VwGH Ra 2014/18/0011

VwGHRa 2014/18/001113.11.2014

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Mag. Hainz-Sator als Richterinnen und Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Klammer, über die Revisionen der revisionswerbenden Parteien 1.) R S, 2.) A S, 3.) M S, 4.) Ru S,

5.) I Z, 6.) F S und 7.) Al S, alle in L und vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts jeweils vom 21. Februar 2014, Zlen. L514 1430689-2/6E (zu 1.), L514 1430686-2/6E (zu 2.), L514 1430687-2/5E (zu 3.), L514 1430688-2/6E (zu 4.), L514 1430685-2/6E (zu 5.), L514 1430684-2/7E (zu 6.), und vom 17. Juni 2014, Zl. L514 2008641-1/2E (zu 7.), betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Bundesverwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §3;
BFA-VG 2014 §20;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
B-VG Art133 Abs4;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §24;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §3;
BFA-VG 2014 §20;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
B-VG Art133 Abs4;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §24;

 

Spruch:

Das fünftangefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die übrigen angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40, insgesamt somit EUR 7.744,80, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I. Sachverhalt und Revisionsverfahren

1. Die Fünftrevisionswerberin reiste am 21. März 2012 gemeinsam mit ihrem Ehegatten (dem Sechstrevisionswerber) und den gemeinsamen (minderjährigen) Kindern (den erst- bis viertrevisionswerbenden Parteien) in das österreichische Bundesgebiet ein und sämtliche Familienmitglieder, alle irakische Staatsangehörige, beantragten noch am selben Tag internationalen Schutz. Am 10. Dezember 2013 wurde als weiteres gemeinsames Kind des Ehepaares der Siebentrevisionswerber geboren, für den ebenfalls internationaler Schutz beantragt worden ist.

Zur Begründung ihrer Anträge führten die revisionswerbenden Parteien im Wesentlichen an, der Sechstrevisionswerber habe den Irak im Jahr 2008 verlassen müssen, um sich einer Zwangsrekrutierung durch schiitische Milizen zu entziehen. Die Familie sei ihm in die Niederlande gefolgt, wo sie sich bis Dezember 2011 als Asylwerber aufgehalten hätten. Während dieser Zeit hätten die Milizionäre den im Irak verbliebenen Bruder der Fünftrevisionswerberin auf der Suche nach dem Sechstrevisionswerber ermordet. Dafür mache die Sippe der Fünftrevisionswerberin den Sechstrevisionswerber verantwortlich und wolle sich an ihm rächen. Auch die Fünftrevisionswerberin fürchte um ihr Leben, weil sie sich - entgegen dem Wunsch der Sippe - vom Sechstrevisionswerber nicht getrennt habe. Trotzdem sei die Familie im Dezember 2011 gezwungen gewesen, in den Irak zurückzukehren, und sie sei beim Bruder des Sechstrevisionswerbers untergekommen. Mit den Milizionären hätte es nun keine Probleme mehr gegeben. Cousins der Fünftrevisionswerberin hätten aber den Wohnort der revisionswerbenden Parteien ausfindig gemacht, das Haus verwüstet und den Gastgeber, dessen sie habhaft geworden seien, zusammengeschlagen. Daraufhin hätten die revisionswerbenden Parteien erneut die Flucht aus dem Irak ergriffen.

2. Das Bundesasylamt (bzw. für den Siebentrevisionswerber das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) erkannte den revisionswerbenden Parteien den Status von subsidiär Schutzberechtigten zu. Die weitergehenden Anträge auf Zuerkennung von Asyl wies es jedoch ab. Es stellte fest, dass der Schwager des Sechstrevisionswerbers (und Bruder der Fünftrevisionswerberin) im Irak getötet worden sei. Aufgrund der diesbezüglichen Angaben und Unterlagen sei nachvollziehbar, dass der Sechstrevisionswerber von Verwandten der Fünftrevisionswerberin für den Tod seines Schwagers verantwortlich gemacht werde. Es könne aber nicht festgestellt werden, dass den revisionswerbenden Parteien im gesamten Irak eine asylrelevante Verfolgung durch Familienangehörige der Fünftrevisionswerberin drohen würde.

