European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00035.22V.0426.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Die Klägerin stürzte am 14. 1. 2020 auf einem Gehsteig, der entlang der Grenze einer im Eigentum des Beklagten stehenden Liegenschaft („Eckgrundstück“) in Wien verläuft. Dieser Gehsteig ist in Gehrichtung der Klägerin entlang der A* Straße anfangs 2,6 Meter breit, zwischen Gehsteig und Straße befindet sich eine Grünfläche mit Bäumen. Im Kreuzungsbereich der A* Straße mit der W*gasse erweitert sich der Gehsteig über eine Länge von etwa 15 Metern entlang der Grundstücksgrenze in ein „weitläufiges, annähernd kreisrundes Areal“, wobei der Abstand zwischen der Grenze der Liegenschaft des Beklagten und der Gehsteigkante bis zu 18 Meter beträgt. In der W*gasse beträgt die Breite des Gehsteigs im Bereich einer Bushaltestelle vorerst 4,6 Meter, ehe sie sich auf rund 2,7 Meter verjüngt. Vom „Areal“ weg führen sowohl in der A* Straße als auch in der W*gasse Schutzwege über die Fahrbahn (vgl Lichtbild Beilage ./1 aus dem verlesenen Polizeiakt [RS0121557 {T6, T7}]). Die Klägerin wollte als Fußgängerin von der A* Straße in die W*gasse einbiegen und kam „im weitläufigen Areal“ „aufgrund glatten Untergrunds“ zu Sturz. Nicht feststellbar ist, ob sich der Unfall innerhalb eines Abstands von drei Metern zur Grenze der Liegenschaft des Beklagten ereignete.
[2] Die Klägerin begehrt die Zahlung von 6.978,03 EUR sA an Schmerzengeld und weiterem Schadenersatz sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für künftige Schäden. Der Beklagte habe seine Pflichten als Liegenschaftseigentümer nach § 93 StVO verletzt, der Unfall habe sich innerhalb der Drei‑Meter‑Grenze zur Liegenschaft ereignet. Der Beklagte habe trotz Nieselregens und Kälte nicht gestreut.
[3] Der Beklagte wendet ein, dass er die ihn nach § 93 StVO treffenden Pflichten am Unfalltag erfüllt habe, indem er den entlang der in seinem Eigentum stehenden Liegenschaft vorhandenen Gehsteig in einer Breite von mindestens drei Metern geräumt und gestreut habe. Es treffe ihn keine Verpflichtung, den Gehsteig in seiner gesamten Breite von bis zu 18 Metern zu räumen. Die Klägerin sei in einer Entfernung von sechs Metern zur Liegenschaft des Beklagten gestürzt.
[4] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, weil die Klägerin den Beweis einer objektiven Übertretung der Schutznorm des § 93 StVO nicht erbracht habe.
[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge, hob das angefochtene Urteil auf und ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu. Den Liegenschaftseigentümer treffe nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu § 93 Abs 1 StVO eine Streupflicht für den gesamten Gehsteig, sofern nur die straßenabgewandte Gehsteigbegrenzung nicht mehr als drei Meter von der Grenze der Liegenschaft entfernt sei. Das Erstgericht werde im fortgesetzten Verfahren zu klären haben, ob der Beklagte dieser Streupflicht nachgekommen sei.
[6] Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil die der Entscheidung zu Grunde gelegte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in einem Widerspruch zur Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs (etwa 2007/02/0075) stehe.
[7] Dagegen richtet sich der Rekurs des Beklagten mit dem Abänderungsantrag, das Ersturteil wiederherzustellen.
[8] Die Klägerin beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rekurs nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[9] Der Rekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig,aber nicht berechtigt.
[10] Der Beklagte argumentiert, dass § 93 Abs 1 StVO einem Liegenschaftseigentümer eine Räum- und Streupflicht auf Gehsteigen nur in einer (maximalen) Breite von drei Metern – nämlich in einer Entfernung von höchstens drei Metern zur Liegenschaftsgrenze – auferlege. Zu beachten sei außerdem die Verordnung des Magistrats der Stadt Wien, ABl 2012/12, die die Verpflichtung zur Räumung und Streuung im Anlassfall auf zwei Meter – nämlich zwei Drittel der Maximalbreite von drei Metern – begrenze.
