verwandte, Freunde oder zumindest Bekannte Zugang zu Arbeitsstätten sowie zu nützlichen Ressourcen zu bekommen.

 

Angesichts der aus den o.a. Länderberichten ersichtlichen aktuellen politischen Lage in Afghanistan ist zudem eine längerfristige und ausreichende Unterstützung von staatlicher Seite sehr unwahrscheinlich; aus den o.a. Länderberichten zum Herkunftsstaat geht auch nicht hervor, dass Rückkehrern automatisch z.B. eine dauerhafte Wohngelegenheit zur Verfügung gestellt werden würde.

 

Bei der vorliegenden Beurteilung sind auch Richtlinien bzw. Berichte des UNHCR von Bedeutung, denen nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Indizwirkung zukommt (s. u.a. VwGH 10.12.2014, Ra 2014/18/0103; vgl. auch VwGH 08.08.2017, Ra 2017/19/0118). Laut den o.a. Richtlinien des UNHCR vom 19.04.2016 müssen die schlechten Lebensbedingungen sowie die prekäre Menschenrechtslage von intern vertriebenen afghanischen Staatsangehörigen bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative berücksichtigt werden, wobei angesichts des Zusammenbruchs des traditionellen sozialen Gefüges der Gesellschaft auf Grund jahrzehntelang währender Kriege, massiver Flüchtlingsströme und interner Vertreibung hierfür jeweils eine Einzelfallprüfung notwendig ist. Weiters hält UNHCR in seinen Richtlinien fest, dass eine interne Schutzalternative in den vom aktiven Konflikt betroffenen Gebieten nicht gegeben ist. Generell ist nach UNHCR eine interne Schutzalternative nur dann zumutbar, wenn die betroffene Person im Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gruppe hat und davon ausgegangen werden kann, dass diese willens und in der Lage sind, den Betroffenen auch tatsächlich zu unterstützen. Auch in seinen Anmerkungen von Dezember 2016 bleibt UNHCR bei seiner Empfehlung, dass es ein starkes soziales Netzwerk im vorgeschlagenen Gebiet der Neuansiedlung geben muss, wenn die Zumutbarkeit einer Neuansiedlung bewertet werden soll. Die einzigen Ausnahmen von dieser Anforderung der externen Unterstützung stellen nach Auffassung von UNHCR alleinstehende leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf dar; diese Personen können "unter bestimmten Umständen" ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semiurbanen Umgebungen leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen (s. hierzu auch VwGH 08.08.2017, Ra 2017/19/0118). Auch nach den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender in der aktuellsten Fassung vom 30.08.2018 steht eine interne Flucht- und Neuansiedlungsalternative in Kabul allgemein nicht zur Verfügung. Unter bestimmten Umständen könnten aber alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter ohne familiäre und soziale Unterstützung in urbaner und semi-urbaner Umgebung leben, soweit diese Umgebung über die notwendige Infrastruktur und Lebensgrundlagen verfüge, um die Grundbedürfnisse des Lebens zu decken und soweit diese einer wirksamen staatlichen Kontrolle unterliegen würden.

 

Beim Beschwerdeführer handelt um einen arbeitsfähigen jungen Mann mit mehrjähriger Grundschulbildung im Iran und geringfügiger Berufserfahrung als Hilfsarbeiter ebendort, sodass bei ihm die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Im Fall des Beschwerdeführers ist jedoch zu berücksichtigen, dass er in Berücksichtigung seiner Einreise in den Iran schon im zweiten Lebensmonat damit fast ausschließlich sein gesamtes Leben im Iran verbracht und somit eigentlich noch nie in Afghanistan aufhältig war. Er verfügt daher über keinerlei Ortskenntnisse und lediglich über - wenn auch auf Grund seiner Sozialisierung innerhalb eines afghanischen Familienverbandes zumindest vorhandene - geringe Kenntnisse der lokalen Gepflogenheiten. Der Beschwerdeführer, der keine familiären oder sonstigen sozialen Anknüpfungspunkte in Afghanistan hat, wäre bei einer Ansiedlung in Afghanistan vorerst auf sich alleine gestellt und gezwungen, allenfalls in der Stadt Kabul oder in einer anderen vergleichbar größeren Stadt nach einem - wenn auch nur vorläufigen - Wohnraum zu suchen, ohne jedoch dort über irgendwelche Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu verfügen. Im Hinblick auf die glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers zu seinen Familienangehörigen im Iran ist nicht von einer hinreichenden finanziellen oder sonstigen Unterstützung des Beschwerdeführers durch diese auszugehen.