3. Gegen diese Bescheide erhoben die erst- bis sechstrevisionswerbenden Parteien Beschwerde an den Asylgerichtshof, der Siebentrevisionswerber an das Bundesverwaltungsgericht. Das mit 1. Jänner 2014 (für alle revisionswerbenden Parteien) zuständig gewordene BVwG wies die Beschwerden mit den angefochtenen Erkenntnissen gemäß § 3 AsylG 2005 ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

In den im Wesentlichen gleichlautenden Begründungen der Erkenntnisse führte das BVwG aus, die erstinstanzliche Behörde habe ein mängelfreies, ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und in der Begründung der angefochtenen Bescheide die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammengefasst. Sie sei zu Recht davon ausgegangen, dass asylrelevante Gründe nicht vorlägen. Beweiswürdigend habe die Behörde erster Instanz ausgeführt, dass sie die behauptete Bedrohung aufgrund des widersprüchlichen, vagen und unplausiblen Vorbringens des Sechstrevisionswerbers für nicht glaubwürdig befinde. Die Beschwerden könnten diese Beweiswürdigung nicht substantiiert in Zweifel ziehen. Das BVwG trete - auch aus näher ausgeführten weiteren beweiswürdigenden Überlegungen - den Feststellungen der erstinstanzlichen Behörde bei, wonach keine asylrelevante Gefährdung der revisionswerbenden Parteien vor der Ausreise bzw. für den Fall der Rückkehr in den Irak festgestellt werden könne. Die Fünftrevisionswerberin habe im Übrigen keine eigenen Ausreisegründe geltend gemacht. Hinzu komme, dass den revisionswerbenden Parteien eine innerstaatliche Fluchtalternative im Irak, und zwar vor allem in den großen Städten der Schiitengebiete, offen gestanden wäre.

4. Dagegen wenden sich die vorliegenden außerordentlichen Revisionen, in denen (unter anderem) zur Zulässigkeit vorgebracht wird, das BVwG habe zu Unrecht von einer mündlichen Verhandlung abgesehen, die erforderlich gewesen wäre, um die Glaubwürdigkeit der Verfahrensparteien zu beurteilen. Es wird beantragt, die angefochtenen Erkenntnisse "gemäß § 42 Abs. 2 VwGG" aufzuheben oder in der Sache zu entscheiden.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nahm von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand.

Aufgrund des persönlichen und sachlichen Zusammenhangs wurden die Revisionen zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

II. Rechtslage

1. Die §§ 2, 3, 11 und 34 Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005) BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 144/2013 lauten auszugsweise:

"Begriffsbestimmungen

§ 2. (1) Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist

...

22. Familienangehöriger: wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits im Herkunftsstaat bestanden hat, (...)

Status des Asylberechtigten

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(...)

Innerstaatliche Fluchtalternative

§ 11. (1) Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

(...)

Familienverfahren im Inland

§ 34. (1) (...) (3) (...)

(4) Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. (...)"

2. Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (GFK) lautet:

"Artikel 1

Definition des Ausdruckes 'Flüchtling'

A. Als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens ist anzusehen, wer:

(...)

2. sich infolge von vor dem 1. Jänner 1951 eingetretenen Ereignissen aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen;. (...)"

3. Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) lautet auszugsweise:

"Artikel 10

Verfolgungsgründe

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes: (...)

d) eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn

§ 24. (1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

(2) Die Verhandlung kann entfallen, wenn

1. der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist oder

  1. 2. (...) (...)"
  2. 4. § 21 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I. Nr. 68/2013, lautet auszugsweise:

    "Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht

§ 21. (1) (bis) (6) (...)

(7) Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG."

III. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit der Revisionen

1.1. Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist die Revision gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

1.2. Die vorliegenden Revisionen würden von der in ihnen angesprochenen Rechtsfrage der Verhandlungspflicht nicht abhängen, wenn der "Sachverhalt" im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG keiner (weiteren) Klärung bedürfte. Davon wäre auch dann auszugehen, wenn den Anträgen der revisionswerbenden Parteien in Bezug auf den Asylstatus selbst unter Zugrundelegung ihres Vorbringens aus rechtlichen Gründen keine Berechtigung zukäme, etwa weil das Fluchtvorbringen unter keinen der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Verfolgungsgründe subsumiert werden könnte.

