European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00009.24Y.0321.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Erbrecht und Verlassenschaftsverfahren
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der zweitbeklagten Partei die mit 2.984,39 EUR (darin enthalten 497,40 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Die Klägerin ist eines von zwei Kindern des 2019 verstorbenen Erblassers. Die Beklagten sind seine Neffen, die er 2018 testamentarisch zu gleichen Teilen zu seinen Erben einsetzte. Die Klägerin schloss er vom Nachlass aus, weil sie sich nie um ihn gekümmert habe. Die überschuldete Verlassenschaft wurde der Mutter des Erblassers an Zahlungs statt überlassen.
[2] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur mehr das auf § 789 ABGB gestützte Pflichtteilsklagebegehren gegen den Zweitbeklagten.
[3] Dieser erhielt mit Übergabsvertrag vom 21. 3. 2019 vomErblasser und dessen Mutter den je zur Hälfte in ihrem Eigentum stehenden landwirtschaftlichen Betrieb in Niederösterreich geschenkt, der (hypothetisch) die Voraussetzungen eines (Eltern‑Kind‑)Erbhofs iSd § 1 AnerbenG erfüllt. Der Erblasser wollte den Betrieb an den Zweitbeklagten übergeben, weil ihm daran lag, dass die Landwirtschaft fortgeführt und die Liegenschaften im Familienverband erhalten werden.
[4] Im Revisionsverfahren ist strittig, ob bei der Hinzu- und Anrechnung der Schenkung nach §§ 781, 782 ABGB der auf den Todeszeitpunkt aufgewertete Verkehrswert zum Zeitpunkt des Vermögensopfers oder in analoger Anwendung der anerbenrechtlichen Grundsätze der begünstigte Übernahmspreis zur Anwendung gelangt. Ist der Übernahmspreis maßgeblich, besteht aufgrund vorprozessualer Zahlungen des Zweitbeklagten kein Pflichtteilsanspruch mehr.
[5] Die Klägerin bringt insoweit vor, eine analoge Heranziehung des anerbenrechtlichen Übernahmspreises sei nicht zulässig, weil der Zweitbeklagte weder als gesetzlicher Erbe berufen noch Pflichtteilsberechtigter nach dem Erblasser sei.
[6] Der Zweitbeklagte wendet ein, bei Bezahlung des geforderten Betrags sei das Wohlbestehen des Erbhofs unmöglich. Der Erblasser habe aber eine Zerschlagung vermeiden wollen.
[7] Das Erstgericht wies die Klage gegen den Zweitbeklagten ab. Rechtlich bejahte es das Vorliegen eines Erbhofs und die analoge Anwendbarkeit des anerbenrechtlichen Wohlbestehensgrundsatzes bei Bewertung des übergebenen landwirtschaftlichen Betriebs auch zu Gunsten des beklagten Neffen des Erblassers.
[8] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und schloss sich im Wesentlichen der Rechtsansicht des Erstgerichts an. Zwar komme die Begünstigung nach der (bisherigen) Rechtsprechung dem Gedanken der vorweggenommenen Erbfolge entsprechend nur bei einer Übergabe an eine dem Kreis der gesetzlichen Erben angehörende Person zur Anwendung. Unklar sei aber, ob die Sonderbehandlung nur einem nach dem Tod bei gesetzlicher Erbfolge auch konkret Berufenen zukommen solle oder es ausreiche, dass der Übernehmer dem „abstrakten Kreis der gesetzlichen Erben“ des Übergebers angehöre. Aufgrund der Zielsetzung des AnerbenG, die Zersplitterung bäuerlicher Betriebe durch Erbteilung zu verhindern und das Wohlbestehenkönnen des berufenen Anerben sicherzustellen, sowie des Umstands, dass § 8 Abs 1 AnerbenG sogar die letztwillige Bestimmung fremder Personen zum Anerben ermögliche, sei der Pflichtteilsanspruch ausgehend vom begünstigten Übernahmspreis zu berechnen. Der wirtschaftliche Zweck der Übergabe liege im vorliegenden Fall nicht in einem Verkauf gegen Stundung des Kaufpreises, sondern in der Sicherstellung der ungeteilten Fortführung des Betriebs im Familienverband. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil seine Entscheidung in einem Spannungsverhältnis zur oberstgerichtlichen Rechtsprechung stehe, wonach eine analoge Anwendung des AnerbenG auf Schenkungen zu Lebzeiten des Erblassers nur in Betracht komme, wenn ein Erbhof an eine dem Kreis der gesetzlichen Erben angehörende Person übergeben wird.
