European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00006.20K.0416.000
Spruch:
Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
Der 1980 geborene Kläger hat keinen Lehrberuf erlernt und war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag als Hilfsarbeiter auf Baustellen beschäftigt. Der Kläger ist trotz seiner Leidenszustände noch in der Lage, im Rahmen einer Vollbeschäftigung unter Einhaltung der üblichen Arbeitspausen maximal leichte körperliche Arbeiten mit durchschnittlichem psychischen und geistigen Anforderungsprofil unter höchstens zweidrittelzeitig besonderem Zeitdruck auszuüben. Praktisch sind Arbeiten ausschließlich im Sitzen möglich, jedoch mit der Möglichkeit zu häufigen Haltungswechseln. Mit dem im Einzelnen vom Erstgericht festgestellten Leistungskalkül sind dem Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch Tätigkeiten als Mitarbeiter in der Telefonzentrale mit Telefondiensttätigkeiten möglich, die in ausreichender Anzahl am österreichischen Arbeitsmarkt vorkommen (jedenfalls mehr als 100 Arbeitsplätze).
Tätigkeiten im Gehen und Stehen können nur für wenige Schritte verrichtet werden und nur so weit, als dies mit einer Unterarmstützkrücke links möglich ist. Dem Kläger sind „maximal gelegentlich“ Hebe‑ und Trageleistungen bis höchstens 3 kg zumutbar und nur so weit wie es unter dem Einsatz einer Unterarmstützkrücke links möglich ist.
Der Kläger kann in einem Stück maximal 150 m Fußweg mit einer Gehgeschwindigkeit von jeweils 2,5 km/h mit anschließender Sitzpause zurücklegen. Nach einer solchen Sitzpause von 2–3 Minuten sind weitere 150 m vorstellbar. Insgesamt sollte der Kläger 500 m mit Unterstützung einer Unterarmstützkrücke links inklusive der Sitzpausen bei deutlich reduziertem Gehtempo gerade noch in den geforderten 20 Minuten schaffen können. Der Kläger ist aufgrund der hochgradigen Bewegungseinschränkung des rechten Kniegelenks nicht in der Lage, in Straßenbahnen, ausgenommen Niederflurstraßenbahnen, einzusteigen.
Mit Bescheid vom 28. 11. 2018 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 24. 8. 2018 auf Zuerkennung einer Invaliditätspension ab. Da auch keine vorübergehende Invalidität vorliege, bestehe kein Anspruch auf berufliche oder medizinische Maßnahmen der Rehabilitation und auch kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung.
Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Zuerkennung einer Invaliditätspension ab 1. 9. 2018. Hilfsweise begehrt er die Feststellung, dass vorübergehende Invalidität im Ausmaß von zumindest sechs Monaten vorliege und Anspruch auf allfällige Rehabilitationsmaßnahmen sowie Anspruch auf Rehabilitationsgeld und Umschulungsgeld bestehe.
Die Beklagte wandte dagegen ein, dass beim Kläger weder Invalidität noch vorübergehende Invalidität vorliege.
Das Erstgericht sprach dem Kläger mit Grundurteil gemäß § 89 Abs 2 ASGG eine Invaliditätspension ab dem 1. 9. 2018 zu und trug der Beklagten eine vorläufige Zahlung von monatlich 700 EUR auf. Der Kläger sei zwar trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen noch in der Lage, die festgestellten Verweisungstätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt zu verrichten. Er sei aber infolge seiner Gehbehinderung vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Sitzpausen, die alle 150 m eingehalten werden müssten, seien dem Kläger nicht zumutbar. Die Mitnahme von Rollatoren (mit Sitzgelegenheit) oder „Fischerstühlen“ sei nicht „praktikabel“.