Dazu hat der erkennende Fachsenat erwogen:
1. § 93 StVO lautet auszugsweise:
„(1) Die Eigentümer von Liegenschaften in Ortsgebieten, ausgenommen die Eigentümer von unverbauten, land- und forstwirtschaftlich genutzten Liegenschaften, haben dafür zu sorgen, dass die entlang der Liegenschaft in einer Entfernung von nicht mehr als 3 m vorhandenen, dem öffentlichen Verkehr dienenden Gehsteige und Gehwege einschließlich der in ihrem Zuge befindlichen Stiegenanlagen entlang der ganzen Liegenschaft in der Zeit von 6 bis 22 Uhr von Schnee und Verunreinigungen gesäubert sowie bei Schnee und Glatteis bestreut sind (Satz 1). Ist ein Gehsteig (Gehweg) nicht vorhanden, so ist der Straßenrand in der Breite von 1 m zu säubern und zu bestreuen (Satz 2). [...]
(4) Nach Maßgabe des Erfordernisses des Fußgängerverkehrs, sowie der Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des übrigen Verkehrs hat die Behörde, sofern im Einzelfall unter den gleichen Voraussetzungen auf Antrag des nach Abs 1 oder 5 Verpflichteten nicht die Erlassung eines Bescheides in Betracht kommt, durch Verordnung
a) die in Abs 1 bezeichneten Zeiten, in denen die dort genannten Verkehrsflächen von Schnee oder Verunreinigung gesäubert oder bestreut sein müssen, einzuschränken;
b) die in Abs. 1 bezeichneten Verrichtungen auf bestimmte Straßenteile, insbesondere auf eine bestimmte Breite des Gehsteiges (Gehweges) oder der Straße einzuschränken;
c) zu bestimmen, dass auf gewissen Straßen oder Straßenteilen nicht alle in Abs. 1 genannten Verrichtungen vorgenommen werden müssen;
d) die Vorsichtsmaßregeln näher zu bestimmen, unter denen die in Abs 1 und 2 bezeichneten Verrichtungen durchzuführen sind.“
2. Der Magistrat der Stadt Wien hat von der in § 93 Abs 4 StVO geregelten Ermächtigung durch Erlassung der Verordnung „betreffend die Reinigung von Gehsteigen, Gehwegen und Stiegenanlagen“ vom 22. 3. 2012, ABl 2012/12, in deren § 1 wie folgt Gebrauch gemacht:
„(1) Die im § 93 Abs 1 StVO 1960 vorgeschriebene Verpflichtung zur Schneesäuberung und Bestreuung bei Schnee und Glatteis ist bei Gehsteigen und Gehwegen bis zu einer Breite von 1,50 m zur Gänze zu erfüllen. Der von solchen Verkehrsflächen entfernte Schnee darf auf nicht für den Fließverkehr bestimmten Teilen der Fahrbahn abgelagert werden, soweit Abs 2 nicht anderes bestimmt. Bei Gehsteigen und Gehwegen, die breiter als 1,50 m sind, müssen nur zwei Drittel ihrer gesamten Breite, mindestens jedoch 1,50 m fortlaufend in einer zusammenhängenden Fläche, von Schnee gesäubert und bei Schnee und Glatteis bestreut werden. Sofern auf solchen Gehsteigen taktile Blindenleitsysteme angelegt sind, ist die von Schnee zu säubernde und zu bestreuende Fläche so zu wählen, dass diese Blindenleitsysteme im betreuten Bereich liegen. Außer in Bereichen vor Haus- und Grundstückseinfahrten kann die darüber hinausgehende Breite des Gehsteiges zur Schneeablagerung verwendet werden. In diesen Fällen darf Schnee auf der Fahrbahn nicht gelagert werden. Bei der Berechnung der zu reinigenden Gehsteigbreite bleiben jene Flächen außer Betracht, die von der Behörde zum Parken freigegeben wurden. […]
(2) Die Einschränkung des Abs. 1 gilt nicht für die Säuberung von Verunreinigungen und Schnee sowie die Bestreuung der Gehsteige bei Schnee und Glatteis in Kreuzungsbereichen (§ 2 Abs. 1 Z. 17 StVO 1960), auf der Höhe von Schutzwegen (§ 2 Abs. 1 Z. 12 StVO 1960), in Haltestellenbereichen eines Massenbeförderungsmittels (§ 24 Abs 1 lit. e StVO 1960) und in Bereichen, die an Parkplätze für gehbehinderte Personen angrenzen (§ 43 Abs. 1 lit. d StVO 1960). In diesen Bereichen darf unabhängig von der Gehsteigbreite Schnee auf der Fahrbahn nicht gelagert werden.“
[11] 3. Ein Gehsteig ist nach der Legaldefinition des § 2 Abs 1 Z 10 StVO ein für den Fußgängerverkehr bestimmter, von der Fahrbahn durch Randsteine, Bodenmarkierungen oder dergleichen abgegrenzter Teil der Straße. Die rechtliche Qualifikation als Gehsteig hängt damit von den tatsächlichen Gegebenheiten ab, aus denen sich einerseits die Bestimmung für den Fußgängerverkehr und andererseits eine Abgrenzung gegenüber der Fahrbahn entsprechend der demonstrativen Aufzählung in § 2 Abs 1 Z 10 StVO ergeben muss (VwGH Ra 2019/02/0118, 89/03/0230). So ist insbesondere eine für den Fußgängerverkehr bestimmte Verkehrsfläche, die durch einen Randstein und unterschiedliche Höhe von der Fahrbahn abgegrenzt ist, als Gehsteig im Sinn der StVO anzusehen (VwGH 93/02/0009). Dass im Bereich eines Gehsteigs Bäume gepflanzt oder gar Bänke aufgestellt wurden, nimmt der Verkehrsfläche nicht die Qualifikation als Gehsteig im Sinn der StVO (VwGH 2003/02/0990). Vor diesem Hintergrund ziehen die Streitteile im Rekursverfahren zutreffend nicht in Zweifel, dass die Klägerin jedenfalls auf einem Gehsteig im Sinn der StVO zu Sturz kam.