[9] Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag, der Klage (auch) gegen den Zweitbeklagten stattzugeben. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[10] Der Zweitbeklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[11] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage im Zusammenhang mit derAnwendung des anerbenrechtlichen Wohlbestehensgrundsatzes bei Übergaben von Erbhöfen unter Lebenden zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.
[12] Die Klägerin argumentiert, das Berufungsgericht sei von der gefestigten Rechtsprechung abgewichen, nach der der begünstigte Übernahmspreis nur zu Gunsten eines Pflichtteilsberechtigten bzw einer zum Kreis der gesetzlichen Erben gehörenden Person, nicht aber zu Gunsten Fremder zur Anwendung komme. Fremd sei im Hinblick auf § 3 AnerbenG jeder, der – wie der zweitbeklagte Neffe – nicht (tatsächlich) zur gesetzlichen Erbfolge nach dem Übergeber als Miterbe berufen sei.
Dazu hat der erkennende Fachsenat erwogen:
[13] 1. Wird ein Erbhof schon zu Lebzeiten des Erblassers übergeben und liegt darin zumindest eine gemischte Schenkung, sind nach nunmehr ständiger Rechtsprechung bei Ermittlung des Pflichtteilsanspruchs die höferechtlichen Bestimmungen über den Übernahmspreis (Übernahmswert) analog anzuwenden (RS0017994; RS0012934; 2 Ob 129/16h Pkt I.2.1 mwN; 2 Ob 83/21a Rz 40 mwN; aA und auf bäuerliches Gewohnheitsrecht als allein maßgebliche Rechtsquelle abstellend: Zemen, Zum Übernahmswert bei der bäuerlichen Hofübergabe, JBl 2009, 560).
[14] 2. Die (hypothetische) Erbhofeigenschaft des übergebenen bäuerlichen Betriebs als Analogievoraussetzung (2 Ob 83/21a Rz 40) ist im Revisionsverfahren unstrittig. Zu klären ist, welche Personen sich als Übernehmer im Rahmen eines Pflichtteilsprozesses (zu Lasten des Pflichtteilsberechtigten) auf den anerbenrechtlichen Wohlbestehensgrundsatz berufen können.
3. Rechtsprechung
[15] 3.1 Dem zu 1 Ob 701/85 entschiedenen Pflichtteilsstreit unter Brüdern lag die Übergabe eines Hofs an einen Bruder und seine Ehefrau zu Grunde. Der Oberste Gerichtshof führte aus, bäuerliche Liegenschaften seien für die Pflichtteilsberechnung in erster Linie nach dem Ertragswert zu schätzen. Dieser Grundsatz sei auch bei Übertragung unter Lebenden bei vorweggenommener Erbfolge unter „nahen Anverwandten“ anzuwenden.
