OGH 4Ob129/24k

OGH4Ob129/24k10.9.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacher als Vorsitzenden sowie den Vizepräsidenten Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, den Hofrat Mag. Dr. Wurdinger, die Hofrätin Mag. Waldstätten und den Hofrat Dr. Stiefsohn als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen 1. *, geboren am * 2014, und 2. *, geboren am 12. Juni 2017, beide wohnhaft bei der und vertreten durch die Mutter *, diese vertreten durch Mag. Erich Hierz, Rechtsanwalt in Graz, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters *, vertreten durch Dr. Gerald Ruhri und andere Rechtsanwälte in Graz, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 30. November 2023, GZ 1 R 154/23h‑287, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00129.24K.0910.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die nunmehr neun- bzw siebenjährigen Minderjährigen sind die ehelichen Kinder des Rechtsmittelwerbers und der *. Nach der Trennung der Eltern im Jahr 2019 und einer Scheidung mit Urteil vom 6. 7. 2020 kam die Obsorge (mangels anderer Vereinbarung) zunächst beiden Elternteilen zu, wobei sich die Minderjährigen hauptsächlich im Haushalt der Mutter aufhielten und der Vater ein Kontaktrecht hatte.

[2] In der Folge kam es zu zahlreichen Anträgen im Pflegschaftsverfahren und auch zu wechselseitigen Strafanzeigen. Zuletzt trafen die Eltern am 8. 7. 2021 eine einvernehmliche Vereinbarung über die gemeinsame Obsorge mit einem hauptsächlichen Aufenthalt bei der Mutter sowie über das Kontaktrecht.

[3] Mit Beschluss vom 31. 5. 2023 entzog das Erstgericht dem Vater über Antrag der Mutter die Obsorge für beide Minderjährige, regelte sein Kontaktrecht neu und trug beiden Elternteilen umfassende Maßnahmen zur Erziehungs- und Elternberatung auf. Einen Antrag des Vaters auf Verhängung einer Beugestrafe gegen die Mutter wies es ebenso ab wie weitere Anträge im Zusammenhang mit der Obsorge und dem Kontaktrecht.

[4] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung am 30. 11. 2023 und ließ den Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

[5] Der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters ist aus dem genannten Grund unzulässig und daher zurückzuweisen.

[6] 1. Voranzustellen ist, dass der Vater in seinem Rekurs und Revisionsrekurs jeweils erklärte, die Entscheidungen „vollumfänglich“ anzufechten. In dritter Instanz beantragt er jedoch nur mehr eine Abänderung insoweit, als die Obsorge künftig weiterhin beiden Elternteilen zukommen und das Kontaktrecht unverändert bestehen bleiben solle; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.

[7] Inhaltlich nimmt er wiederum nur zur Obsorge, nicht aber zur Kontaktrechtsregelung Stellung, sodass im Folgenden auch nur auf die Obsorgefrage einzugehen ist.

[8] 2.1 Die nachträgliche Änderung einer Obsorgeregelung setzt keine Gefährdung des Kindeswohls voraus. Die Änderung der Verhältnisse muss aber derart gewichtig sein, dass das zu berücksichtigende Postulat der Erziehungskontinuität in den Hintergrund tritt (RS0132056, RS0128809 [T5]). Dies kann nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden und wirft im Allgemeinen keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf, es sei denn, es wurde dabei auf das Kindeswohl nicht ausreichend Bedacht genommen (vgl RS0115719, RS0007101).

[9] 2.2 Bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ist ausschließlich dessen Wohl maßgebend (vgl RS0048632, RS0130247).

[10] Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern setzt zudem ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit beider voraus. Es ist also auch eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder zumindest in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet werden kann (vgl RS0128812). Auch diese Beurteilung kann nur nach den Umständen des Einzelfalls erfolgen und wirft im Allgemeinen keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf (RS0128812 [T5, T15, T19]).

[11] 3. Das Erstgericht stützte seine Entscheidung auf umfassende Erhebungen, unter anderem ein erst in der vorangegangenen Tagsatzung sowie schriftlich ergänztes Sachverständigengutachten, und hielt abschließend fest, dass der Vater als Folge der Trennung von der Mutter reaktiv eine Persönlichkeitsakzentuierung entwickelt habe, die aktuell zu deutlichen Einschränkungen seiner Erziehungsfähigkeit führe. Aus seiner unverminderten Aufrechterhaltung des elterlichen Konflikts resultiere zudem eine eingeschränkte Kooperations- und Kommunikationsbasis zwischen den Eltern. Im Gegensatz zur Mutter sei es ihm nicht gelungen, die bereits im Jahr 2021 aufgezeigten Risikofaktoren zu erkennen, zu reflektieren und aktiv zu bearbeiten. Dadurch würden sich für beide Minderjährige erhebliche Risiken für ihre künftige Entwicklung ergeben. Das ältere Kind befinde sich bereits jetzt in einem starken und chronifizierten Loyalitätskonflikt mit deutlichen Belastungssymptomen, bei beiden bestehe ein akuter und dringender Entlastungsbedarf.