 

Beim Beschwerdeführer besteht nicht nur - alle afghanischen Staatsangehörigen und jene ohne familiäre oder sonstige soziale Anknüpfungspunkte in besonderem Ausmaß treffenden - allgemein prekären Versorgungslage im Hinblick auf Zugang zu v.a. Arbeit und Wohnraum. Insbesondere ist im Fall des Beschwerdeführers hervorzuheben, dass eine offenkundig in seiner Person gelegene und in Zusammenschau mit den bereits dargelegten Aspekten maßgebliche Erschwernis im Falle seiner erstmaligen Ansiedlung in Afghanistan nach dem in das Verfahren eingeführten, dahingehend übereinstimmenden o.a. Länderberichtsmaterial (s. insbesondere zur Situation in dessen Herkunftsprovinz, s. Pkt.II. 1.2.I., zur Lage der Hazara, s. Pkt.II. 1.2.II., und zur Situation von Rückkehrern aus Iran und Pakistan, s. Pkt. II.1.2.III.) vorliegt. Auch ist er auf Grund seines im Ergebnis zur Gänze außerhalb Afghanistans verbrachten Lebens, was durch das von ihm gesprochene Farsi leicht erkennbar ist, gegenüber der übrigen afghanischen Bevölkerung, die in Afghanistan aufgewachsen ist und ihr Herkunftsland in der Regel nie verlassen hat, als "Fremder im eigenen Land" exponiert und wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - v.a. bei der für die Beurteilung der Frage der Zumutbarkeit einer Ansiedlung relevanten Arbeitssuche - diskriminiert.

 

Aus dem in das Verfahren eingeführten aktuellen Länderberichtsmaterial zur Situation von Rückkehrern aus dem Iran (s. Pkt. II.1.2.III.) geht eindeutig hervor, dass gerade jene afghanischen Staatsangehörigen, die keine familiären oder sonstigen sozialen Anknüpfungspunkte in Afghanistan haben und ihr gesamtes Leben oder den überwiegenden Teil ihres Lebens im Iran gelebt haben, vom Zugang zu Arbeit und Wohnraum nicht nur am Anfang ihrer Ansiedlung/Rückkehr, sondern generell faktisch komplett ausgeschlossen sind, womit sich nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes die Situation dieser Fallgruppe der "Iran-Rückkehrer" bei einer möglichen Ansiedlung vor allem in der Stadt Kabul oder in einer anderen vergleichbar größeren Stadt von der Situation jener afghanischen Staatsangehörigen, die ihr ganzes Leben in Afghanistan - wenn auch nicht in einer der Großstädte - verbracht haben und dort zur Gänze sozialisiert worden sind, entscheidungswesentlich unterscheidet.

 

Darüber hinaus gehört der Beschwerdeführer als Hazara - auf Grund seines Aussehens - erkennbar einer ethnischen und religiösen Minderheit in Afghanistan an, die im Gegensatz zu Angehörigen der Volksgruppe der Paschtunen sowie Tadschiken weitreichenden Benachteiligungen und Diskriminierungen ausgesetzt ist (s. zur Lage der Hazara, Pkt.II.1.2.II.).