[16] 3.2 Die Entscheidung 5 Ob 537/95 betraf einen Pflichtteilsprozess der klagenden Tochter des Erblassers gegen eine fremde, nicht gesetzlich erbberechtigte (§ 731 ABGB) Frau, die als Mädchen am ihr vom Erblasser übergebenen Hof zu arbeiten begonnen, mit ihm später auch eine intime Beziehung hatte und von diesem als Erbin eingesetzt wurde. Der Oberste Gerichtshof betonte, dass den Entscheidungen, die den Wohlbestehensgrundsatz auf Hofübergaben unter Lebenden anwenden, jeweils Hofübergaben an eine dem „Kreis der gesetzlichen Erben angehörende Person“ zu Grunde gelegen seien. Handle es sich jedoch um eine Hofübergabe an eine „fremde Person“, stelle der bäuerliche Übergabsvertrag nach seinem wirtschaftlichen Zweck nur einen Verkauf der Landwirtschaft gegen Stundung des Kaufpreises dar, sodass als Wert der veräußerten Liegenschaft nur der Verkehrswert herangezogen werden könne.
[17] 3.3 Diese Argumentation wendet die Rechtsprechung bei bäuerlichen Übergabsverträgen auch im Zusammenhang mit der Beurteilung des Wuchertatbestands nach § 879 Abs 2 Z 4 ABGB an (1 Ob 624/85; 5 Ob 521/95; 9 Ob 134/00x; vgl auch RS0010078).
[18] 3.4 Die Entscheidung 6 Ob 359/97f betraf einen Pflichtteilsprozess unter leiblichen Kindern und eine Hofübergabe an eine Tochter. Der Oberste Gerichtshof kam zum Ergebnis, der in den Anerbengesetzen ausdrücklich verankerte Grundsatz, bei der Erbteilung den Übernahmspreis so zu bestimmen, dass der Übernehmer wohl bestehen kann, liege im Interesse der Erhaltung des bäuerlichen Betriebs. Er werde daher auch auf Fälle, die der ausdrücklichen Regelung des Höfe- und Anerbenrechts bloß ähnlich sind, insbesondere also auf Übergabsverträge bäuerlicher Unternehmen an „einen von mehreren (pflichtteilsberechtigten) Erbberechtigten“ schon zu Lebzeiten zumindest soweit analog angewendet, dass auf den Grundsatz des Wohlbestehenkönnens angemessen Rücksicht zu nehmen ist.
[19] Auch in dem zu dieser Entscheidung indizierten Rechtssatz (RS0110354) wird festgehalten, dass insbesondere bei bäuerlichen Übergabsverträgen „an einen von mehreren (pflichtteilsberechtigten) Erbberechtigten“ schon zu Lebzeiten Ähnlichkeit mit den Regelungen des Anerbenrechts bestehe.
[20] 3.5 Die Entscheidung 6 Ob 92/01z betraf ebenfalls einen Pflichtteilsstreit unter Kindern des Erblassers. Der Oberste Gerichtshof führte aus, Übergabsverträge im bäuerlichen Bereich seien Verträge sui generis mit familien- und erbrechtlichen Elementen. Letztere lägen in der Absicht des Übergebers, schon zu Lebzeiten seine Wirtschaft unter den Angehörigen in einer „verfrühten Erbfolge“ aufzuteilen. Hofübergaben zu Lebzeiten an einen „Pflichtteilsberechtigten“ würden zwar analog dem Anerbenrecht behandelt, Hofübergaben an andere Personen aber nicht. Der Begünstigte müsse also zumindest ein „möglicher Anerbe“ sein.