Das von der Beklagten angerufene Berufungsgericht änderte das Urteil des Erstgerichts dahin ab, dass es das Klagebegehren sowie das Eventualbegehren abwies. Der Kläger habe die Möglichkeit, Niederflurstraßenbahnen und damit auch die U‑Bahn zu benützen, sodass er im großstädtischen Bereich eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen erreichen könne. Er sei in der Lage, die Wegstrecke von 500 m in dem von der Rechtsprechung geforderten Zeitraum von rund 20 Minuten zu bewältigen. Die für den Kläger notwendigen drei Sitzpausen seien zumutbar. Im großstädtischen Bereich fänden sich ausreichend Sitzmöglichkeiten. Bei sehr ungünstiger Gestaltung des Arbeitswegs komme auch die Mitnahme eines leichten Aluminiumklapphockers in Frage. Die Revision sei mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung nicht zulässig.
Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er die Stattgebung der Klage anstrebt; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt teilte mit, keine Revisionsbeantwortung zu erstatten.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.
Der Kläger macht in der Revision zusammengefasst geltend, dass er vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen sei, weil er einen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht in zumutbarer Weise erreichen könne.
1.1 Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ist nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs unabhängig davon, ob der körperliche und geistige Zustand des Versicherten noch den mit der Berufstätigkeit selbst verbundenen Anforderungen entspricht, auch dann eingetreten, wenn der Versicherte nicht mehr im Stande ist, in zumutbarer Weise einen Arbeitsplatz zu erreichen. Bei Beurteilung der Frage, ob der Versicherte in zumutbarer Weise in der Lage ist, einen Arbeitsplatz zu erreichen, kommt es grundsätzlich nicht auf die Verhältnisse am Wohnort des Versicherten, sondern auf die Verhältnisse am allgemeinen Arbeitsmarkt an, weil es sich (auch) beim Wohnsitz um einen für die Beurteilung der Minderung der Arbeitsfähigkeit unbeachtlichen persönlichen Umstand handelt, der mit dem Gesundheitszustand des Versicherten nicht in Zusammenhang steht (RS0084871 [T2]; RS0085017).
Ob der Versicherte nicht mehr imstande ist, in zumutbarer Weise einen Arbeitsplatz zu erreichen, ist eine Rechtsfrage, die ausgehend von den Tatsachenfeststellungen über die körperlichen und geistigen Einschränkungen des Versicherten zu klären ist (RS0085049 [T15]). Es sind Feststellungen erforderlich, welche Strecke der Versicherte zu Fuß bewältigen kann, ob er in der Lage ist, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen und welche Behinderungen dabei allenfalls bestehen (10 ObS 362/99d SSV‑NF 14/7).
1.2 Nach der Rechtsprechung ist ein Versicherter so lange nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, als er ohne wesentliche Einschränkungen ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und vorher sowie nachher ohne unzumutbare Pausen und mit angemessener Geschwindigkeit eine Wegstrecke von jeweils 500 m zu Fuß zurücklegen kann (10 ObS 182/88 SSV‑NF 2/105; RS0085049; RS0085001 [T3]). Ein Zeitaufwand von 20–25 Minuten für das Zurücklegen von 500 m schließt nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt aus (10 ObS 47/08x SSV‑NF 22/33; RS0085099 [T2]). Dass der Versicherte während einer Gehstrecke von 500 m insgesamt 10 Minuten (10 ObS 236/92 SSV‑NF 6/109) oder 12–16 Minuten (10 ObS 310/98f SSV‑NF 12/133; vgl auch 10 ObS 102/00y; 10 ObS 107/91 SSV‑NF 5/39) rasten muss, ist noch nicht unzumutbar, weil Pausen in dieser Dauer die Wartezeiten nicht überschreiten, die öffentliche Verkehrsmittel benützende Arbeitnehmer mitunter auf der Fahrt zur Arbeitsstätte mehrmals auf sich nehmen müssen.
