OGH 2Ob26/06x

OGH2Ob26/06x31.8.2006

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Tittel, Hon. Prof. Dr. Danzl und Dr. Veith sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofes Dr. Grohmann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. Ewa D*****, vertreten durch Dr. Stephan Duschel und Mag. Klaus Hanten, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Stadtgemeinde K*****, vertreten durch Dr. Peter Sparer, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen EUR 22.169,45 sA und Feststellung (Streitwert: EUR 5.000,--), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht vom 14. Oktober 2005, GZ 1 R 137/05i-14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 21. März 2005, GZ 15 Cg 1/05g-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichtes wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung

Am 3. 2. 2004 kam die Klägerin gegen 8.00 Uhr auf dem Gehweg der Hahnenkammstraße im Ortsgebiet von K***** zu Sturz, wobei sie sich den linken Unterarm brach.

Die beklagte Partei ist Eigentümerin des der Liegenschaft EZ 25 des Grundbuches K***** zugehörigen Grundstückes Nr 527, auf welchem der asphaltierte Gehweg verläuft. In Gehrichtung der Klägerin (stadteinwärts) ist dieser Gehweg von der rechts daneben gelegenen Fahrbahn zunächst durch einen Grünstreifen, dann durch einen Holzzaun getrennt. Im Bereich der Unfallstelle weist der Weg ein mäßiges Gefälle auf. Linksseitig grenzt dort an das Grundstück Nr 527 das im Alleineigentum des Josef H***** stehende, (unbebaute) landwirtschaftlich genutzte Grundstück Nr 455/1 der EZ 848 an. Die Klägerin begehrte von der beklagten Partei Schadenersatz in Höhe von zuletzt EUR 22.169,45 sA an Schmerzengeld (EUR 10.000,--), Verdienstentgang (EUR 19.617,33) und Kosten der Vertretung für ihre zahnärztliche Praxis (EUR 4.652,30) abzüglich einer Leistung aus ihrer Betriebsunterbrechungsversicherung (EUR 12.100,18), sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Partei für alle künftigen Schäden aus dem Unfall vom 3. 2. 2004. Sie brachte vor, auf einer mit einer dünnen Neuschneeschicht bedeckten Eisplatte ausgerutscht zu sein. Die Gehsteigstreuung sei angesichts der Witterungsverhältnisse (vorangegangener Eisregen und Nachtfrost) „absolut unzureichend" gewesen. Die beklagte Partei hafte gemäß § 93 StVO schon für leichte Fahrlässigkeit ihrer Leute, weil sie Eigentümerin der an den Gehsteig angrenzenden Grünflächen und daher Anrainerin im Sinne der zitierten Gesetzesbestimmung sei. Das Grundstück Nr 455/1 reiche nicht unmittelbar an den Gehsteig heran. Hilfsweise werde das Klagebegehren auf die Verletzung der die beklagte Partei treffende Verkehrssicherungspflicht sowie ihrer Pflichten als Halterin des Gehsteiges gestützt.

Die beklagte Partei bestritt das Klagebegehren dem Grunde und der Höhe nach und wandte ein, die im Sinne des § 93 StVO angrenzende Liegenschaft stehe nicht in ihrem Eigentum, weshalb sie keine Anrainerpflichten träfen. Als Wegehalterin hafte sie gemäß § 1319a ABGB nur für grobe Fahrlässigkeit. Eine solche sei ihr aber nicht vorwerfbar, verfüge sie doch über einen umfangreichen Streudienst, der ihre Liegenschaft betreue. Den Gehsteig in der Hahnenkammstraße habe am Unfallstag einer ihrer Mitarbeiter bestreut. Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus noch folgende weitere Feststellungen:

