VwGH 2008/23/0463

VwGH2008/23/046315.9.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall sowie die Hofräte Dr. Hofbauer und Mag. Feiel als Richter, im Beisein des Schriftführers MMag. Stelzl, über die Beschwerde der OHO, geboren am 26. Juli 1986, vertreten durch Mag. Wilfried Embacher, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 13. Februar 2007, Zl. 245.008/0/8E-XIV/39/03, betreffend §§ 7, 8 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §58 Abs2;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §58 Abs2;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine am 26. Juli 1986 geborene nigerianische Staatsangehörige, stellte am 30. Dezember 2002 einen Asylantrag. Zu ihren Fluchtgründen gab sie an, ihr Onkel, der nach dem Tod ihrer Eltern das Familienoberhaupt sei, habe sie zwingen wollen, einen "Juju-Priester" zu heiraten, wovon er sich Geld versprochen habe. Dazu habe ihr Onkel sie aus Jos (im nigerianischen Bundesstaat Plateau), wo sie bei ihren Eltern aufgewachsen sei und bis zu deren Tod die Schule besucht habe, nach Abraka in den Delta-State, einen anderen Bundesstaat von Nigeria, aus welchem ihre Eltern ursprünglich gestammt hätten und in dem sämtliche übrige Verwandte lebten, geholt. Eine Heirat habe sie auf Grund ihres jugendlichen Alters abgelehnt. Sie sei zweimal mit dem Nachtbus - dieselbe Strecke, die sie zuvor mit ihrem Onkel gefahren sei - zu einem ihr bekannten Pastor nach Jos geflohen. Dieser habe schließlich ihren Paten in Lagos verständigt, der sie von Jos abgeholt und nach Lagos gebracht habe, von wo aus sie Nigeria verlassen habe. Bei einer Rückkehr nach Nigeria befürchte sie, von ihrem Onkel oder dem Priester getötet zu werden.

Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 24. November 2003 den Asylantrag der Beschwerdeführerin gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und erklärte ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Nigeria gemäß § 8 AsylG für zulässig.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde - nach Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung - die dagegen erhobene Berufung gemäß §§ 7, 8 AsylG ab. Sie stellte fest, dass die Beschwerdeführerin ihr Heimatland wegen der bevorstehenden Zwangsverheiratung verlassen habe. Nicht festgestellt werden könne, dass die Beschwerdeführerin in ihrem Heimatland einer asylrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt (gewesen) sei. Das bereits von der Erstbehörde ihrer Entscheidung zu Grunde gelegte Vorbringen, das auch von der belangten Behörde "im Sinne der höchstgerichtlichen Judikatur" als glaubwürdig zu werten sei, sei nicht geeignet, eine Asylgewährung zu bewirken, weil keine Verfolgung von Seiten staatlicher Stellen behauptet worden sei und "die Verfolgung durch die Privatperson" weder in einem asylrechtlich relevanten Zusammenhang stehe noch eine staatliche Schutzgewährung verwehrt würde.

Zum Herkunftsland Nigeria stellte die belangte Behörde weiters fest, dass in einigen Teilen von Nigeria - besonders häufig im Norden Nigerias - vor allem junge Frauen zur Hochzeit mit älteren Männern gezwungen würden. BAOBAB (eine sich für Frauenrechte einsetzende NGO) berichte von vielen jungen Frauen aus dem Norden, die einer Zwangsheirat entkommen seien, erhalte aber auch einige Berichte von Frauen aus dem Süden des Landes. Frauen aus dem Norden, die gegen ihren Willen verheiratet werden sollten, könnten ihren Wohnort in einen anderen Staat im Norden oder in den Süden verlegen, besonders geeignet dafür sei Lagos. Diese Frauen könnten Unterstützung bei einer Anzahl von NGO's wie der Organisation WACOL ("Women Aid Collective") bekommen und viele nähmen diese Hilfe auch in Anspruch. WACOL betone, dass die große Mehrheit der Fälle einer Lösung zugeführt werden könne. In einigen Fällen seien die Frauen noch minderjährig, wenn sie zwangsverheiratet würden. Die Organisation WACOL bedauere aber auch, nur Hilfe anbieten zu können, wenn die Opfer ins Office in Abuja kämen.