[12] 4.1 Der Vater argumentiert in seinem Revisionsrekurs vom 5. 7. 2024 vorrangig damit, dass er seit März 2023 in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner neuen Lebensgefährtin und deren zehnjähriger Tochter lebe, und sich seine Kinder gut mit beiden verstehen würden, was er dem Erstgericht damals auch bekanntgegeben habe.

[13] Die neue Situation habe zwischenzeitlich zu einer nachhaltigen Verbesserung seines Zustands, einer Beruhigung des Konflikts und einer ausreichenden Kommunikationsbasis der Eltern geführt.

[14] 4.2 Dem ist entgegenzuhalten, dass Obsorgeentscheidungen eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt haben und nur dann sachgerecht sein können, wenn sie auf einer aktuellen und bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen (vgl RS0106312). Das Rekursgericht hat den angefochtenen Beschluss aber grundsätzlich aufgrund der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen (vgl § 53 AußStrG; RS0006801), hier sohin zum 31. 5. 2023.

[15] Das Eingehen einer Lebensgemeinschaft wurde vom Rekursgericht hier auch gewürdigt, es hielt jedoch fest, dass diese Tatsache die aufgezeigten Risikofaktoren nicht zu entkräften vermöge und die längerfristige Entwicklung abzuwarten sein werde.

[16] 4.3 Eine Rechtsrüge ist wiederum nur dann gesetzmäßig ausgeführt, wenn sie, ausgehend vom festgestellten Sachverhalt, aufzeigt, dass dem Rekursgericht bei Beurteilung dieses Sachverhalts ein Rechtsirrtum unterlaufen ist; dies gilt auch im Außerstreitverfahren (RS0043312 [T15]; RS0043603 [T17]).

[17] Der Maxime des Kindeswohls ist im Obsorgeverfahren zwar dadurch zu entsprechen, dass der Oberste Gerichtshof aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, – ungeachtet des im Revisionsrekursverfahren an sich herrschenden Neuerungsverbots gemäß § 66 Abs 2 AußStrG – auch dann berücksichtigen muss, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind (RS0122192). Das bezieht sich aber nur auf unstrittige und aktenkundige Umstände, nicht aber auf Umstände, die erst noch durch ein Beweisverfahren zu klären wären (RS0122192 [T4]). Neues Vorbringen allein macht die betreffenden Behauptungen noch nicht zum aktenkundigen Umstand (vgl RS0119918 [T13]).

[18] Auch wenn dem Rechtsmittelwerber zuzugestehen ist, dass seit den Beschlussfassungen (wegen eines Übermittlungsfehlers bei der Zustellung der Rekursentscheidung) bereits geraume Zeit vergangen ist, ist die von ihm ins Treffen geführte Umstandsänderung hier aber keine unstrittige und aktenkundige Tatsache, die bei der Entscheidung über den Revisionsrekurs zu berücksichtigen wäre, sondern lediglich eine unbewiesene Behauptung.

[19] Vielmehr ergibt sich aus dem Akt, dass neuerlich wechselseitige Anträge im Zusammenhang mit dem Kontaktrecht eingebracht wurden, sodass die behauptete Beruhigung des Konflikts nicht ersichtlich ist. Ebensowenig lässt der Akteninhalt erkennen, dass die vom Erstgericht – mittlerweile rechtskräftig – angeordneten Beratungstermine wahrgenommen worden wären.

[20] 5.1 Soweit der Vater eine Kindeswohlgefährdung bei der Mutter aufgrund „übermäßigen Medienkonsums“ ins Treffen führt, ist ihm entgegenzuhalten, sodass ein solcher gerade nicht festgestellt werden konnte, und der Oberste Gerichtshof auch im Außerstreitverfahren nicht Tatsacheninstanz ist, weshalb Fragen der Beweiswürdigung nicht an ihn herangetragen werden können (RS0007236 [T7], RS0006737); die Bekämpfung der Tatsachenfeststellungen mit Revisionsrekurs ist nicht möglich (RS0108449).

[21] 5.2 Dasselbe gilt sinngemäß, wenn der Vater mit seiner uneingeschränkten Erziehungs- und Kommunikationsfähigkeit argumentiert und der Mutter eine „das Kindeswohl beeinträchtigende Krankheit“ unterstellt. Zwar zeigt die Mutter nach den Feststellungen „eine überdurchschnittliche Ausprägung im Bereich Paranoia“, diese steht jedoch mit der chronisch konflikthaften Situation mit dem Vater im Zusammenhang. Im Übrigen wurden der Mutter ausreichende bis gute Kompetenzen im Umgang mit den Kindern, deren Verhältnis zum Vater sowie Institutionen attestiert.

[22] 6. Dem Revisionsrekurs gelingt es somit nicht, eine Fehlbeurteilung der Vorinstanzen aufzuzeigen, die im Interesse des Kindeswohls aufgegriffen werden müsste.

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