Wo genau in der Natur die Grenze zwischen den Grundstücken Nr 527 und 455/1 verläuft, insbesondere ob sich der Grenzverlauf mit dem Ende des asphaltierten Gehweges deckt, kann nicht festgestellt werden. Der Gehweg ist stark frequentiert. Die Unfallstelle liegt in einem Bereich, der leicht zur Vereisung neigt. Aus diesem Grund werden von der beklagten Partei im unmittelbaren Nahbereich der Unfallstelle Streugutbehälter positioniert. Die beklagte Partei setzt für den Winterdienst ca 30 Beschäftigte ein, von denen fünf damit beauftragt sind, das Gehwegnetz der beklagten Partei täglich zu Fuß abzugehen und sowohl mit Salz als auch mit Sand zu bestreuen. Einem Mitarbeiter, Georg L*****, obliegt unter anderem das Räumen und Streuen des Gehweges entlang der Hahnenkammstraße. Im Zuge seines Dienstes, der durch einen fixen Dienstplan geregelt ist, und der um 5.00 Uhr früh beginnt, geht er zweimal täglich diesen Gehweg ab. Zur Unfallstelle kommt er hiebei zwischen 7.00 und 8.00 Uhr sowie zwischen 13.00 und 15.00 Uhr. Das Streugut für den Bereich der Unfallstelle entnimmt er dem dort befindlichen Streugutbehälter. Er streut sowohl mit Salz als auch mit Sand. Der Gehweg kann auch mit einem bestimmten Streufahrzeug der beklagten Partei befahren werden, das in der Nacht vom 2. 2. auf den 3. 2. 2004 aber nicht im Einsatz war. Georg L***** hat sowohl am 2. 2. als auch am 3. 2. 2004 insgesamt jeweils 8,5 Stunden gestreut.

Als die Klägerin kurz vor 8.00 Uhr auf dem Gehweg stadteinwärts ging, war dieser durchgehend mit gepresstem, härterem Altschnee bedeckt. Der Klägerin, die stark profilierte Winterschuhe trug, kam der Weg nicht gefährlicher vor, als an den Tagen davor, als sie ihn auch schon begangen hatte. Sie ging etwa in der Mitte des Weges und rutschte, nachdem sie mehrere Meter der Gefällstrecke zurückgelegt hatte, aus. An der Sturzstelle befand sich keine Eisplatte, der Weg war auch dort schneebedeckt. Bis zum Sturz war die Klägerin an keiner anderen Stelle des Weges ins Rutschen geraten. Zum Unfallszeitpunkt befand sich an den Rändern des Gehweges Streugut, in der Mitte des Weges lagen nur ganz vereinzelt Streukörner. Während am Abend des 2. 2. 2004 Schneeregen gefallen war, war es am 3. 2. 2004 ab 6.30 Uhr heiter.