[12] 4. Bis zur 10. StVO-Novelle (BGBl 1983/174) regelte § 93 Abs 1 Satz 1 StVO die Verpflichtung der Eigentümer von Liegenschaften in Ortsgebieten zur Säuberung und Streuung von Gehsteigen und Gehwegen „entlang der ganzen Liegenschaft“ ohne Nennung irgendwelcher Entfernungsangaben. Lediglich für Fälle, in denen kein Gehsteig (Gehweg) vorhanden war, enthielt die Regelung eine (auch im aktuellen Rechtsbestand unveränderte) Maßangabe („in der Breite von 1 Meter zu säubern und zu bestreuen“). Die Rechtsprechung ging zur alten Rechtslage davon aus, dass die Verpflichtung des § 93 Abs 1 StVO nur denjenigen Eigentümer trifft, dessen Liegenschaft unmittelbar an den Gehsteig angrenzt (RS0075574). Durch die Einfügung der Wortfolge „entlang der Liegenschaft in einer Entfernung von nicht mehr als 3 m vorhandenen“ durch die 10. StVO‑Novelle enthielt der Anrainerbegriff des § 93 StVO allerdings eine neue Definition.
[13] 4.1. Der Oberste Gerichtshof setzte sich erstmals in der Entscheidung 2 Ob 11/95 ausführlich mit den Konsequenzen der durch die 10. StVO-Novelle neu eingeführten „3 m‑Grenze“ auseinander und führte aus, dass für deren Ermittlung die rechtliche Grenze des Eigentums des Anrainers maßgeblich ist (RS0075584). Weiters betonte er, dass weder der Regierungsvorlage zur 10. StVO‑Novelle (ErläutRV 1188 BlgNR 15. GP 17 und 27), in der noch eine „Breite von 10 m“ vorgesehen gewesen sei, noch dem Bericht und Antrag des Verkehrsausschusses (AB 1481 BlgNR 15. GP 2) zu entnehmen sei, wie diese 3 m‑Grenze zu ermitteln sei. Eine sinnvolle Auslegung der Bestimmung könne aber nur bedeuten, dass den Liegenschaftseigentümer eine Streupflicht für den ganzen Gehsteig treffe, sofern nur die (straßenabgewandte) Gehsteigbegrenzung nicht mehr als 3 m entfernt sei (RS0075587). Würde man die Streupflicht genau mit 3 m von der Grundstücksgrenze limitieren, könnte das nämlich dazu führen, dass ein Liegenschaftseigentümer bloß einige Zentimeter des Gehsteigs zu bestreuen hätte. Es erscheine völlig sinnwidrig und der Verkehrssicherheit abträglich, die Streupflicht innerhalb einer Gehsteigfläche aufzuteilen.