In der rechtlichen Beurteilung führte die belangte Behörde (auch beweiswürdigend) aus, dass das Vorbringen der Beschwerdeführerin bereits von der Erstbehörde als glaubwürdig gewertet worden sei. Auch wenn im Rahmen der Berufungsverhandlung einzelne Schilderungen nicht nachvollziehbar gewesen seien, vermöge daraus keine Unglaubwürdigkeit des gesamten Vorbringens zu resultieren. Die Möglichkeit der Zwangsverheiratung habe sich auch an Hand der internationalen Länderberichte ergeben. Es könne jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass die staatlichen Behörden nicht gewillt oder nicht fähig (gewesen) seien, Schutz zu gewähren. Vielmehr habe die Beschwerdeführerin gar nicht versucht, Hilfe durch staatliche Stellen oder auch durch Hilfsorganisationen zu erlangen. Selbst bei Berücksichtigung des zum Verfolgungszeitpunkt jugendlichen Alters der Beschwerdeführerin könne keine asylrechtlich relevante Verfolgung festgestellt werden, sei sie doch selbständig zweimal von ihrem Onkel in Delta-State zu einem Pastor nach Jos gereist. Es sei ihr daher auch zumutbar gewesen, Hilfe durch staatliche Stellen oder private Hilfsorganisationen zu suchen und in Anspruch zu nehmen. Darüber hinaus stehe ihr die Möglichkeit offen, durch Verlegung ihres Wohnsitzes einer potenziellen Gefahr aus dem Wege zu gehen. Im Falle ihrer Rückkehr könne sie mit Hilfeleistung und Unterstützung durch Hilfsorganisationen, insbesondere die Organisation WACOL, welche sich vor allem um Frauen kümmere, die sich in einer der Beschwerdeführerin vergleichbaren Situation befänden, rechnen.

Über die dagegen erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof in dem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

1. Die belangte Behörde ist im angefochtenen Bescheid davon ausgegangen, dass die Beschwerdeführerin ihr Heimatland wegen einer bevorstehenden Zwangsverheiratung verlassen hat. Dass eine Verfolgung der Beschwerdeführerin auf Grund "Zwangsverheiratung" unter dem Gesichtspunkt einer geschlechtsspezifischen Verfolgung als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe nach Art. 1 Abschnitt A Z. 2 Genfer Flüchtlingskonvention asylrelevant sein kann, entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. zuletzt das Erkenntnis vom 4. März 2010, Zlen. 2006/20/0832, 0833, m.w.N.; siehe auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 30. November 2009,

U 431/08).

2. Die Beschwerde wendet sich gegen die Annahme ausreichenden staatlichen Schutzes gegen die drohende Zwangsehe sowie das Vorliegen einer innerstaatlichen Schutzalternative und zeigt damit relevante Verfahrensmängel auf.

2.1 Soweit die belangte Behörde die Abweisung des Asylantrages einerseits auf die durch keine Länderfeststellungen und keinerlei Berichtsmaterial belegte Annahme stützt, die staatlichen Behörden Nigerias seien gewillt und in der Lage, im Fall der Beschwerdeführerin wirksamen Schutz zu bieten (und dabei die Berufungsausführungen, dass "niemand Schutz gegen die Entscheidungen des Familienoberhauptes" biete und die Beschwerdeführerin nicht mit der Unterstützung der Polizei habe rechnen können, weil "sich die Behörden nicht in sogenannte familiäre Angelegenheiten einmischen" mit Stillschweigen übergeht), und andererseits auf die Möglichkeit der Hilfe durch die Organisation WACOL verweist, gleicht der vorliegende Beschwerdefall jenem, der mit dem hg. Erkenntnis vom 4. März 2010, Zlen. 2006/20/0832, 0833, entschieden worden ist. Auf dessen Entscheidungsgründe und die dort angeführte Vorjudikatur wird deshalb gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen.

2.2 Soweit die belangte Behörde überdies allgemein auf die Möglichkeit einer innerstaatlichen Wohnsitzverlegung verwies, nahm sie nicht ausreichend auf die individuelle, von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Situation Bedacht. Die belangte Behörde hätte im Hinblick auf das einer inländischen Schutzalternative u.a. innewohnende Zumutbarkeitskalkül - im vorliegenden Fall insbesondere unter Berücksichtigung der damaligen Minderjährigkeit der Beschwerdeführerin, dem Umstand, dass sämtliche Verwandte der Beschwerdeführerin, ebenso wie ihr Onkel, im Bundesstaat Delta wohnen und die alleinstehende weibliche Beschwerdeführerin bislang lediglich eine Schul-, jedoch keinerlei Berufsausbildung absolvierte - nähere Feststellungen über die im Fall eines solchen Ortswechsels zu erwartende konkrete Lage der Beschwerdeführerin treffen müssen. Die belangte Behörde hat somit auch die Frage der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Schutzalternative nicht ausreichend begründet (vgl. dazu die hg. Erkenntnisse vom 26. Jänner 2006, Zl. 2005/20/0304, sowie vom 21. Dezember 2006, Zl. 2003/20/0550).

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 3 VwGG Abstand genommen werden.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 15. September 2010

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