Das Erstgericht folgerte aus diesem Sachverhalt rechtlich, es sei Sache des Geschädigten, die haftungsbegründenden Umstände, wie hier die Anwendbarkeit des § 93 Abs 1 StVO unter Beweis zu stellen. Dies sei der Klägerin nicht gelungen. Es stehe nicht fest, ob die beklagte Partei wegen eines allenfalls noch auf dem Grundstück Nr 527 neben dem Gehweg verlaufenden Grünstreifens nicht nur Halterin, sondern auch „Anrainerin" des Weges sei. Selbst wenn dem so wäre, könnte aber aus einem begrünten Randstreifen des Weges nicht auf ihre Eigenschaft als Anrainerin im Sinne des § 93 Abs 1 StVO geschlossen werden. Sie habe daher als Halterin des Weges nach § 1319a Abs 1 ABGB nur für grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz einzustehen. Der Umstand, dass die Unfallstelle mit einer Altschneeschicht bedeckt und nur teilweise bestreut gewesen sei, stelle keinen objektiv schweren Verstoß gegen die Wegehalterpflichten dar. Dass am Unfallstag allenfalls erst gegen 8.00 Uhr gestreut worden sei, könnte zwar unter Umständen den Vorwurf leichter Fahrlässigkeit begründen, reiche aber für die Annahme eines subjektiv schwer anzulastenden Fehlverhaltens nicht aus. Das von der Klägerin angerufene Berufungsgericht bestätigte das erstgerichtliche Urteil und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Es verneinte die Relevanz des von der Klägerin in der Unterlassung der Durchführung des beantragten Ortsaugenscheines zwecks Klärung des Grenzverlaufes zwischen den Grundstücken Nr 527 und 455/1 erblickten sowie das Vorliegen eines weiteren gerügten Verfahrensmangels und ließ aus rechtlichen Erwägungen auch die gegen die Negativfeststellung zur Grundstücksgrenze gerichtete Tatsachen- und Beweisrüge unerledigt. Es führte aus, der Versuch der Klägerin, aus dem Eigentum der beklagten Partei an jener Fläche, auf welcher der asphaltierte Gehweg verläuft, die Anwendbarkeit des § 93 Abs 1 StVO abzuleiten, müsse schon daran scheitern, dass sich diese Vorschrift ausdrücklich an Anrainer, also die Eigentümer von an dem öffentlichen Verkehr dienenden Flächen angrenzenden Liegenschaften richte, nicht aber an die Eigentümer derartiger Verkehrsflächen. Nur wenn der Anrainer zugleich Wegehalter sei, stehe dem Geschädigten das Wahlrecht zu, ob er seinen Anspruch auf § 93 StVO oder § 1319a ABGB stützen will. Allein deshalb, weil - offenkundig - im Bereich der Unfallstelle das im Eigentum der beklagten Partei stehende Grundstück Nr 527 (ein reines Weggrundstück) nicht über die gesamte Breite als Gehsteig ausgestaltet sei, sondern einen schmalen Grünstreifen auch jenseits des Gehsteiges mitumfasse, könne noch nicht von einer Anrainereigenschaft der beklagten Partei im Sinne von § 93 Abs 1 StVO gesprochen werden. Dies setze nach Auffassung des Berufungsgerichtes voraus, dass die mit den Anrainerpflichten belastete Person Eigentümer eines von dem Weggrundstück verschiedenen Grundstückes sei. Ein solcher Fall sei der Entscheidung SZ 58/154 zugrundegelegen. Im Übrigen liege der Rechtsgrund für die gegenüber § 1319a ABGB erhöhte Sorgfaltspflicht des Anrainers darin, dass dieser nur einen kleinen, überschaubaren Bereich zu betreuen habe, zu dem er in der Regel in einem räumlichen Naheverhältnis stehe, sodass er viel eher die in § 93 Abs 1 StVO genannten Maßnahmen treffen könne, als der Wegehalter, der in der Regel sehr ausgedehnte Wegflächen in verkehrssicherem Zustand erhalten müsse. Es käme einem nicht begründbaren Wertungswiderspruch gleich, wollte man einem typischen Wegehalter, wie der beklagten Gemeinde, allein deshalb die strengere Anrainerhaftung auferlegen, weil er einen kleinen Teil einer Wegparzelle jenseits des Gehweges als Grünstreifen gestalte. Ausgehend von dieser Rechtsansicht bedürfe es keiner näheren Klärung der Frage, wo exakt die Grenze zwischen den Grundstücken Nr 527 und 455/1 verläuft. Die Haftung der beklagten Partei sei daher nach § 1319a ABGB zu beurteilen. Grobe Fahrlässigkeit liege aber aus den vom Erstgericht dargelegten Gründen nicht vor. Auf einen Verstoß gegen die allgemeine Verkehrssicherungspflicht könne sich die Klägerin nicht berufen, weil die Anwendung der schadenersatzrechtlichen Grundnorm durch die Sonderregelung des § 1319a ABGB ausgeschlossen sei.

Zur Begründung des Ausspruches über die Zulassung der Revision führte das Berufungsgericht aus, der Oberste Gerichtshof habe sich bisher mit der Frage nicht auseinandergesetzt, ob der Eigentümer eines Grundstückes, auf welchem sich sowohl der Weg als auch eine angrenzende Fläche befinde, Anrainer im Sinne des § 93 StVO sei. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, die bekämpfte Entscheidung im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, das Rechtsmittel der Klägerin zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil es einer Klarstellung der Rechtslage durch den Obersten Gerichtshof bedarf; sie ist im Sinne des Eventualantrages auch berechtigt.

Wurde ein angeblicher Verfahrensmangel erster Instanz in der Berufung zwar geltend gemacht, vom Berufungsgericht aber verneint, kann der Mangel nach ständiger Rechtsprechung in der Revision nicht mehr gerügt werden (RIS-Justiz RS0042963 [T45], RS0106371). Dies trifft hier auf die neuerlich relevierte Unterlassung der Einholung eines meteorologischen Gutachtens zu.