[21] 3.6 Zu 6 Ob 154/06z prüfte der Oberste Gerichtshof im Rahmen eines Pflichtteilsverfahrens, ob der vom Erblasser und seiner Ehefrau als Übergeber mit ihrem Sohn und seiner Ehefrau als Übernehmer geschlossene Übergabsvertrag mit den Zielsetzungen des Anerbengesetzes soweit übereinstimme, dass auch hier auf den Grundsatz des Wohlbestehenkönnens Bedacht zu nehmen sei. Er führte aus, Ziel des AnerbenG sei es, die Zersplitterung bäuerlicher Betriebe durch Erbteilungen möglichst zu vermeiden, um die für eine rationelle Bewirtschaftung erforderlichen Betriebsgrößen zu erhalten. Dieses Ziel werde im Verlassenschaftsverfahren durch die Zuweisung des Betriebs an einen Miterben (den Anerben oder Übernehmer) erreicht. Er habe die übrigen Miterben auf der Grundlage eines im Vergleich zum Verkehrswert niedrigeren Übernahmswerts abzufinden. Das bei Berechnung des Übernahmspreises zu beachtende Prinzip des „Wohlbestehenkönnens“ diene gleichfalls der Erhaltung des bäuerlichen Betriebs. § 8 AnerbenG mache deutlich, dass der Gesetzgeber zwar grundsätzlich die Übernahme des Erbhofs durch nur einen der Erben anstrebe, die letztwillige Übertragung des Erbhofs an Ehegatten (und damit die Schaffung eines Ehegattenerbhofs) im Miteigentum eines „erbberechtigten Angehörigen und seines Ehegatten“ aber dennoch für zulässig erachte, weil auch dabei die Gefahr einer Zersplitterung des bäuerlichen Betriebs nicht bestehe. Da eine Zersplitterung bei der durch den Übergabsvertrag vorweggenommenen Erbfolge nicht zu befürchten war, bejahte der Oberste Gerichtshof die analoge Anwendung des anerbenrechtlichen Wohlbestehensgrundsatzes.
[22] 3.7 Zu 6 Ob 275/07w führte der Oberste Gerichtshof im Zusammenhang mit einer Hofübergabe an einen Sohn aus, werde ein Erbhof schon zu Lebzeiten des Erblassers an eine dem „Kreis der gesetzlichen Erben angehörende Person“ übergeben und sei das übergebene Vermögen zumindest teilweise als Schenkung zu qualifizieren, seien (auch) die materiell-rechtlichen Grundsätze des anerbenrechtlichen Instituts der Nachtragserbteilung analog anzuwenden.
[23] 3.8 Gegenstand der Entscheidungen waren daher – sieht man von Pkt 3.1 und 3.6 ab (Übergaben an Sohn und Ehefrau) – stets Hofübernahmen durch Angehörige, die gleichzeitig pflichtteilsberechtigt waren und in Bezug auf den Erbhof im Rahmen der gesetzlichen Erbfolge auch als Mit- und Anerben iSd § 3 AnerbenG in Betracht gekommen wären, oder solche Personen, die nicht einmal zum Kreis der gesetzlichen Erben iSd § 731 ABGB zählen.
4. Lehre
[24] 4.1 Auch die überwiegende Lehre (Umlauft, Hinzu- und Anrechnung², 306; Eccher in Schwimann/Kodek 5 Höferecht Rz 8; Likar-Peer in Ferrari/Likar‑Peer, Erbrecht2 Rz 4.82; Musger in KBB7 § 788 ABGB Rz 2) verlangt unter Berufung auf die oben dargelegte Rechtsprechung die Übergabe an eine Person, die dem „Kreis der gesetzlichen Erben“ angehört, allenfalls auch an Ehegatten (eP) oder einen Elternteil und ein Kind als Analogievoraussetzung.
[25] 4.2 Bollenberger/P. Bydlinski (in KBB7 § 938 ABGB Rz 9) und Parapatits (in Schwimann/Kodek 5§ 938 ABGB Rz 41) bejahen eine analoge Anwendung des Wohlbestehensgrundsatzes unter Berufung auf die Rechtsprechung bei Übergaben an einen „Pflichtteilsberechtigten“.
[26] 4.3 Ertl (in Klang³ § 938 Rz 51) führt unter Berufung auf die Rechtsprechung aus, auf das Wohlbestehenkönnen komme es bei Übergaben an „Fremde“ nicht an, ohne diese näher zu definieren.
[27] 4.4 Kellner (in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 938 Rz 51) argumentiert, nach Gewohnheitsrecht komme der Grundsatz des Wohlbestehens bei allen nahen Verwandten und jedem Hof zum Tragen. Die von der Rechtsprechung bevorzugte Analogielösung erfordere dagegen die hypothetische Anwendbarkeit der Höfegesetze, also dass der Betrieb hypothetisch als Erbhof und der Begünstigte „hypothetisch als Anerbe“ zu qualifizieren wäre.