[14] Diese Rechtsansicht hielt der Oberste Gerichtshof in mehreren Folgeentscheidungen ausdrücklich aufrecht (5 Ob 173/02f: „unmissverständliche Anordnung des § 93 Abs 1 StVO“; 2 Ob 26/06x; 2 Ob 86/06w). In der Entscheidung 2 Ob 26/06x betonte der erkennende Senat, dass es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass der Gesetzgeber mit der 10. StVO‑Novelle durch die Schaffung der „Dreimetergrenze“ konkurrierende Anrainerpflichten einführen habe wollen. Eine sinnvolle, am Zweck der Regelung orientierte Auslegung müsse daher zum Ergebnis führen, dass ein den Gehsteig säumender Grünstreifen, eine daneben befindliche Böschung oder andere Fläche von nicht mehr als drei Metern Breite nicht als „Liegenschaft“ iSd § 93 Abs 1 StVO angesehen werden könne, sodass die Pflicht zur Räumung und Streuung des Gehsteigs den Eigentümer der an den Grünstreifen angrenzenden Liegenschaft treffe.
[15] Keiner dieser Entscheidungen lag – soweit nachvollziehbar – ein Sachverhalt zu Grunde, in dem der Gehsteig oder Gehweg mehr als drei Meter breit gewesen wäre.
[16] 4.2. Die vom Obersten Gerichtshof vertretene Rechtsansicht wird durch die wenigen literarischen Stellungnahmen zur Frage des Umfangs der Räumpflicht gestützt:
[17] Haupfleisch (Die 10. StVO-Novelle – eine kritische Betrachtung [Teil 12: Pflichten der Anrainer], ZVR 1984, 293) geht davon aus, dass sich die „äußerst missverständliche Breitenbestimmung“ in § 93 Abs 1 Satz 1 StVO nicht auf die Gehsteigbreite beziehe, sondern als Entfernungsangabe zwischen Liegenschaftsgrenze und Gehsteig zu verstehen sei.
[18] Authried/Tretzmüller (Die Anrainerpflichten nach § 93 StVO im Winter, ZVR 2019/19, 45 [46]) nehmen ebenfalls eine Verpflichtung zur Räumung und Streuung des gesamten Gehsteigs an, wenn die straßenabgewandte Gehsteigsbegrenzung nicht mehr als 3 Meter von der Liegenschaftsgrenze entfernt liegt.
[19] 4.3. Der Verwaltungsgerichtshof hingegen vertritt seit der Entscheidung 85/02/0078 in ständiger Rechtsprechung, dass eine gesetzliche Verpflichtung zur Betreuung von Gehsteigen für Anrainer nur im Maximalausmaß von drei Metern Breite bestehen könne. Sei ein Gehsteig breiter als drei Meter (im Anlassfall waren es zumindest fünf Meter), so bedürfe es hinsichtlich des darüber hinausgehenden Teils auch keiner Einschränkung der Verpflichtung durch Bescheid oder Verordnung iSd § 93 Abs 4 lit b StVO.
[20] Diese Rechtsansicht hielt der Verwaltungsgerichtshof in mehreren Folgeentscheidungen aufrecht (VwGH 89/02/0100, 2007/02/0075, 2008/02/0242).
[21] 5. Nach Ansicht des erkennenden Fachsenats sprechen die besseren Gründe für die Annahme, dass § 93 Abs 1 StVO eine Verpflichtung des Liegenschaftseigentümers zur Säuberung und Streuung des Gehsteigs in seiner gesamten Breite normiert, sofern nur die (straßenabgewandte) Gehsteigbegrenzung nicht mehr als 3 m entfernt ist.
[22] Für diese Auslegung spricht bereits der Wortlaut der Bestimmung. Während Satz 1 des § 93 Abs 1 StVO von Gehsteigen und Gehwegen „in einer Entfernung von nicht mehr als 3 m“ spricht, sieht dessen Satz 2 explizit eine Verpflichtung nur im Ausmaß einer „Breite von 1 m“ vor. Hätte der Gesetzgeber ein maximales Ausmaß der Betreuungspflicht im Hinblick auf einen Gehsteig (Gehweg) normieren wollen, wäre ihm dies durch Verwendung einer dem Satz 2 vergleichbaren Formulierung auf einfache Weise möglich gewesen.
[23] Auch ein Blick auf die historische Entwicklung der Bestimmung des § 93 Abs 1 StVO spricht für die hier vertretene Auslegung. In der Stammfassung des § 93 Abs 1 StVO fand sich in Satz 1 keine Maßeinheit, sodass zwanglos davon auszugehen war, dass der unmittelbare Anrainer für die Säuberung und Streuung des gesamten, unmittelbar an seine Liegenschaft angrenzenden Gehsteigs (Gehwegs) verantwortlich war. Durch die 10. StVO‑Novelle sollte lediglich eine „Klarstellung“ erfolgen (ErläutRV 1188 BlgNR 15. GP 27). Auch die Erwägungen des Verkehrsausschusses (AB 1481 BlgNR 15. GP 2) lassen nicht erkennen, dass der Gesetzgeber der 10. StVO‑Novelle eine räumliche Begrenzung des maximalen Umfangs der Räum- und Streupflicht regeln wollte („[P]flicht nur für Gehsteige innerhalb einer Entfernung von 3 m von der Liegenschaft“).
