European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0010OB00089.22B.0518.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
[1] Der Vater strebt den Entfall seiner Geldunterhaltspflicht ab 1. 4. 2019 an, weil er die Kinder seitdem im gleichen Ausmaß wie die Mutter betreue und beide Elternteile ein im Wesentlichen gleich hohes Einkommen bezögen.
[2] Das Erstgericht stellte – auf Basis einer zwischen den Eltern getroffenen (und auch umgesetzten) Kontaktrechtsregelung – fest, dass der Vater die Kinder an 152,75 Tagen im Jahr in seinem und die Mutter an 212,25 Tagen in ihrem Haushalt betreut. Daraus ergebe sich ein Betreuungsverhältnis von rund 42 % zu 58 % zugunsten der Mutter. Das „betreuungsrechtliche Unterhaltsmodell“, das zu einem Entfall des Geldunterhaltsanspruchs führen könne, sei bei einem solchem Betreuungsverhältnis nicht anzuwenden. Die überdurchschnittliche Betreuung durch den Vater rechtfertige aber eine Verminderung seiner Geldunterhaltspflicht um 15 %. Ab 1. 5. 2020 stehe dem Sohn kein Unterhaltsanspruch gegen den Vater zu, weil er seitdem zur Gänze bei ihm lebt.
[3] Das Rekursgericht bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung sowie dessen Begründung, wonach die Anwendung des „betreuungsrechtlichen Unterhaltsmodells“ (schon) am Erfordernis nahezu gleichwertiger Betreuungsleistungen der Eltern scheitere. Der vom Erstgericht vorgenommene 15 %ige Abzug von der – nach der Prozentwertmethode bemessenen – Geldunterhaltspflicht des Vaters aufgrund seiner über übliche Kontakte (von einem Tag pro Woche) hinausgehenden Betreuung der Kinder sei gerechtfertigt und bewege sich im Rahmen der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu vergleichbaren Fällen, wobei hier auch zu berücksichtigen sei, dass die Betreuung der Kinder durch den Vater keine Reduktion der „außerhalb der Betreuung liegenden“ Aufwendungen der Mutter bewirke und die Aufenthalte der Kinder bei ihm jeden zweiten Montag und Freitag am Nachmittag „durchaus großzügig“ als halber Betreuungstag angenommen worden seien. Der Revisionsrekurs sei zulässig, „um im Interesse der Rechtssicherheit eine allfällige Korrektur der Rekursentscheidung zu ermöglichen“.
Rechtliche Beurteilung
[4] Der dagegen vom Vater erhobene Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt, weil die erstinstanzlichen Feststellungen für die Bemessung der Geldunterhaltspflicht des Vaters nicht ausreichen.
[5] 1. Der Vater steht auch in dritter Instanz auf dem Standpunkt, dass seine Geldunterhaltspflicht für alle drei Kinder (ab 1. 4. 2019) aufgrund der im Wesentlichen gleichwertigen Betreuung durch beide Elternteile zur Gänze entfallen sei. Hilfsweise strebt er eine Herabsetzung ihres Geldunterhalts um mehr als die von den Vorinstanzen zuerkannten 15 % an, nämlich um 42 %.
[6] 2.1. Nach dem von der Rechtsprechung entwickelten „betreuungsrechtlichen Unterhaltsmodell“ besteht kein Geldunterhaltsanspruch des Kindes, wenn die Betreuungsleistungen der Eltern sowie ihre sonstigen Naturalleistungen annähernd gleichwertig sind und ihr maßgebliches Einkommen annähernd gleich hoch ist (vgl RIS‑Justiz RS0131785; RS0130655; RS0131331). Ob das Ausmaß der Betreuung (bei Vorliegen der weiteren genannten Voraussetzungen) einen Entfall der Geldunterhaltspflicht rechtfertigt, ist jeweils im konkreten Einzelfall zu beurteilen (vgl RS0047452 [T14, T16]). Der Oberste Gerichtshof verneinte das Vorliegen einer nahezu gleichwertigen Betreuung etwa bei einem Betreuungsverhältnis von 42 % zu 58 % (vgl 5 Ob 2/12y; 1 Ob 13/19x) oder noch geringerer Betreuungsleistungen jenes Elternteils, bei dem sich das Kind nicht hauptsächlich aufhält (vgl etwa 9 Ob 57/17y [39 %]; 5 Ob 189/18g, 3 Ob 101/19b [38 %]). Demgegenüber erachtete er eine Betreuung durch diesen Elternteil zu rund 43 % (4 Ob 16/13a; 4 Ob 45/19z) oder mehr (6 Ob 55/16f: rund 44 %) als annähernd gleichwertig.
[7] 2.2. Dass die Vorinstanzen die Betreuung der Kinder durch den Vater zu rund 42 % als (gerade noch) nicht annähernd gleichwertig ansahen, hält sich im Rahmen dieser Rechtsprechung. Die Verneinung der Anwendbarkeit des „betreuungsrechtlichen Unterhaltsmodells“ begegnet daher schon aus diesem Grund keinen Bedenken.