1.3. In diesem Zusammenhang bringt der Sechstrevisionswerber in der Revision vor, bei richtiger rechtlicher Würdigung des Sachverhalts sei von asylrelevanter Verfolgung auszugehen. Er sei im Zusammenhang mit seinen Problemen mit den schiitischen Milizen nunmehr der Blutrache seitens der Familie seines verstorbenen Schwagers ausgesetzt, die ihn für den Tod ihres nahen Angehörigen verantwortlich mache. All dies habe politische Hintergründe, nämlich seine Probleme mit den schiitischen Milizen. Letztlich sei der Sachverhalt auch so zu interpretieren, dass er einer bedrohten sozialen Gruppe angehöre, nämlich der sozialen Gruppe der von Blutrache bedrohten Angehörigen einer Großfamilie.

1.4. Dieser Rechtsansicht vermag der Verwaltungsgerichtshof nicht zuzustimmen: Dass der Sechstrevisionswerber von den Angehörigen seiner Ehefrau wegen seiner tatsächlichen oder auch nur unterstellten politischen Gesinnung (vgl. dazu auch Art. 10 Abs. 1 lit. e Statusrichtlinie) verfolgt würde, lässt sich dem gesamten Fluchtvorbringen nicht entnehmen. Auch eine Verfolgung aus anderen in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen ist in Bezug auf den Sechstrevisionswerber nicht zu erkennen. Insbesondere steht die vom Sechstrevisionswerber vorgebrachte Bedrohung in keinem Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, wie sie etwa in Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie umschrieben wird. Die Gefährdung des Sechstrevisionswerbers liegt nach seinem Vorbringen vielmehr ausschließlich darin begründet, dass ihm von Angehörigen des Getöteten eine Mitschuld an der Ermordung gegeben wird. Ein Konnex zu den Fluchtgründen der GFK ist darin nicht zu sehen (vgl. zur Asylrelevanz privater Rache ("Blutrache") etwa VwGH vom 8. Juni 2000, 2000/20/0141, vom 26. Februar 2002, 2000/20/0517, und vom 22. August 2006, 2006/01/0251). Ausgehend davon wirft die Revision des Sechstrevisionswerbers für sich betrachtet keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG auf, die ihre Zulässigkeit begründen könnte.

1.5. Anders ist das Revisionsvorbringen der Fünftrevisionswerberin zu beurteilen. Auch sie macht geltend, die Asylrelevanz ihres Fluchtvorbringens liege darin, dass die behauptete Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der "von Blutrache bedrohten Angehörigen einer Großfamilie" erfolge. Dem ist insoweit zuzustimmen, als Verfolgungshandlungen gegen Personen, die in die Rache gegen den unmittelbar Betroffenen (im vorliegenden Fall wäre dies der Sechstrevisionswerber) bloß aufgrund ihrer familiären Verbindung zu diesem einbezogen werden, Asylrelevanz nicht von vornherein abgesprochen werden kann (vgl. zur Bedrohung eines Familienmitglieds infolge von Racheakten nochmals VwGH vom 26. Februar 2002, 2000/20/0517; zur Anerkennung des Familienverbandes als "soziale Gruppe" etwa VwGH vom 14. Jänner 2003, 2001/01/0508; ).

Im Fall der Fünftrevisionswerberin tritt hinzu, dass sie Verfolgungshandlungen gegen ihre Person auch deshalb befürchtet, weil sie sich dem Willen ihrer Sippe widersetzt habe, den Ehemann (den Sechstrevisionswerber) zu verlassen. Insofern trifft es auch nicht zu, dass die Fünftrevisionswerberin - wie das BVwG vermeint -

keine eigenen Ausreisegründe geltend gemacht hat. Diese vorgebrachte Bedrohung kann die Zuerkennung von Asyl rechtfertigen, zumal die gewalttätige Reaktion der Sippe auf das - den Vorstellungen der Familie widersprechende - Verhalten der Fünftrevisionswerberin zumindest auch in ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe "Familie" gelegen und mit jener Art von geschlechtsspezifischer Verfolgung vergleichbar ist, deren Asylrelevanz in der hg. Rechtsprechung bereits anerkannt worden ist (vgl. etwa zu Fällen der Zwangsverheiratung durch die Familie VwGH vom 4. März 2010, 2006/20/0832, und vom 15. September 2010, 2008/23/0463; zur Gewalt innerhalb der Familie etwa VwGH 28. August 2009, 2008/19/1027, 1028, und vom 11. November 2009, 2008/23/0366).