[28] 4.5 Zemen (Zum Übernahmswert bei der bäuerlichen Hofübergabe unter Lebenden, JBl 2009, 560 [566]) geht – entgegen der Rechtsprechung (vgl oben Pkt 1.) – von der (Weiter‑)Geltung anerbenrechtlichen Gewohnheitsrechts aus und plädiert für eine autonom gewohnheitsrechtliche Festlegung des begünstigten Übernehmerkreises. Dieser umfasse zwar nicht fremde Personen, aber jedenfalls „nahe Anverwandte“ (Schwiegersohn, angeheirateter Neffe, etc), aber auch faktische Familienangehörige, also etwa einen Ziehsohn oder Pächter unter den bei 5 Ob 537/95 genannten Umständen.
[29] 4.6 Walch (Der Grundsatz des Wohlbestehenkönnens im bäuerlichen Erbrecht, NZ 2021/20), befürwortet im Zusammenhang mit Hofübergaben unter Lebenden – im Einklang mit der Rechtsprechung – eine analoge Anwendung des (kodifizierten) anerbenrechtlichen Wohlbestehensgrundsatzes, wenn der Hof hypothetisch im Erbfall unter die anerbenrechtlichen Bestimmungen fallen würde. Dies müsse dann aber auch für den Kreis der Personen gelten, an die der Hof (begünstigt) übergeben werden dürfe. Die Rechtsprechung sei zu streng, wenn sie bei Erbhofübergaben an „fremde Personen“ per se die Ähnlichkeit mit einer vorweggenommenen Erbfolge ausschließe und wirtschaftlich von einem Kauf mit Stundung des Kaufpreises ausgehe. Solle etwa ein Schwager oder Knecht (bspw mangels blutsverwandter Nachkommen) einen Erbhof übernehmen, könne die Übergabe bei Schenkungscharakter durchaus mit einer vorweggenommenen Erbfolge vergleichbar sein, weil der Hof auch testamentarisch übergeben werden könnte (Walch aaO FN 57).
5. Stellungnahme des Fachsenats:
[30] 5.1 Der unmittelbare Anwendungsbereich des AnerbenG ist mangels gesetzlicher oder gewillkürter Erbfolge bzw Verfügung über den Erbhof durch Vermächtnis nicht eröffnet (vgl 2 Ob 107/23h Rz 17). Die Anwendbarkeit des Wohlbestehensgrundsatzes richtet sich daher danach, in welchem Ausmaß eine analoge Anwendung der anerbenrechtlichen Vorschriften geboten erscheint.
[31] 5.2 Jede Analogie setzt eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes voraus (vgl RS0106092; RS0008866). Es muss eine nicht gewollte Lücke vorliegen. Eine solche Lücke im Rechtssinn ist anzunehmen, wenn das Gesetz, gemessen an seiner eigenen Absicht und immanenten Teleologie, unvollständig ist (RS0098756 [T4]) und erfordert daher die gerechtfertigte Annahme, der Gesetzgeber habe einen nach denselben Maßstäben regelungsbedürftigen Sachverhalt übersehen (RS0008866 [T27]).
[32] 5.3 Grundlegendes Ziel des Höferechts ist die Erhaltung einer krisenfesten landwirtschaftlichen Struktur. Die Zersplitterung bäuerlicher Betriebe durch Erbteilung soll möglichst vermieden werden, um die für eine rationale Bewirtschaftung erforderlichen Betriebsgrößen zu erhalten. Dieses Ziel wird im Verlassenschaftsverfahren durch die Zuweisung an einen Miterben, den Anerben, erreicht. Dieser hat die übrigen Miterben auf der Grundlage eines niedrigen Übernahmspreises abzufinden (vgl RS0050211; Eccher in Schwimann/Kodek 5 Höferecht Rz 2). Neben der Zuweisung an den Anerben dient auch die Bemessung des Übernahmspreises nach dem Grundsatz des Wohlbestehens der Erhaltung des Erbhofs, weil der Übernehmer sonst in vielen Fällen gezwungen wäre, zur Entrichtung des Übernahmspreises Betriebsteile zu verkaufen (6 Ob 154/06z Pkt 4.2.; Schrammin Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 11 AnerbenG Rz 1).
