VwGH Ra 2017/08/0022

VwGHRa 2017/08/00221.6.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision der O AG in L, vertreten durch Dr. Helmut Engelbrecht, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Annagasse 3, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23. Jänner 2017, Zl. G305 2137032- 1/18Z, betreffend Aussetzung des Verfahrens über eine Beitragsnachverrechnung nach dem ASVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Steiermärkische Gebietskrankenkasse in 8011 Graz, Josef-Pongratz-Platz 1), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §37;
AVG §38;
AVG §45 Abs3;
AVG §69;
VwGVG 2014 §32;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Die Steiermärkische Gebietskrankenkasse hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Bescheid vom 14. Juli 2016 (berichtigt mit Bescheid vom 22. Juli 2016) hat die Steiermärkische Gebietskrankenkasse festgestellt, dass die revisionswerbende Partei

"wegen der im Zuge der bei ihr stattgefundenen gemeinsamen Prüfung aller lohnabhängigen Abgaben festgestellten Meldedifferenzen verpflichtet ist, die in der Beitragsabrechnung vom 23.11.2015 und im dazugehörigen Prüfbericht vom 24.11.2015 ... angeführten allgemeinen Beiträge, Nebenumlagen, Sonderbeiträge und Zuschläge nach den jeweils angeführten Beitragsgrundlagen und für die jeweils näher bezeichneten Zeiten sowie Verzugszinsen im Betrage von insgesamt EUR 1.164,44 nachzuentrichten".

2 Bei der genannten Prüfung sei festgestellt worden, dass die Dienstnehmerin S M von der revisionswerbenden Partei verbilligte Arbeitgeberdarlehen bzw. Gehaltsvorschüsse in einem EUR 7.300,-- übersteigenden Ausmaß erhalten habe. Der Zinsvorteil sei nicht als laufender Bezug, sondern als Sonderzahlung im Dezember des jeweiligen Jahres abgerechnet worden. Durch das Überschreiten der Höchstbeitragsgrundlage von Sonderbeiträgen sei ein Teil dieser Zinsersparnisse beitragsfrei belassen worden. Gemäß § 49 Abs. 3 Z 19 ASVG würden Zinsersparnisse bei zinsverbilligten oder unverzinslichen Dienstgeberdarlehen dann als Entgelt gelten, wenn das Darlehen EUR 7.300,-- übersteige. Die Zinsersparnisse hätten nach dem Anspruchsprinzip als laufendes Entgelt nach § 49 Abs. 1 ASVG behandelt werden sollen.

3 Dagegen erhob die revisionswerbende Partei Beschwerde. 4 Das Verwaltungsgericht setzte mit dem in Revision gezogenen

Beschluss das Beschwerdeverfahren gemäß § 17 VwGVG iVm § 38 AVG bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes zur Zl. L501 2135173-1 mit der Begründung aus, dass seit dem Kalenderjahr 2016 ein "Hauptverfahren" hinsichtlich der maßgeblichen Zahlung allgemeiner Beiträge und Nachtragszinsen - "denselben Sachverhalt betreffend" -

anhängig sei. Die Oberösterreichische Gebietskrankenkasse habe gemäß § 410 Abs. 1 Z 7 ASVG mit Beitragsbescheid festgestellt, dass die D. GmbH, eine Tochtergesellschaft der revisionswerbenden Partei, als Dienstgeberin verpflichtet sei, für namentlich angeführte Dienstnehmer und Zeiträume allgemeine Beiträge von EUR 32.447,97 sowie einen Beitragszuschlag von EUR 6.286,90 zu entrichten. Gegen diesen Bescheid sei Beschwerde erhoben worden. Das Beschwerdeverfahren sei beim Bundesverwaltungsgericht anhängig. Gemäß § 17 und § 34 Abs. 3 Z 2 VwGVG könne das Verwaltungsgericht ein Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung einer Vorfrage gemäß § 38 AVG mit Beschluss aussetzen, wenn vom Verwaltungsgericht in einer erheblichen Anzahl von anhängigen oder in naher Zukunft zu erwartenden Verfahren eine Rechtsfrage zu lösen sei und eine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Lösung dieser Rechtsfrage fehle. Gemäß § 38 AVG sei die Behörde, sofern die Gesetze nichts anderes bestimmen würden, berechtigt, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von Gerichten zu entscheiden wären, nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheid zu Grunde zu legen. Sie könne aber auch das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Behörde bilde oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht werde.

