European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0030OB00134.23M.1005.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.281,40 EUR (darin 376,90 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsrekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
[1] Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens ist allein die Frage der Rechtzeitigkeit des von der Beklagten nach einem Verbesserungsauftrag mit Anwaltsunterschrift eingebrachten Einspruchs gegen den Zahlungsbefehl des Erstgerichts vom 12. April 2020.
[2] Das Rekursgericht änderte den Beschluss des Erstgerichts, mit dem dieses den verbesserten Einspruch als verspätet zurückgewiesen hatte, dahin ab, dass es dem Erstgericht die „Fortsetzung des Verfahrens unter Zugrundelegung des Einspruchs als rechtzeitig“ auftrug. Dabei ging es von der (ergänzten) Feststellung aus, dass ein Irrtum des Zustellers beim Zustellvorgang (Einwurf in ein anderes Briefkastenfach als das der Beklagten) zum dokumentierten Datum nicht ausgeschlossen werden könne und daher von der Rechtzeitigkeit des Einspruchs ausgegangen werden müsse.
Rechtliche Beurteilung
[3] Weder das Rekursgericht noch die Klägerin zeigen das Vorliegen der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO auf. Der Revisionsrekurs ist daher entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig. Die Zurückweisung eines ordentlichen Rechtsmittels wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 528a iVm § 510 Abs 3 ZPO):
[4] 1.1 Die erstgerichtliche Beweiswürdigung war für das Rekursgericht nicht mehr überprüfbar, weil das Erstgericht seinen tatsächlichen Feststellungen nicht nur Urkunden oder nur mittelbar aufgenommene Beweise, sondern auch die Einvernahme von Auskunftspersonen zugrunde gelegt hat (RS0044018 [T5, T6]). Das Rekursgericht begründete seine Entscheidung allerdings ausdrücklich damit, dass es keine „Umwürdigung“ der Beweise vornehme, sondern eine ergänzende Feststellung treffe.
[5] 1.2 Die Klägerin befasst sich mit der in der Zulassungsbegründung aufgeworfenen Frage, ob das Rekursgericht von einer Feststellung des Erstgerichts, die auf einer Einvernahme (hier: des Zustellers) beruht, aber einem Begründungsmangel unterliegt, abgehen könne, nicht erkennbar. Ein daraus gegebenenfalls resultierender Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz kann daher nicht aufgegriffen werden (vgl RS0080388 [T1]).
[6] 1.3 Soweit die Klägerin eine Nichtigkeit nach § 477 Abs 1 Z 4 ZPO geltend macht, ist ihr zu erwidern, dass dieser Nichtigkeitsgrund nur bei völligem Ausschluss von der Verhandlung gegeben ist (RS0107383). Davon kann hier nicht die Rede sein, weil der Klägerin – auch nach ihrem eigenen Vorbringen – nicht die Möglichkeit genommen wurde, vor Gericht zu verhandeln. Auch der Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 9 ZPO ist – entgegen der Meinung der Klägerin – nicht erfüllt (vgl RS0007484 ua), weil das Rekursgericht seine Entscheidung ausführlich begründete.
[7] 2.1 Das Gericht hat im Rahmen der amtswegigen Überwachung des Zustellwesens (§ 87 Abs 1 ZPO) die gesetzmäßige Zustellung selbständig zu überprüfen (RS0111270). Infolge dieser Amtswegigkeit der Zustellung sind allfällige Unrichtigkeiten in der Beurkundung von Amts wegen zu erheben und zu beachten (RS0036440). Aus dem Gebot der amtswegigen Überprüfung ist auch abzuleiten, dass zB das strenge Neuerungsverbot (§ 482 ZPO) bei der Prüfung eines Zustellvorgangs nicht gilt (RS0108589). Bei erkennbaren Zustellfehlern durch die Zustellorgane ist durch das Gericht eine neue Zustellung zu veranlassen, ohne dass es eines Antrags bedürfte (Stumvoll in Fasching/Konecny 3 § 87 ZustG Rz 4). Weichen bei der gebotenen Prüfung des Zustellvorgangs Beweisergebnisse voneinander ab und kann der Sachverhalt auch nicht im Wege der Beweiswürdigung geklärt werden, ist im Zweifel keine wirksame Zustellung anzunehmen (4 Ob 90/21w mwN). Nach ständiger Rechtsprechung gehen daher verbleibende Zweifel an der Rechtswirksamkeit einer Zustellung „zu Lasten der Behörde“ (4 Ob 90/21w mwN; RS0040471 [T4]).
[8] 2.2 Auch bei der Auslegung des § 292 Abs 2 ZPO ist die Amtswegigkeit des Zustellwesens zu berücksichtigen. Die Partei, die sich darauf beruft, dass an sie – ungeachtet eines vom Zusteller erstellten Zustellausweises – keine wirksame Zustellung erfolgt ist, muss demnach nicht beweisen, dass das Zustellorgan die Zustellung falsch beurkundet hat. Diese Partei trifft damit keine Beweislast (- umkehr); es reicht aus, dass letztlich Zweifel an der Wirksamkeit der Zustellung verbleiben (4 Ob 90/21w mwN).
[9] 2.3 Im vorliegenden Fall steht fest, dass ein Irrtum des Zustellers beim Zustellvorgang nicht ausgeschlossen werden könne (Negativfeststellung). Die von der Klägerin im Revisionsrekurs beanstandete Beweiswürdigung dazu lässt sich vom Obersten Gerichtshof, der nur Rechts- und nicht Tatsacheninstanz ist, nicht überprüfen (vgl RS0043414 [T11]; RS0043371 ua). Eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens wird im Rechtsmittel zwar erwähnt, inhaltlich allerdings nicht ausgeführt: Die Beanstandung, das Rekursgericht habe sich mit den Argumenten der Klägerin „bezüglich der völlig obskuren Aussagen des Geschäftsführers“ nicht auseinandergesetzt, betrifft die in dritter Instanz nicht bekämpfbare Beweiswürdigung.
[10] 3. Die in der Zulassungsbegründung sowie im Revisionsrekurs aufgeworfenen Fragen der Auslegung des § 26a ZustG stellen sich nicht, weil nach dem für den Obersten Gerichtshof bindenden, vom Rekursgericht zugrundegelegten Sachverhalt Zweifel an der wirksamen Zustellung bestehen (mögliches Einwerfen in ein falsches Briefkastenfach). Ob die Verständigung des Empfängers von der erfolgten Zustellung gemäß der Bestimmung des § 26a Z 1 ZustG (BGBl I Nr 16/2020, 2. COVID‑19-Gesetz, Art 27; in Kraft in der Zeit zwischen 22. März 2020 und 30. Juni 2020) eine „sanktionslose bloße Ordnungsvorschrift“ war oder ihr Unterbleiben einen Zustellmangel begründete, kann daher hier offen bleiben.
[11] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit des Revisionsrekurses hingewiesen (vgl RS0112296).
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