Der erwähnte Grundsatz ist aber dann nicht anwendbar, wenn das Berufungsgericht einen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens infolge einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung nicht wahrgenommen hat (RIS-Justiz RS0043051). Dazu zählt auch der Fall, dass es die Behandlung einer Mängelrüge infolge der vermeintlichen rechtlichen Unerheblichkeit des gerügten Mangels unterließ. Erweist sich die zu Grunde gelegte Rechtsansicht als unrichtig, liegt ein Mangel des Berufungsverfahrens vor (vgl 3 Ob 190/04v). Dasselbe gilt, wenn sich das Berufungsgericht mit einer Beweisrüge in der Berufung nicht befasste, weil es von einer unrichtigen Rechtsansicht ausgegangen ist (RIS-Justiz RS0043371 [T11]).

Hier rügt die Klägerin erkennbar als Mangel des zweitinstanzlichen Verfahrens, dass die Auseinandersetzung mit ihrer gegen die negative Feststellung über den Verlauf der Grundstücksgrenze gerichteten Mängelrüge und Beweisrüge auf Grund einer unrichtigen Rechtsansicht des Berufungsgerichtes jeweils unterblieben ist. Sie macht geltend, das Berufungsgericht lege nicht dar, wie schmal ein jenseits des Gehweges gelegener Grünstreifen sein müsse, damit dieser bei der Beurteilung der Anrainereigenschaft nach § 93 StVO außer Betracht bleiben könne. Eine derartige Fläche sei nicht mit der „Verkehrsfläche" ident.

Hiezu wurde erwogen:

Gemäß § 93 Abs 1 Satz 1 StVO haben die Eigentümer von Liegenschaften in Ortsgebieten, ausgenommen die Eigentümer von unverbauten, land- und forstwirtschaftlich genutzten Liegenschaften, dafür zu sorgen, dass die entlang der Liegenschaft in einer Entfernung von nicht mehr als drei Meter vorhandenen, dem öffentlichen Verkehr dienenden Gehsteige und Gehwege einschließlich der in ihrem Zuge befindlichen Stiegenanlagen entlang der ganzen Liegenschaft in der Zeit von 6.00 bis 22.00 Uhr von Schnee und Verunreinigungen gesäubert sowie bei Schnee und Glatteis bestreut sind.

Zum Verhältnis dieser Gesetzesstelle zu § 1319a ABGB vertritt der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung den Standpunkt, dass die Pflichten des Liegenschaftseigentümers nach § 93 StVO nicht unter die Haftungseinschränkungen des § 1319a ABGB fallen. Die Liegenschaftseigentümer im Sinne des § 93 StVO haben daher bei Verletzung ihrer Pflichten auch für leichte Fahrlässigkeit einzustehen (RIS-Justiz RS0030023). Dem Geschädigten kann demnach sowohl ein unter das Haftungsprivileg des § 1319a ABGB fallender Ersatzanspruch gegen den Halter des Weges als auch ein nicht auf die Schuldform des Vorsatzes und der groben Fahrlässigkeit eingeschränkter Ersatzanspruch gegen den Anrainer zustehen. Ist der Anrainer zugleich Wegehalter, steht es dem Geschädigten frei, auf welche dieser Bestimmungen er seinen Anspruch stützen will (SZ 58/154

= ZVR 1987/8; RIS-Justiz RS0030083).

