Normen
AsylG 1997 §10 Abs5;
AsylG 2005 §34 Abs4;
AVG §60;
AVG §67;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 1997 §10 Abs5;
AsylG 2005 §34 Abs4;
AVG §60;
AVG §67;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
Spruch:
Der erstangefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Die zweit- bis viertangefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40, insgesamt somit EUR 4.425,60, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die erst-, zweit- und viertbeschwerdeführenden Parteien, alle russische Staatsangehörige aus Dagestan tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, beantragten am 24. September 2005 Asyl. Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet, sie sind die Eltern der Dritt- und Viertbeschwerdeführer. Der Drittbeschwerdeführer wurde erst in Österreich geboren; für ihn wurde am 22. September 2006 im Familienverfahren internationaler Schutz beantragt. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Erstbeschwerdeführer an, er sei am 24. August 2005 gezielt von Gefolgsleuten Kadyrows zu Hause abgeholt, in den nahegelegenen Wald im tschetschenischdagestanischen Grenzgebiet verschleppt und dort nach befreundeten Kämpfern befragt worden. Dabei sei er von mehreren Personen derart misshandelt worden, dass er das Bewusstsein verloren habe. Ihm sei berichtet worden, dass er von einem Förster in einem Erdloch im Wald gefunden und ins Dorf gebracht worden sei, von wo aus er dann ins Krankenhaus gebracht worden sei; erst dort sei er wieder zu Bewusstsein gekommen. Er habe Verletzungen am Handgelenk und an der Nase, glaublich Frakturen, davongetragen und sei zwei oder drei Wochen im Krankenhaus behandelt worden. Danach habe er über ein Jahr lang bei Verwandten versteckt gewohnt und sei nur selten nach Hause gekommen. Die Kadyrow-Leute hätten in dieser Zeit regelmäßig bei ihm zu Hause nach ihm gefragt. Als er gesehen habe, dass sich die Situation nicht bessern würde und auch etliche andere Bewohner seines Dorfes, welches als Durchzugspunkt für tschetschenische Kämpfer bekannt sei, verschleppt worden seien, sei er mit seiner Familie ausgereist. Die Zweitbeschwerdeführerin bestätigte die Angaben ihres Mannes, brachte aber darüber hinaus weder für sich noch für ihre Kinder eigene Fluchtgründe vor.
Nach Einholung eines gerichtsmedizinischen Gutachtens vom 19. Oktober 2005 und eines (negativen) psychiatrischen Kurz-Befundes im Zulassungsverfahren vom 13. Oktober 2005 wies das Bundesasylamt mit Bescheiden vom 13. Oktober 2006 sämtliche Anträge ab, gewährte keinen subsidiären Schutz und verfügte die Ausweisung aller Beschwerdeführer nach "Russland". Seine Entscheidung stützte das Bundesasylamt zentral auf das gerichtsmedizinische Gutachten, demzufolge keine konkreten Verletzungsspuren gefunden worden seien und eine traumatisch bedingte Knochenveränderung im Bereich des rechten Handgelenks nicht objektivierbar sei, und leitete daraus ab, dass der vom Erstbeschwerdeführer dargelegte Vorfall nicht passiert und für ihn daher keine Bedrohungssituation gegeben sei. Für eine Gruppenverfolgung tschetschenischer Volksgruppenangehöriger in Dagestan würden sich aus den Länderinformationen keine Anhaltspunkte ergeben.
Die dagegen erhobenen Berufungen wandten sich konkret gegen die Schlüssigkeit des gerichtsmedizinischen Gutachtens und verwiesen unter anderem auf zwei Berichte des LKH Vöcklabruck vom
16. und 25. Oktober 2006, welche u.a. die Durchführung einer operativen Septumkorrektur beschreiben, sowie einen Röntgenbefund vom 30. Oktober 2006, demzufolge eine ältere Abruptio des Processus styleoideus ulnae mit entsprechender Distension bestehe.