Dass der Herkunftsstaat Irak gewillt und in der Lage wäre, der Fünftrevisionswerberin gegen die behauptete Verfolgung durch Familienangehörige Schutz zu gewähren, hat das BVwG nicht festgestellt. Soweit das BVwG sich aber hilfsweise auf das Vorhandensein einer inländischen Fluchtalternative gestützt hat, steht dieses Argument schon im Widerspruch zum gewährten subsidiären Schutz, weil § 11 AsylG 2005 die Annahme der inländischen Fluchtalternative nur erlaubt, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1 AsylG 2005) nicht gegeben sind.

Aufgrund dieser Überlegungen ist es für den Verfahrensausgang von Bedeutung, ob dem Fluchtvorbringen der revisionswerbenden Parteien Glauben geschenkt wird. Damit hängt die Revision der Fünftrevisionswerberin auch von der gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG geltend gemachten Frage der Verhandlungspflicht ab und ist zulässig.

1.6. Da die übrigen revisionswerbenden Parteien (also auch der Sechstrevisionswerber als Ehemann der Fünftrevisionswerberin) unstrittig "Familienangehörige" im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 sind, für sie das Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 zur Anwendung gelangt und sie gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 alle Anspruch auf Gewährung des gleichen Schutzumfanges haben, führt die Zulässigkeit der Revision der Fünftrevisionswerberin auch zur Zulässigkeit der übrigen Revisionen.

2. Die Revisionen sind auch begründet.

2.1. Mit Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass ein Absehen von der mündlichen Verhandlung durch das BVwG nach § 21 Abs. 7 BFA-VG wegen geklärten Sachverhalts nur unter folgenden Voraussetzungen zulässig ist:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben, das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.

2.2. Von diesen in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen wich das BVwG im vorliegenden Fall ab.

Der Begründung des erstinstanzlichen Bescheides lässt sich nicht ausreichend deutlich entnehmen, welche Teile des Fluchtvorbringens für wahr und welche für unwahr angesehen wurden. So hielt das Bundesasylamt einerseits fest, es sei nachvollziehbar, dass der Sechstrevisionswerber für den Tod seines Schwagers verantwortlich gemacht werde. Andererseits zog es jedoch die Glaubwürdigkeit der revisionswerbenden Parteien (auch in Bezug auf die behauptete Bedrohung) in Zweifel.

Dieser unaufgeklärte Widerspruch in der Beweiswürdigung der ersten Instanz stand einer Abstandnahme von der mündlichen Verhandlung durch das BVwG schon deshalb entgegen, weil das Bundesasylamt dadurch die seine Feststellungen tragende Beweiswürdigung nicht in gesetzmäßiger Weise offen gelegt hat. Es kann somit auch nicht davon ausgegangen werden, dass das BVwG lediglich eine mangelfreie Beweiswürdigung der ersten Instanz in ihren tragenden Erwägungen geteilt hat und ein "geklärter Sachverhalt" im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG vorgelegen ist. Von einer Verhandlung vor dem BVwG durfte daher nicht abgesehen werden.

2.3. Das angefochtene Erkenntnis der Fünftrevisionswerberin ist deshalb mit einem Verfahrensmangel belastet. Dieser Mangel schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die übrigen Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. aus der ständigen hg. Rechtsprechung etwa VwGH vom 16. Dezember 2010, 2007/20/0743 u.a., und vom 15. Dezember 2010, 2007/19/0855 u.a.).

3. Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher in Bezug auf die Fünftrevisionswerberin gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG und in Bezug auf die übrigen revisionswerbenden Parteien gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 13. November 2014

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