In der Entscheidung 2 Ob 17/90 = ZVR 1991/48 stellte der Oberste

Gerichtshof klar, dass sich die Vorschrift des § 93 Abs 1 StVO (nur) an Anrainer, also die Eigentümer von an dem öffentlichen Verkehr dienenden Flächen angrenzenden Liegenschaften richtet, nicht aber an die Eigentümer derartiger Verkehrsflächen. In Ansehung letzterer kommt es daher auf das Grundeigentum nicht an (vgl auch VwGH, Erk vom 13. 6. 1985, Zl 85/02/0073 mwN). Maßgeblich für die Anrainereigenschaft ist demnach nur, wer Eigentümer der angrenzenden Liegenschaft ist. Der Verwaltungsgerichtshof versteht unter „Liegenschaft" im Sinne des § 93 Abs 1 StVO weder eine Grundparzelle noch einen Grundbuchskörper, sondern eine zusammenhängende Grundfläche, die nach der Verkehrsauffassung eine Einheit darstellt (Erk vom 30. 11. 1994, Zl 93/03/0294 = VwSlg 14176 A/1994; Dittrich/Stolzlechner, StVO3 § 93 Rz 5). Aus dieser Rechtsansicht, der sich der erkennende Senat anschließt, folgt jedoch, dass - nach Maßgabe der noch folgenden Erwägungen - grundsätzlich jede an die Verkehrsfläche anschließende einheitliche Grundfläche als „Liegenschaft" in Betracht kommt. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes wird die Anrainereigenschaft somit nicht schon dadurch ausgeschlossen, dass ein Gehweg und die daran angrenzende Grundfläche auf ein- und demselben Grundstück gelegen sind. Zum Begriff des „Anrainers" vertrat der Oberste Gerichtshof zur Rechtslage vor der 10. StVO-Novelle, BGBl 1983/174, die Rechtsansicht, dass die Verpflichtung des § 93 Abs 1 StVO nur denjenigen Eigentümer treffe, dessen Liegenschaft unmittelbar an den Gehsteig angrenzt (EvBl 1972/41; 8 Ob 76/85; RIS-Justiz RS0075574). In der Entscheidung 8 Ob 76/85 wurde folgerichtig die Haftung eines Liegenschaftseigentümers verneint, dessen Liegenschaft vom Gehsteig durch eine 40 cm breite Begrenzungsmauer, die nicht in seinem Eigentum stand, getrennt war. Der Oberste Gerichtshof führte dazu aus, es komme nicht darauf an, wie breit die Liegenschaft oder der Liegenschaftsanteil sei, der zwischen der Liegenschaft des in Anspruch Genommenen und dem Gehsteig liegt.

Mit der 10. StVO-Novelle wurden die in § 93 Abs 1 StVO geregelten Pflichten der Anrainer dahin erweitert, dass sie nun auch die „entlang der Liegenschaft in einer Entfernung von nicht mehr als drei Meter vorhandenen, dem öffentlichen Verkehr dienenden Gehsteige und Gehwege" zu betreuen haben (in der Regierungsvorlage waren noch 10 Meter vorgesehen). Mit dieser Neufassung der zitierten Gesetzesbestimmung wurde auch der darin maßgebliche Anrainerbegriff - abweichend von der soeben erörterten Rechtsprechung - neu definiert. Der Oberste Gerichtshof hat sich erstmals in der Entscheidung 2 Ob 11/95 = ZVR 1995/128 ausführlich mit den Konsequenzen der neuen Regelung auseinandergesetzt und unter anderem dargelegt, dass für die Ermittlung der „Dreimetergrenze" nicht die natürliche Grenze (etwa in Form eines Zaunes oder einer Hecke), sondern die rechtliche Grenze des Eigentums des Anrainers maßgeblich sei. Liege die straßenabgewandte Gehsteigbegrenzung nicht mehr als drei Meter von der Liegenschaftsgrenze entfernt, begründe dies die Streupflicht des Liegenschaftseigentümers für den ganzen Gehsteig (ebenso 5 Ob 173/02f = SZ 2002/116; RIS-Justiz RS0075587).

Für die Absicht des Gesetzgebers, durch die Schaffung der „Dreimetergrenze" konkurrierende Anrainerpflichten zu begründen, bieten weder der Gesetzeswortlaut noch die Materialien zur 10. StVO-Novelle (vgl ErlRV 1188 sowie AB 1488 BlgNR 15. GP) einen Anhaltspunkt. Eine sinnvolle, am Zweck der Regelung orientierte Auslegung muss vielmehr zu dem Ergebnis führen, dass ein den Gehsteig (Gehweg) säumender Grünstreifen, eine daneben befindliche Böschung oder ein Graben etc von nicht mehr als drei Metern Breite nicht als „Liegenschaft" im Sinne des § 93 Abs 1 StVO anzusehen ist. Kommt dem Eigentümer der daran angrenzenden Liegenschaft die Ausnahmeregelung für die Eigentümer unverbauter, land- und forstwirtschaftlich genutzter Liegenschaften zugute, hat dies in einem solchen Fall zur Folge, dass kein haftpflichtiger Anrainer vorhanden ist. Es verbleibt dann nur die eingeschränkte Haftung des Wegehalters nach § 1319a

ABGB.