Mit den angefochtenen, im Familienverfahren ergangenen Bescheiden wies die belangte Behörde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Berufungen ab. Begründend führte sie aus, der Erstbeschwerdeführer habe nicht glaubhaft machen können, dass er in das Blickfeld der Kadyrow-Leute geraten sei. Zwar seien die Aussagen von Erstbeschwerdeführer und Zweitbeschwerdeführerin zur Abholung bzw. Verschleppung des Erstbeschwerdeführers durch Gefolgsleute Kadyrows übereinstimmend gewesen, es sei jedoch in der Darstellung der Umstände seiner Misshandlungen beim Verhör sowie seiner Auffindung zu - näher ausgeführten - "Widersprüchen und Ungereimtheiten" gekommen. Da das vom Erstbeschwerdeführer "nicht widerlegte" nach dem Gutachten der Gerichtsmedizin die von ihm behaupteten Verletzungen nicht hätten festgestellt werden können, seien diese "nur zum Zwecke der Asylgewährung behauptet" worden. Ferner hätten seine Frau und "seine übrigen Verwandten" im rund einjährigen Zeitraum bis zur Ausreise des Erstbeschwerdefühers und seiner Familie unbehelligt in Dagestan leben können, was das Fehlen einer gezielten behördlichen Verfolgung bestätige. Aus den aufgrund der allgemeinen Länderberichte zu Dagestan nicht auszuschließenden Säuberungsaktionen könne kein konkreter Bezug zum Erstbeschwerdeführer hergestellt werden.
Gegen die angefochtenen Bescheide richten sich die vorliegenden - wegen des persönlichen und sachlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen - Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
Nach dem gemäß § 67 AVG auch von der Berufungsbehörde anzuwendenden § 60 AVG sind in der Begründung des Berufungsbescheides die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenzufassen. Demnach muss in der Bescheidbegründung in einer eindeutigen, die Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichenden und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugänglichen Weise dargetan werden, welcher Sachverhalt der Entscheidung zu Grunde gelegt wurde, aus welchen Erwägungen die Behörde zu der Ansicht gelangte, dass gerade dieser Sachverhalt vorliege und aus welchen Gründen sie die Subsumtion dieses Sachverhaltes unter einen bestimmten Tatbestand als zutreffend erachtete (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 2. September 2010, Zl. 2008/19/0568, mwN).
Diesen Anforderungen werden die angefochtenen Bescheide nicht gerecht.
Die belangte Behörde stützt ihre Annahme der Unglaubwürdigkeit des Vorbringens des Erstbeschwerdeführers einerseits auf Aussagedivergenzen zu Details seiner Misshandlung und andererseits auf Ungereimtheiten betreffend sein Auffinden im Wald mit anschließender Verbringung ins Dorf bzw. ins Krankenhaus, welche sich bei näherer Betrachtung jedoch nicht als dermaßen gravierend erweisen, um daraus Widersprüche ableiten zu können. Dass der Erstbeschwerdeführer vor dem Bundesasylamt angegeben habe, er sei mit einem Sack überm Kopf in den Wald verbracht und erst dort sei ihm wieder der Sack vom Kopf genommen worden, steht nicht im Widerspruch zu seiner Aussage in der mündlichen Berufungsverhandlung, wonach ihm im Wald der Sack mehrmals abgenommen und wieder aufgesetzt worden sei. Weiters erscheint es -
umso mehr vor dem Hintergrund der dörflichen Strukturen - durchaus nachvollziehbar, dass der Erstbeschwerdeführer von den Umständen seiner Auffindung - er sei von einem Förster bewusstlos in einem Erdloch liegend gefunden und von diesem ins nächstliegende Dorf gebracht worden, wo dieser vermutlich nach Befragung der Dorfbewohner die Familie des Erstbeschwerdeführers ausfindig gemacht habe, und in der Folge ins Krankenhaus verbracht worden - über die Erzählungen Dritter (etwa der beteiligten Personen, wie seiner Familie, des Försters, Dorfbewohner) Kenntnis erlangt hat. Warum die belangte Behörde diese Erklärung des Erstbeschwerdeführers als Schutzbehauptung wertete (offenbar mit dem Argument, dass er über diese Umstände nicht hätte Bescheid wissen können, da er behauptetermaßen bewusstlos gewesen sei), lässt sich anhand der Bescheidbegründung nicht nachvollziehen.
