VwGH 2003/20/0550

VwGH2003/20/055021.12.2006

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl sowie die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher und Dr. Berger und die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde der N in W, geboren 1965, vertreten durch Mag. Christian Kühteubl, Rechtsanwalt in 2700 Wiener Neustadt, Neunkirchner Straße 34, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des unabhängigen Bundesasylsenates vom 24. September 2003, Zl. 215.597/0-II/39/00, betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7 idF 2002/I/126;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 1997 §7 idF 2002/I/126;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Spruchpunkt (Abweisung der Berufung gemäß § 7 AsylG) wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Türkei, reiste am 10. November 1999 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 13. Dezember 1999 Asyl. In ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 11. Jänner 2000 gab sie zusammengefasst an, ihr ältester Bruder und ihre übrige Familie - ihr Vater sei schon 1966 verstorben - hätten sie zwingen wollen, einen ihr unbekannten Mann zu heiraten. Ihr Bruder habe sie und ihre Mutter immer wieder geschlagen und auch verletzt. Da sie keinen Schutz vor ihrer Familie habe finden können, habe sie einen Selbstmordversuch unternommen. Schließlich sei ihr die Flucht aus der Türkei gelungen; im Falle ihrer Rückkehr befürchte sie, von ihren Brüdern umgebracht zu werden.

Mit Bescheid vom 1. Februar 2000 wies das Bundesasylamt den Asylantrag gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und stellte gemäß § 8 AsylG die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Türkei fest.

Mit dem angefochtenen, nach Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung ergangenen Bescheid wurde die Berufung der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid des Bundesasylamtes gemäß § 7 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 AsylG wurde festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Türkei nicht zulässig sei (Spruchpunkt II.), und der Beschwerdeführerin gemäß § 15 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.).

Die belangte Behörde stellte fest, die Gründe für die Ausreise der Beschwerdeführerin aus der Türkei seien darin gelegen, dass sie von ihrem Bruder geschlagen worden sei und dass dieser sie zwangsweise habe verheiraten wollen. Eine Meldung der Schläge bei der örtlichen Polizei sei für den Bruder ohne Folge geblieben. Auch ein Fluchtversuch zu ihrem Onkel nach Istanbul sei fehlgeschlagen und die Beschwerdeführerin sei zu ihrer Familie zurückgebracht worden. Im August 1999 habe sie versucht, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen. Ende Oktober 1999 sei ihr neuerlich die Flucht nach Istanbul gelungen, wo ihr Freunde geholfen hätten, die Türkei zu verlassen. Zur Abweisung des Asylantrages führte die belangte Behörde aus, auch wenn im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention Frauen als Angehörige einer "sozialen Gruppe" in die Flüchtlingsdefinition einzuschließen seien, so handle es sich im konkreten Fall nicht um eine dem Heimatstaat der Beschwerdeführerin zurechenbare Verfolgung. Es sei nicht davon auszugehen, dass der Staat nicht in der Lage bzw. nicht gewillt sei, die Beschwerdeführerin vor Übergriffen durch ihren Bruder zu schützen. Es sei nicht nur ein Gesetz zum besseren Schutz von Frauen erlassen worden - nach diesem am 14. Jänner 1998 in Kraft getretenen Gesetz könne "einem (Ehe-)Partner in Fällen von Gewalt oder anderen Verfehlungen der Zutritt zur gemeinsamen Wohnung durch ein Amtsgericht untersagt werden" -, sondern es würden der (schwangeren) Beschwerdeführerin (auch unter Berücksichtigung ihrer Erziehung und Ausbildung und der Tatsache, in Kürze allein erziehende Mutter zu sein) durchaus Möglichkeiten offen stehen, der häuslichen Gewalt zu entkommen. Es sei der Beschwerdeführerin zumutbar, die vor allem in den Großstädten bestehenden Hilfseinrichtungen für Frauen in der Türkei in Anspruch zu nehmen. Die Gewährung von Refoulementschutz begründete die belangte Behörde damit, dass es der Beschwerdeführerin, bei der nach ärztlicher Auskunft eine Risikoschwangerschaft bestehe, derzeit nicht zumutbar sei, in ihr Heimatland zurückzukehren.

Gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Gemäß § 7 Asylgesetz 1997, BGBl. I Nr. 76, idF BGBl. I Nr. 126/2002 (AsylG), hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung droht (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der FlKonv genannten Endigungs- oder Ausschließungsgründe vorliegt. Flüchtling ist gemäß Art. 1 Abschnitt A Z 2 FlKonv, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen. Flüchtling ist auch, wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Die belangte Behörde ging im vorliegenden Fall davon aus, dass der Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bei der Beschwerdeführerin (grundsätzlich) gegeben wäre, nahm aber an, dass nicht davon ausgegangen werden könne, der Heimatstaat der Beschwerdeführerin sei "nicht in der Lage bzw. nicht gewillt", sie vor Übergriffen durch ihren Bruder zu schützen.

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kommt es in Bezug auf die Asylrelevanz auch nichtstaatlicher Verfolgung darauf an, ob die staatlichen Maßnahmen im Ergebnis dazu führen, dass der Eintritt eines asylrechtlich relevante Intensität erreichenden Nachteils aus der von dritter Seite ausgehenden Verfolgung nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom 1. September 2005, Zl. 2005/20/0357, mwH).

Soweit die belangte Behörde das Vorliegen ausreichenden staatlichen Schutzes damit begründete, dass in der Türkei am 14. Jänner 1998 ein Gesetz zum besseren Schutz von Frauen in Kraft getreten sei, laut dem einem "(Ehe-)Partner in Fällen von Gewalt oder anderen Verfehlungen der Zutritt zur gemeinsamen Wohnung durch ein Amtsgericht untersagt werden" könne, so ist diese Begründung deshalb nicht tragfähig, weil die belangte Behörde keine Ermittlungen darüber gepflogen hat, inwieweit das genannte Gesetz von den türkischen Behörden auch tatsächlich auf Fälle wie jenen der Beschwerdeführerin angewendet wird. Diese Ermittlungen wären umso mehr geboten gewesen, als die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid selbst festgestellt hat, dass die Meldung der Misshandlungen bei der örtlichen Polizei - zu einem Zeitpunkt, als das genannte Gesetz bereits rund eineinhalb Jahre in Geltung stand - für den Bruder der Beschwerdeführerin ohne Folge geblieben sei (vgl. zu derartigen Ermittlungspflichten das hg. Erkenntnis vom 9. November 2004, Zl. 2003/01/0458, betreffend ein mazedonisches Amnestiegesetz aus dem Jahr 2002, sowie auch die Erkenntnisse vom 18. Februar 2003, Zl. 2000/01/0386, und vom 3. Juli 2003, Zl. 2002/20/0199, betreffend Ermittlungspflichten zum effektiven Vollzug von Gesetzen im Drittstaat im Falle einer Ausweisung eines Asylwerbers nach § 5 AsylG).

Die belangte Behörde hat die Verneinung einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr weiters damit begründet, dass der Beschwerdeführerin Möglichkeiten offen stehen würden, "der häuslichen Gewalt zu entkommen", indem sie Hilfseinrichtungen für Frauen in der Türkei in Anspruch nehme. Damit geht die belangte Behörde offenbar vom Bestehen einer innerstaatlichen Schutzalternative in einer solchen Einrichtung aus. In diesem Zusammenhang hat sie es aber unterlassen, sich mit der Frage der Effektivität und Zumutbarkeit der Inanspruchnahme dieser "Hilfseinrichtungen" - konkrete Feststellungen werden im angefochtenen Bescheid in Bezug auf das Bestehen von Frauenberatungsstellen getroffen, zu Frauenhäusern wird nur ausgeführt, es gebe "zahlreiche Frauenhäuser", "auch wenn diese zum Teil wegen finanzieller Schwierigkeiten … geschlossen werden müssen" - ausreichend auseinander zu setzen und nachvollziehbar zu begründen, ob und inwiefern die Beschwerdeführerin in diesen Einrichtungen frei von Furcht leben kann und ob ihr dies auch zumutbar ist (vgl. in diesem Sinne etwa das hg. Erkenntnis vom 29. September 2005, Zl. 2004/20/0384, mwH). Dass es der Beschwerdeführerin gelungen ist, vor ihrer Familie nach Istanbul zu flüchten und von dort zu ihrer in Österreich lebenden Schwester zu gelangen, sagt noch nichts darüber aus, dass es der Beschwerdeführerin auch möglich und zumutbar wäre, in einem Frauenhaus in der Türkei zu leben.