[33] Der begünstigte Übernahmspreis (§ 11 AnerbenG) kommt dabei nicht nur im Rahmen der gesetzlichen Erbfolge (§ 3 AnerbenG), sondern auch bei gewillkürter Erbfolge (§ 8 AnerbenG) oder Vermächtnis (§ 9 AnerbenG) in Bezug auf den Erbhof zur Anwendung. Das AnerbenG begünstigt daher – zumindest im Anwendungsbereich des § 8 Abs 1 AnerbenG (anders bei Miteigentum: vgl dazu unten Pkt 5.8) – nicht nur einen bestimmten Personenkreis (zu Lasten der weichenden Miterben und Pflichtteilsberechtigten), sondern im Interesse der ungeteilten (Weiter‑)Erhaltung des Erbhofs auch letztwillig zum Anerben bestimmte Personen unabhängig von deren Verwandtschaftsverhältnis.
[34] 5.4 Eine analoge Anwendung des Wohlbestehensgrundsatzes setzt daher voraus, dass die Zielsetzung der (zumindest teilweise unentgeltlichen) Erbhofübergabe unter Lebenden mit jenen des Höfe- und Anerbenrechts übereinstimmt (vgl 6 Ob 154/06z Pkt 4.2.) und sie sich (wirtschaftlich) als vorweggenommene Erbfolge darstellt (vgl 6 Ob 154/06z Pkt 4. [„im Sinn einer vorweggenommenen Erbfolge“]; vgl auch Walch, Der Grundsatz des Wohlbestehenkönnens im bäuerlichen Erbrecht, NZ 2021/20 [FN 57: „vorweggenommene Erbfolge als Grundlage für die Analogie“]). Es muss also eine (Rechts)Ähnlichkeit mit den ausdrücklichen Regelungen des Anerbenrechts vorliegen (vgl RS0012911). Dies wird dann zu bejahen sein, wenn der Sachverhalt – bei einer Rechtsnachfolge von Todes wegen – grundsätzlich dem Anerbenrecht zu unterstellen wäre (Parapatits in Schwimann/Kodek, ABGB5 § 938 Rz 41).
[35] 5.5 Die Analogievoraussetzungen liegen nach der bisherigen, oben (Pkt 3.4 ff) referierten Rechtsprechung insbesondere bei bäuerlichen Übergabsverträgen zu Gunsten (pflichtteilsberechtigter) Erbberechtigter (und deren Ehegatten) vor. Derartige Übergabsverträge weisen als Verträge sui generis nämlich familien- und erbrechtliche Elemente zum Zwecke der vorgezogenen Erbfolge im Interesse der Erhaltung des Betriebs in der Familie und in einer Hand auf (RS0013930 [T4]). Sie bezwecken eine Vermögensabhandlung und vorverlegte Erbfolge bereits zu Lebzeiten (RS0022364 [T5]). Eine Zersplitterung des Erbhofs durch (allfällige) Erbteilung bei späterer (gesetzlicher) Erbfolge soll hintangehalten werden.