[24] § 93 Abs 4 lit b StVO stützt ebenfalls die hier vertretene Auslegung. Diese Bestimmung ermächtigt die Behörde zur Erlassung einer Verordnung, mit der „die in Abs 1 bezeichneten Verrichtungen auf bestimmte Straßenteile, insbesondere eine bestimmte Breite des Gehsteiges (Gehweges)“ eingeschränkt werden und ermöglicht insoweit auch die Erlassung eines Bescheids im Individualverfahren. Der Anwendungsbereich dieser Bestimmung würde deutlich eingeschränkt, unterstellte man Abs 1 die Bedeutung einer Beschränkung der Räum- und Streupflicht auf einen maximal drei Meter breiten Streifen auf einem Gehsteig.
[25] Zentral sind jedoch teleologische Erwägungen. Die Bestimmung des § 93 StVO gilt dem Fußgängerverkehr (RS0075581 [T3, T5]) und soll damit insbesondere die Sicherheit der Fußgänger gewährleisten. Zutreffend betont der Oberste Gerichtshof daher in der bisherigen Rechtsprechung, dass es sinnwidrig und der Verkehrssicherheit abträglich erscheint, die Streupflicht innerhalb einer Gehsteigfläche aufzuteilen.
[26] Die gegenteilige, allerdings nicht näher begründete Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtshofs veranlasst den Obersten Gerichtshof somit nicht zu einem Abgehen von der als gefestigt anzusehenden Rechtsprechung zum Ausmaß der Räum- und Streupflicht auf einem Gehsteig.
[27] Der Oberste Gerichtshof übersieht dabei nicht, dass die Räum- und Streupflicht eines Liegenschaftseigentümers für einen Gehsteig damit im Einzelfall – so auch im hier zu beurteilenden Fall – einen viele Meter breiten Bereich umfassen kann. Dem Anrainer steht aber nach der hier vertretenen Ansicht die Möglichkeit offen, einen den Umfang der Räumpflicht einschränkenden Bescheid zu erwirken.
Als Zwischenergebnis ist damit festzuhalten:
[28] Den Liegenschaftseigentümer trifft nach § 93 Abs 1 StVO eine Räum- und Streupflicht für den Gehsteig (Gehweg) in seiner gesamten Breite, sofern nur die (straßenabgewandte) Gehsteigbegrenzung nicht mehr als drei Meter von der Liegenschaftsgrenze entfernt ist. Dies gilt auch im Fall eines mehr als drei Meter breiten Gehsteigs (Gehwegs).
[29] 6. Zutreffend weist der Beklagte darauf hin, dass im vorliegenden Fall neben der Bestimmung des § 93 Abs 1 StVO auch die Verordnung des Magistrats der Stadt Wien vom 22. 3. 2012, ABl 2012/12, zu beachten ist, mit der eine (teilweise) Einschränkung der Räum- und Streupflicht angeordnet wird.
[30] Damit traf den Beklagten im Bereich des anfangs 2,6 Meter breiten Gehsteigs entlang der A* Straße nur die Verpflichtung zur Räumung und Streuung im Ausmaß eines Streifens von (gerundet) 1,75 Metern (= 2/3 der Gehsteigbreite). Im Bereich des „weitläufigen, annähernd kreisrunden Areals“ ist die Räum- und Streupflicht hingegen nicht auf zwei Drittel der Gehsteigbreite beschränkt, weil mehrere Ausnahmefälle des § 1 Abs 2 VO ABl 2012/12 vorliegen. Die platzförmige Erweiterung befindet sich einerseits auf der Höhe von Schutzwegen, andererseits beginnt dort der Haltestellenbereich eines Massenbeförderungsmittels. Zudem liegt auch ein Kreuzungsbereich (§ 2 Abs 1 Z 17 StVO) vor, weil der Schutzweg an einer Kreuzung jedenfalls noch zum Kreuzungsbereich gehört (VwGH 85/18/0375). Sohin war der Beklagte verpflichtet, im Bereich des „weitläufigen, annähernd kreisrunden Areals“ – in dem die Klägerin stürzte – den Gehsteig in seiner gesamten Breite zu räumen und zu streuen.
[31] 7. Dem Rekurs des Beklagten war damit nicht Folge zu geben.
[32] 8. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
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