5 Das "Vorliegen eines beitragspflichtigen geldwerten Vorteiles aus dem Dienstverhältnis in Form von zinsbegünstigten Kreditverträgen" sei im gegenständlichen Beschwerdeverfahren eine Vorfrage iSd § 38 AVG, welche bereits als Hauptfrage den Gegenstand eines anhängigen Beschwerdeverfahrens beim Bundesverwaltungsgericht bilde. Darüber hinaus seien weitere gleichgelagerte Beschwerdeverfahren anhängig, die wegen der Klärung derselben Vorfrage ausgesetzt worden seien.

6 Gegen diesen Beschluss richtet sich die außerordentliche Revision. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

 

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die revisionswerbende Partei macht zur Frage der Zulässigkeit der außerordentlichen Revision geltend, die Anwendung des § 17 VwGVG iVm § 38 AVG stehe mit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht im Einklang. In dem genannten "Hauptverfahren" sei zwar ebenfalls die Rechtsfrage zu beantworten, ob Zinsvorteile aus dem gewährten Arbeitgeberdarlehen bzw. aus Gehaltsvorschüssen als Sonderzahlungen oder als laufende Bezüge zu behandeln seien. § 38 AVG setze jedoch voraus, dass eine Behörde eine Vorfrage zu beurteilen hätte, die von einer anderen Behörde als Hauptfrage beurteilt werden müsste. Auch eine Aussetzung nach § 34 Abs. 3 VwGVG verbiete sich, weil die Voraussetzung fehle, dass gleichzeitig beim Verwaltungsgerichtshof ein Verfahren über eine Revision gegen ein Erkenntnis oder einen Beschluss eines Verwaltungsgerichtes anhängig sei, in welchem dieselbe Rechtsfrage zu lösen sei.

9 Die Revision ist aus den von der revisionswerbenden Partei genannten Gründen zulässig und berechtigt.

10 Der gemäß § 17 VwGVG auf das Beschwerdeverfahren anzuwendende § 38 AVG lautet:

"§ 38. Sofern die Gesetze nicht anderes bestimmen, ist die Behörde berechtigt, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheid zugrunde zu legen. Sie kann aber auch das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw. beim zuständigen Gericht bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird."

11 Die (rechtskräftige) Feststellung eines Rechts oder eines Rechtsverhältnisses im Rahmen der Vollziehung (in einem Erkenntnis bzw. in einem Bescheid) bezieht sich - schon aus Gründen der Absicherung des rechtlichen Gehörs in Bezug auf den (abgesehen von den Fällen einer Wiederaufnahme) endgültig einer Entscheidung unterworfenen Streitgegenstand (Sache) - immer auf einen bestimmten im Erkenntnis festgestellten Sachverhalt, aus dem durch Anwendung der Rechtsordnung mit Wirkung für die am Verfahren beteiligten Parteien die festzustellenden Rechtsfolgen abgeleitet werden (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 11. Juni 2014, 2012/08/0157, und vom 4. August 2014, 2012/08/0132).

12 Die Bindungswirkung einer rechtskräftigen Feststellung eines Rechts oder eines Rechtsverhältnisses in einem späteren Verfahren in Bezug auf dieselben Parteien geht in der Regel von der Beurteilung im Spruch der Entscheidung über die Hauptfrage (über den Streitgegenstand, über die Sache) des früheren Verfahrens aus, nicht aber von der Beurteilung von Vorfragen in den dortigen Entscheidungsgründen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 20. Oktober 1992, 92/08/0047, vom 22. März 1993, 91/10/0066, vom 4. Oktober 2001, 96/08/0351, vom 23. September 2002, 2000/05/0171, vom 17. Dezember 2002, 2001/11/0118 und vom 2. Juli 2010, 2007/09/0194).