[8] 3.1. Teilen sich die Eltern die Betreuung in einem Ausmaß, das über den Rahmen der üblichen persönlichen Kontakte jenes Elternteils, bei dem sich das Kind nicht hauptsächlich aufhält, hinausgeht, ist nach der Rechtsprechung der zu leistende (nach der Prozentwertmethode bemessene) Geldunterhalt zu reduzieren, weil der Geldunterhaltspflichtige dann notwendigerweise über übliche Kontakte hinaus Naturalunterhalt leistet (RS0047452 [insb T6, T22]). Im Rahmen des Ermessens neigt die Rechtsprechung dazu, den Unterhaltsanspruch altersunabhängig um 10 % pro wöchentlichem Betreuungstag (vgl aber 6 Ob 55/16f: 10 bis 20 %) zu reduzieren, an dem sich das Kind über das übliche Ausmaß hinaus beim geldunterhaltspflichtigen Elternteil befindet (vgl 4 Ob 45/19z; 1 Ob 25/21i). Als üblich werden Kontakte von zwei Tagen alle zwei Wochen sowie von vier Wochen in den Ferien, also etwa 80 Tage im Jahr bzw rund eineinhalb Tage pro Woche, angesehen (vgl 5 Ob 189/18g; 1 Ob 13/19x; 1 Ob 25/21i, jeweils mwN). Da Unterhaltsentscheidungen grundsätzlich Ermessensentscheidungen sind (RS0047419 [T23]), können aber auch solche allgemeinen Prozentsätze für Abschläge wegen übermäßiger Betreuungsleistungen des geldunterhaltspflichtigen Elternteils nur eine Orientierungshilfe darstellen (vgl RS0128043; RS0047419 [insb T19, T27]).
[9] 3.2. Die Rechtsprechung zur Frage, in welcher Höhe aufgrund einer überdurchschnittlichen Betreuung des Kindes durch jenen Elternteil, bei dem es sich nicht hauptsächlich aufhält, ein Abzug von dem nach der Prozentwertmethode bemessenen Unterhalt gerechtfertigt ist, ist kasuistisch. Im Einzelfall erachtete der Oberste Gerichtshof eine Reduktion des Geldunterhalts um 20 % bei einer Betreuung der Kinder durch diesen Elternteil zu rund 43 % (vgl 7 Ob 277/03s) ebenso als angemessen, wie eine Reduktion in dieser Höhe bei einem Betreuungsausmaß von bloß (rund) 33 % (7 Ob 178/06m) oder 27 % (10 Ob 41/17b [50 Betreuungstage in einem halben Jahr]); ebenso eine Reduktion um 40 % bei einer Betreuung im Ausmaß von rund 42 % (5 Ob 2/12y), um 30 % bei einer Betreuung zu rund 34 % (8 Ob 69/15b) oder um rund 43 % bei einer Betreuung in diesem Ausmaß (3 Ob 222/02x; ablehnend jedoch 7 Ob 277/03s).
[10] 3.3. Hier steht fest, dass die Eltern die Kinder während der rund 13 Ferienwochen jeweils zu gleichen Teilen (also an 45,5 Tagen) betreuen und dass sie während der restlichen 39 Schulwochen vom Vater jeweils abwechselnd in einer Woche an 4,5 Tagen und in der anderen Woche an zwei Halbtagen, sohin von ihm im Schnitt an 2,75 Tagen pro Woche und daher an 107,25 Tagen pro Jahr betreut werden. Insgesamt ergibt sich somit eine jährliche Betreuung durch den Vater an 152,75 Tagen bzw zu rund 42 %. Soweit die Revisionsrekursgegner dieses Betreuungsausmaß in Abrede stellen, beruhen ihre Ausführungen nicht auf dem festgestellten Sachverhalt, von dem der Oberste Gerichtshof auch im Außerstreitverfahren auszugehen hat (vgl RS0099292; RS0043603 [insb T17]).
[11] 3.4. Beim – von den Vorinstanzen zugrundegelegten – rechnerischen Ansatz, pro zusätzlichem Besuchstag des Geldunterhaltspflichtigen (bei eineinhalb „unterhaltsneutralen“ Tagen pro Woche) rund 10 % der Unterhaltsleistung abzuziehen, handelt es sich um eine generalisierende Betrachtungsweise, die nach der Rechtsprechung tendenziell eher die Untergrenze darstellt und den wechselseitigen Leistungen der Eltern typischerweise dann nicht (voll) gerecht wird, wenn sich die Situation einer gemeinsamen gleichwertigen Betreuung des Kindes durch beide Eltern annähert (vgl RS0128043). Im vorliegenden Fall bewegt sich das Betreuungsverhältnis von rund 42 % zu 58 % annähernd an der Grenze zu einer solchen gleichwertigen Betreuung, sodass ein höherer als der von den Vorinstanzen vorgenommene 15 %ige Abzug von der Geldunterhaltspflicht des Vaters grundsätzlich in Betracht käme. Maßgebliches Kriterium für eine Reduktion der Geldunterhaltspflicht aufgrund einer überdurchschnittlichen Betreuung durch jenen Elternteil, in dessen Haushalt das Kind nicht überwiegend betreut wird, ist aber auch in diesem Fall, inwieweit dadurch im Haushalt des anderen (hauptsächlich betreuenden) Elternteils eine Ersparnis eintritt (vgl RS0047452 [T1, T9]; RS0128043 [T9]; 4 Ob 45/19z). Für die Beurteilung, ob der von den Vorinstanzen vorgenommene Prozentabzug angemessen ist, muss also beurteilt werden, inwieweit die Mutter durch die Betreuung der Kinder durch den Vater konkret finanziell entlastet wurde. Obwohl sie in erster Instanz eine nennenswerte Entlastung bestritt und behauptete, sämtliche laufenden Aufwendungen für die Kinder allein zu tragen, traf das Erstgericht dazu keine Feststellungen. Eine Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen ist daher unumgänglich.
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