[36] 5.6 Walch (Der Grundsatz des Wohlbestehenkönnens im bäuerlichen Erbrecht, NZ 2021/20) weist aber zu Recht darauf hin, dass auch in Bezug auf den begünstigten Personenkreis auf die Wertungen des AnerbenG Bedacht zu nehmen ist und bei Übergaben an nicht (pflichtteilsberechtigte) Erbberechtigte nicht per se die Rechtsähnlichkeit der Übergabe mit vorweggenommener Erbfolge verneint und lediglich ein Verkauf gegen Stundung des Kaufpreises angenommen werden kann, weil der Erbhof auch testamentarisch (§ 8 AnerbenG) übergeben werden könnte. Von einer (Rechts‑)Ähnlichkeit zum Anerbenrecht ist daher nur insbesondere – aber nicht ausschließlich – bei einer Erbhofübergabe an einen (pflichtteilsberechtigten) Erbberechtigten auszugehen.
[37] 5.7 Im vorliegenden Fall setzte der Übergeber die Beklagten (seine Neffen) 2018 testamentarisch jeweils zu Hälfteerben ein und schloss die Klägerin (seine Tochter) „vom Nachlass aus“, weil sie sich nicht um ihn gekümmert habe. Im darauf folgenden Jahr übergab er (gemeinsam mit seiner Mutter als zweiter Hälfteeigentümerin) den Erbhof an den Zweitbeklagten und wies dem Erstbeklagten mit Übergabsvertrag vom selben Tag andere Vermögenswerte zu. Nach den Feststellungen wollte der Übergeber den Erbhof dem Zweitbeklagten deshalb schenken, weil ihm an der Fortführung der Landwirtschaft im Familienverband lag. Der zweitbeklagte Neffe des Erblassers versprach auch, die Landwirtschaft zu erhalten. Ausgehend davon lag der wirtschaftliche Zweck der Übergabe des Erbhofs nicht bloß in einem Verkauf gegen Stundung des Kaufpreises, sondern in der Vorwegnahme der letztwillig angeordneten Erbfolge und dauerhaften Sicherstellung des Fortbestands des Erbhofs (allein) in der Hand des Zweitbeklagten, also zur Vermeidung einer Zersplitterung durch allfällige Erbteilung.
[38] In der hier vorliegenden Konstellation ist daher die Rechtsähnlichkeit des Übergabsvertrags (vorweggenommene Erbfolge; Vermeidung der Zersplitterung des Erbhofs; dessen Fortführung im Familienverband) mit den Regelungen des AnerbenG zu bejahen, sodass bei der Pflichtteilsbemessung der Wohlbestehensgrundsatz analog zur Anwendung kommt. Dass der Zweitbeklagte aufgrund des Vorhandenseins von Nachkommen nicht (auch) als gesetzlicher Miterbe iSd § 3 AnerbenG berufen gewesen wäre, schadet in der vorliegenden Konstellation nicht. Anders als im zu 5 Ob 537/95 entschiedenen Sachverhalt steht hier fest, dass mit dem Übergabsvertrag – neben der Vorwegnahme der testamentarisch angeordneten Erbfolge – die Sicherstellung des (ungeteilten) Fortbetriebs in der Hand des Zweitbeklagten intendiert war, was gegen die Annahme eines bloßen Verkaufs gegen Stundung des Kaufpreises spricht, der der Fortbetriebsintention zuwiderliefe.
[39] 5.8 Auch der Umstand, dass es sich beim übergebenen Betrieb um einen Eltern-Kind-Erbhof gehandelt hat, schadet nicht, weil hier der gesamte Betrieb durch einheitlichen Vertrag beider Miteigentümer dem Zweitbeklagten übergeben wurde.
[40] 5.9 Die Interessen der Pflichtteilsberechtigten an einer Berücksichtigung des Verkehrswerts bei Übergabe eines lebensfähigen Erbhofs sind durch die auch auf Hofübergaben unter Lebenden analog anzuwendenden Vorschriften über die Nachtragserbteilung (RS0110354) geschützt (vgl 2 Ob 38/20g Rz 6).
[41] 5.10 Die Vorinstanzen sind daher zutreffend von einer analogen Anwendbarkeit des Wohlbestehensgrundsatzes ausgegangen.
[42] 6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.
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