Ferner vermeint die belangte Behörde im gerichtsmedizinischen Gutachten eine Bestätigung dafür erkennen zu können, dass die vom Erstbeschwerdeführer geschilderten Vorfälle sich nicht zugetragen hätten, weil darin die behaupteten Verletzungen nicht bestätigt worden sein. Wie die Beschwerde aufzeigt, übersieht die belangte Behörde dabei allerdings, dass der Erstbeschwerdeführer bereits in der Berufung zu Recht gerügt hatte, dass dieses Gutachten oberflächlich und allgemein gehalten sei und er auch im Berufungsverfahren einen Röntgenbefund vorgelegt hat, demzufolge eine Nasenbeinverkrümmung (Septumdeviation) operativ korrigiert werden musste und eine ältere Verletzung des rechten Handgelenks (konkret: eine Abruptio des Processus styleoideus ulnae) bestehe. Mit diesem Vorbringen hat sich die belangte Behörde jedoch nicht auseinandergesetzt. Dies wäre aber schon allein angesichts des nicht schlüssigen gerichtsmedizinischen Gutachtens erforderlich gewesen, zumal aus diesem nicht hervorgeht, dass die angegebenen Verletzungen im Zuge der gerichtsmedizinischen Begutachtung auch radiologisch untersucht worden seien. Wie die Gutachterin ohne eine solche Untersuchung aber zu dem Ergebnis kommen konnte, die behaupteten Verletzungen seien nicht objektivierbar, wird einerseits im Gutachten nicht dargelegt und erweist sich andererseits als nicht nachvollziehbar sowie überdies nicht im Einklang mit den vom Erstbeschwerdeführer vorgelegten Befunden stehend. Das erwähnte gerichtsmedizinische Gutachten war somit jedenfalls nicht geeignet, die von den Behörden angenommene Unglaubwürdigkeit des Vorbringens des Erstbeschwerdeführers zu begründen bzw. zu untermauern.
Zusammenfassend hat die belangte Behörde daher nicht ausreichend dargetan, warum die vom Erstbeschwerdeführer geschilderten Vorfälle bzw. Fluchtgründe nicht der Wahrheit entsprechen sollten.
Allein daraus, dass die Familie des Erstbeschwerdeführers in Dagestan noch ein Jahr unbehelligt zu Hause leben konnte, kann nicht abgeleitet werden, dass der Erstbeschwerdeführer nicht ins Blickfeld der Kadyrow-Gefolgsleute gekommen sei. Dieses Argument ist schon aufgrund der Aussage der Zweitbeschwerdeführerin, wonach nach dem Untertauchen des Erstbeschwerdeführers die Kadyrow-Leute regelmäßig sein Haus aufgesucht und nach ihm gefragt hätten, nicht nachvollziehbar.
Damit erweist sich die Schlussfolgerung der belangten Behörde, wonach sich aus den allgemeinen Länderberichten zu Dagestan zwar ergebe, dass es dort "immer wieder zu allgemeinen Säuberungsaktionen komm(e)", diese aber nicht Gegenstand des Asylverfahrens des Erstbeschwerdeführers sein könnten, soweit kein konkreter Bezug zur Person des Erstbeschwerdeführer hergestellt werden könne, als nicht schlüssig.
Da eine Relevanz dieser Verfahrensfehler für den Verfahrensausgang nicht auszuschließen war, war der erstangefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs 2 Z 3 lit b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren gemäß § 10 Abs. 5 AsylG (betreffend die zweit- und viertbeschwerdeführenden Parteien) bzw. § 34 Abs. 4 Asylgesetz 2005 (betreffend den Drittbeschwerdeführer) auch auf die Verfahren der Zweit- bis Viertbeschwerdeführer durch (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 7. Oktober 2010, Zlen. 2007/20/0456 bis 0461, bzw. vom 21. Oktober 2010, Zlen. 2007/01/0490, 0536, 0630, mwN). Die sie betreffenden Bescheide der belangten Behörde waren daher wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.
Wien, am 16. Dezember 2010
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