Zweifel an der Effektivität der in Rede stehenden Maßnahmen ruft etwa der von der belangten Behörde herangezogene Bericht des deutschen Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom Jänner 2002 hervor, wonach die Schließung des letzten Frauenhauses einer privaten Vereinigung zum Teil auch auf "erhebliche Ressentiments der Istanbuler Stadtverwaltung zurückzuführen gewesen (sei), die weder bereit gewesen sei, die Arbeit der Einrichtung zu unterstützen, noch sich der Institution gegenüber neutral zu verhalten. Frauenhäuser mit ihrer speziellen Problematik entsprächen nicht dem männlichen Familienbild einer mehrheitlich von der Fazilet-Partei geprägten Stadtverwaltung."

Die im genannten Zusammenhang getroffenen Feststellungen lassen auch nicht klar erkennen, ob es sich bei diesen Einrichtungen um Frauenhäuser handelt, in denen familiärer Gewalt ausgesetzte Frauen tatsächlich eine Unterkunft, und nicht nur - wie sich aus dem genannten Bericht des deutschen Bundesamtes ergibt - Beratung zu frauenspezifischen Themen finden.

Weitere Begründungsmängel ergeben sich im Zusammenhang mit dem von der belangten Behörde eingeholten Sachverständigengutachten einer klinischen Psychologin und Psychotherapeutin, laut dem für die Beschwerdeführerin "die Option, in einem Frauenhaus in ihrem Heimatland untergebracht zu werden, (…) unzumutbar (erscheint), da es für eine Frau in der Türkei ohne Rückhalt in einem Familienverband nahezu unmöglich ist, ein halbwegs normales Leben führen zu können." Mit der letztgenannten Einschätzung hat die Sachverständige zwar ihren Fachbereich überschritten, dennoch hätte die belangte Behörde sie - auch auf Grund der Ausführung im Gutachten, wonach "derzeit" keine Selbstmordgefahr bestehe - näher dazu befragen müssen, ob der Beschwerdeführerin auch unter diesem Gesichtspunkt ein längeres Leben in einem Frauenhaus in der Türkei aus psychischer Sicht tatsächlich zumutbar sei.

Schließlich hat sich die belangte Behörde auch nicht mit den von der Beschwerdeführerin im Berufungsverfahren wiederholt geäußerten Befürchtungen, ihr Bruder bzw. ihre Familienangehörigen könnten sie auch in einem Frauenhaus finden und umbringen, auseinander gesetzt.

Die belangte Behörde hat aus diesen Gründen sowohl die Frage des Bestehens eines ausreichenden Schutzes der Beschwerdeführerin durch staatliche Maßnahmen als auch jene der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Schutzalternative nicht ausreichend begründet (vgl. zur innerstaatlichen Schutzalternative bei Verfolgung durch Privatpersonen auch das hg. Erkenntnis vom 26. Jänner 2006, Zl. 2005/20/0304, und das oben zitierte Erkenntnis vom 1. September 2005). Angemerkt sei, dass diese Begründungsmängel auch nicht etwa durch Heranziehung der im Refoulementteil des angefochtenen Bescheides zur Gewährung von Abschiebungsschutz angestellten Erwägungen beseitigt werden können, zumal die belangte Behörde den Refoulementschutz lediglich mit der Risikoschwangerschaft der Beschwerdeführerin begründete.

Der angefochtene Spruchpunkt I. war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich im Rahmen des gestellten Begehrens auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.

Wien, am 21. Dezember 2006

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