 

Zudem unterscheidet sich der Beschwerdeführer vor allem auch durch folgenden gefährdungsqualifizierenden Umstand, der bei ihm im Unterschied zu anderen Rückkehrern aus dem Iran hinzutritt. Der Beschwerdeführer hat sich im Vergleich zu anderen afghanischen Asylwerbern außergewöhnlich rasch und erfolgreich in Österreich integriert, sei es in sprachlich-kultureller und in sozial-gesellschaftlicher Hinsicht, sei es durch seinen beachtlichen Erfolg in der schulischen bzw. beruflichen Ausbildung. Der Beschwerdeführer vertritt mittlerweile Auffassungen und diese äußern sich in einer Lebensweise, die als an "westlich" bezeichneten Werten orientiert angesehen werden können. Mit einer derartigen einem (Mittel‑)Europäer vergleichbaren Einstellung und dem damit verbundenen Auftreten, die im Widerspruch zu dem in Afghanistan vorherrschenden konservativ-islamischen Männer- und Gesellschaftsbild stehen, ist der Beschwerdeführer umso mehr als "Fremder im eigenen Land" in der afghanischen Gesellschaft exponiert und der realen Gefahr ausgesetzt, von dieser wirtschaftlich und sozial exkludiert zu werden.

 

Überdies ist beim Beschwerdeführer - wie der Sachverständige auch in der Verhandlung vom 05.10.2018 hinwies - dessen jugendliches Alters zu berücksichtigen, das ihn als einer Personengruppe mit erhöhtem Schutzbedarf zugehörig ausweist.

 

Im Rahmen einer ganzheitlichen Würdigung der festgestellten Gefährdungsaspekte kommt das Bundesverwaltungsgericht somit zum Schluss, dass diese einzeln und isoliert betrachtet unter Umständen für sich allein nicht für die Annahme einer Gefahr i.S.d. Art. 2 und 3 EMRK reichen könnten, jedoch jedenfalls in ihrer Summe (s.a. UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 2003, Rz. 203, mit dem Hinweis, nach dem Grundsatz "im Zweifel für den Antragsteller" zu verfahren, der wegen dem mit der GFK vergleichbaren Schutzzweck bei Art. 2 f. EMRK auch hier sinngemäß gilt). Die den Beschwerdeführer treffende Gefahr weist jedenfalls in ihrer Summe ein Maß an Nachhaltigkeit und Intensität auf, die einen Verbleib des Betroffenen im Heimatland als unerträglich (vgl. z.B. VwGH 11.11.1998, 98/01/0312, 18.02.1999, 98/20/0468) oder die Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates als unzumutbar erscheinen lassen (vgl. dazu die auch auf die Erheblichkeit einer Gefahr i.S.d. Art. 2 f. EMRK übertragbare Rechtsprechung u.a. z.B. VwGH 12.09.1996, 95/20/0288; 23.09.1998, 98/01/0224).

 

Nur der Vollständigkeit halber ist anzuführen, dass diese Beurteilung sinngemäß auch auf die Situation des Beschwerdeführers im Falle seiner Rückführung in die Städte Mazar-e Sharif und Herat gilt. Damit ist die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den genannten Städten jedenfalls auch nicht zumutbar. Eine Abschiebung von ihm würde eine Verletzung in seinen Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK darstellen.

 

Ausschlussgründe nach § 8 Abs. 3a i.V.m. § 9 Abs. 2 AsylG 2005 liegen nicht vor bzw. sind keine hervorgekommen (§ 9 Abs. 2 Z 1 und 2 AsylG 2005), auch ist der Beschwerdeführer unbescholten (Z 3 leg. cit.).

 

Der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides war daher gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 stattzugeben.

 

3.4. Zu Spruchpunkt B)

 

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

 

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Insoweit die in der Begründung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar. Bezüglich der näheren Begründung mit Judikatur-Verweisen wird auf die obigen Ausführungen verwiesen (s. zu Spruchpunkt A).

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