13 Wurde daher in einem ersten Verfahren, an dem bestimmte Parteien beteiligt waren und rechtliches Gehör erhielten, über die erste Hauptfrage (den ersten Streitgegenstand) rechtskräftig entschieden, so bindet diese Entscheidung die genannten Parteien sowie die Behörden und die Gerichte in einem zweiten Verfahren, in dem sich die erste Hauptfrage (die rechtskräftige Entscheidung über den vorgelagerten Streitgegenstand) nunmehr als Vorfrage im Rahmen der zweiten Hauptfrage (des zweiten Streitgegenstands) stellt. Im Hinblick auf die prozessökonomischen Zielsetzungen des § 38 AVG ist daher eine Rechtsfrage in einem späteren Verfahren nur dann eine Vorfrage im Sinn dieser Bestimmung, wenn der relevante Tatbestand ein Element enthält, das im früheren Verfahren als Streitgegenstand für sich allein Gegenstand einer für die Behörde und die Parteien bindenden Entscheidung einer anderen Behörde ist (vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG § 38 Rz 6).

14 Sind an dem jeweiligen Prozessrechtsverhältnis aber unterschiedliche Parteien beteiligt oder ist der (durch Sachverhalt und Rechtsfolge bestimmte) Streitgegenstand der ersten Hauptfrage mit dem der Vorfrage im zweiten Verfahren nicht ident, so kann die materielle Rechtskraft der Entscheidung über die erste Hauptfrage (über den vorgelagerten Streitgegenstand) keine Bindungswirkung für die Entscheidung über die Vorfrage im zweiten Verfahren entfalten.

15 Daher können insbesondere Entscheidungen, die einzelne Personen oder Parteien betreffen (z.B. bestimmte an einem Verfahren beteiligte Dienstnehmer und Dienstgeber), keine Bindungswirkung für andere Personen entfalten, auch wenn sich die betreffende Rechtsfrage abstrakt für eine Vielzahl von Personen stellt, die sich alle in vergleichbaren Situationen befunden haben mögen. In solchen Fällen kann der genannten prozessökonomischen Zielsetzung nicht durch Aussetzung des Verfahrens iSd § 38 AVG, sondern nur durch prozessuale Maßnahmen entsprochen werden, z. B. durch die Herausarbeitung verallgemeinerungsfähiger Sachverhaltselemente aus Musterfällen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 3. Juni 1997, 97/08/0002, sowie nochmals das vom 4. August 2014, 2012/08/0132) bzw. durch Abstandnahme von weiteren Zeugenvernehmungen bei entsprechendem Stand der Ermittlungen und der Vorbringen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 20. Dezember 2001, 98/08/0208, vom 4. Juli 2007, 2006/08/0193, vom 22. Dezember 2010, 2009/08/0045, vom 17. Oktober 2012, 2009/08/0188 und vom 4. August 2014, 2013/08/0272).

16 Hingegen ist es der Vollziehung z.B. im Rahmen der Erlassung eines Bescheides nicht möglich, gleichsam als generelle Norm für den Fall, dass ein bestimmter, in einem "Tatbestand" umschriebener Sachverhalt tatsächlich eintreten sollte, eine bestimmte Rechtsfolge vorzusehen, an die sich spätere Erledigungen der Vollziehung zu halten hätten (vgl. nochmals das hg. Erkenntnis vom 11. Juni 2014, 2012/08/0157).

17 Die vorliegende auf § 17 VwGVG iVm § 38 AVG gestützte Aussetzung des Verfahrens war rechtswidrig, weil an dem "Hauptverfahren" einerseits eine andere Partei (nämlich eine Tochtergesellschaft der revisionswerbenden Partei) beteiligt war und andererseits andere Sachverhalte mit anderen Rechtsfolgen (die Entgeltansprüche anderer Dienstnehmer und andere Beiträge nach dem ASVG) zu beurteilen waren.

18 Eine Aussetzung nach § 34 Abs. 3 VwGVG kam schon deshalb nicht in Frage, weil den Feststellungen nicht zu entnehmen ist, dass gleichzeitig beim Verwaltungsgerichtshof ein Verfahren über eine Revision gegen ein Erkenntnis oder einen Beschluss eines Verwaltungsgerichtes anhängig ist, in welchem dieselbe Rechtsfrage zu lösen ist.

19 Der angefochtene Beschluss war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

20 Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.

Wien, am 1. Juni 2017

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