Liegt der dem öffentlichen Verkehr dienende Gehsteig (Gehweg) jedoch mehr als drei Meter von der Grenze einer Liegenschaft entfernt, deren Eigentümer deshalb nicht mehr Anrainer ist, trifft die Verpflichtung des § 93 Abs 1 StVO den Eigentümer jener (mehr als drei Meter breiten) Grundfläche, die zwischen der benachbarten Liegenschaft und dem Gehsteig (Gehweg) liegt, mag dieser auch Eigentümer der dem öffentlichen Verkehr dienenden Grundfläche sein (in diesem Sinne auch Haupfleisch, Die 10. StVO-Novelle - eine kritische Betrachtung Teil 12: Pflichten der Anrainer, ZVR 1984, 293).

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen die Frage nach dem Verlauf der Grenze zwischen den Grundstücken Nr 527 (der EZ 25) und 455/1 (der EZ 848) auf Höhe der Sturzstelle jedenfalls dann von entscheidungsrelevanter Bedeutung ist, wenn die beklagte Partei nicht schon die Haftung wegen eines grob fahrlässigen Verstoßes gegen ihre Pflichten als Wegehalter gemäß § 1319a ABGB trifft.

Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ist unter grober Fahrlässigkeit im Sinne des § 1319a ABGB eine auffallende Sorglosigkeit zu verstehen, bei der die gebotene Sorgfalt nach den Umständen des Falles in ungewöhnlichem Maß verletzt wird und der Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern als geradezu wahrscheinlich vorauszusehen ist. Der objektiv schwere Verstoß muss auch subjektiv schwer anzulasten sein (2 Ob 59/05y = ZVR 2005/112 mwN; RIS-Justiz RS0030171).

Aus der Tatsache allein, dass die Unfallstelle zur Unfallszeit noch nicht gestreut war, ist noch kein der beklagten Partei anzulastendes grobes Verschulden ableitbar (2 Ob 17/90 = ZVR 1991/48; 2 Ob 21/05k). Nach den Feststellungen ist davon auszugehen, dass die beklagte Partei über eine ausreichende Organisation ihres Winterdienstes verfügte. Es geht aus ihnen auch nicht hervor, dass der Sturz der Klägerin durch eine, wie sie in ihrem Rechtsmittel meint, „besondere Gefahrensituation" ausgelöst wurde, welcher die beklagte Partei etwa durch die Änderung der Dienstpläne ihrer Mitarbeiter oder durch vermehrten Personal- bzw Maschineneinsatz begegnen hätte müssen. Steht doch fest, dass die Klägerin nicht auf einer mit Neuschnee bedeckten Eisplatte, sondern auf „gepresstem, härterem Altschnee" mit Streugutresten ausgerutscht ist.

Dennoch kann noch nicht abschließend beurteilt werden, ob die beklagte Partei grobes Verschulden zu vertreten hat: Es steht zwar fest, dass der für die Betreuung des Gehweges in der Hahnenkammstraße zuständige Mitarbeiter auch am Unfallstag im Einsatz war. Dies besagt aber noch nicht, dass er an diesem Tag überhaupt an der Unfallstelle war oder ihn an einer allfälligen Verspätung kein (grobes) Verschulden traf. Es bedarf daher einer entsprechenden Ergänzung des Sachverhaltes.

Soweit sich die Klägerin in der Revision erneut auf die in § 1295 ABGB wurzelnde allgemeine Verkehrssicherungspflicht der beklagten Partei beruft, genügt der Hinweis auf die mit der Rechtsprechung (vgl 2 Ob 59/05y = ZVR 2005/112 mwN) im Einklang stehenden Ausführungen des Berufungsgerichtes (§ 510 Abs 3 ZPO).

Somit kann aber die Frage, ob die beklagte Partei die strengere Haftung nach § 93 Abs 1 StVO trifft, von entscheidender Bedeutung sein. Infolge Verkennung dieser Rechtslage durch das Berufungsgericht blieb das Berufungsverfahren mangelhaft; dies führt zur Aufhebung der Entscheidung zweiter Instanz.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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