2. In allen diesen Fällen wurde die Einhaltung der (medizinisch) erforderlichen Pausen deshalb als nicht unzumutbar angesehen, weil sie die Gesamtzeit für das Zurücklegen der Strecke von 500 m nicht in übermäßiger Weise verlängerten. Aus den Feststellungen ergibt sich in keinem dieser Fälle, dass das Niedersetzen während einer Pause auf dem Gehweg erforderlich war. Im vorliegenden Fall kann der Kläger die Wegstrecke von 500 m zwar „gerade noch“ in 20 Minuten zurücklegen, um die Haltestelle für ein öffentliches Verkehrsmittel zu erreichen. Dies setzt jedoch voraus, dass er die geforderten Pausen im Sitzen auf dem Weg dorthin nach einer Wegstrecke von jeweils 150 m einhalten kann. Ob die Einhaltung dieser Pausen dem Kläger jedoch medizinisch zumutbar ist, kann im vorliegenden Fall nach den bisher getroffenen Feststellungen noch nicht beurteilt werden:
3.1 Das Erstgericht ist in seiner rechtlichen Beurteilung implizit davon ausgegangen, dass es auf einem Weg von oder zu einer Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels – offenkundig – nicht ausreichend Sitzgelegenheiten im öffentlichen Raum gebe, weil es ausführte, dass es für den Kläger nicht praktikabel sei, einen Rollator mit Sitzgelegenheit oder einen leichten Stuhl auf den Arbeitsweg mitzunehmen, um die erforderlichen Pausen einhalten zu können. Das Berufungsgericht ist hingegen vom – offenkundigen – Vorhandensein ausreichender Sitzgelegenheiten auf einer Wegstrecke im öffentlichen Raum ausgegangen.
3.2 Offenkundige Tatsachen hat das Gericht seiner Entscheidung auch dann von Amts wegen zugrundezulegen, wenn sie nicht vorgebracht wurden (RS0037536; RS0040240 [T3]). Das Berufungsgericht kann offenkundige Tatsachen auch ohne Beweisaufnahme ergänzend seiner Entscheidung zugrundelegen (RS0040219).
3.3 Bei Gericht offenkundig sind nur solche Tatsachen, die allen auf die Verhältnisse ihrer Umgebung aufmerksamen Personen bekannt sind oder die aus der täglichen Erfahrung abgeleitet werden können, also Naturereignisse, historische Begebenheiten und dergleichen, hingegen nicht Tatsachen, die nur zufällig einem einzelnen Richter, wenn auch anlässlich einer Amtshandlung, zur Kenntnis gekommen sind (RS0040230, RS0110714, RS0040244). Allgemeinkundigkeit einer Tatsache setzt voraus, dass sie ohne besondere Fachkenntnisse einer beliebig großen Anzahl von Menschen bekannt oder doch ohne Schwierigkeiten jederzeit zuverlässig wahrnehmbar ist (RS0110714 [T13]; RS0040237 [T2]).
3.4 Bei zweifelhafter Offenkundigkeit muss den Parteien Gelegenheit geboten werden, den Beweis der Unrichtigkeit einer vom Gericht als offenkundig beurteilten Tatsache anzutreten (RIS-Justiz RS0040230 [T4]).
3.5 Schon aus dem Umstand, dass die Vorinstanzen in unterschiedlicher Weise das (Nicht‑)Vorhandensein von ausreichend Sitzgelegenheiten auf einem 500 m langen Gehweg im öffentlichen Raum auf dem Weg zu einer Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels als „offenkundige“ Tatsache behandelten, ergeben sich Zweifel an der Offenkundigkeit, sodass den Parteien im fortzusetzenden Verfahren Gelegenheit geboten werden muss, dazu Stellung zu nehmen. Sollte das Erstgericht auch im fortzusetzenden Verfahren davon ausgehen, dass es an ausreichenden Sitzgelegenheiten im dargestellten Sinn für den Kläger offenkundig fehle, wird der beklagten Pensionsversicherungsanstalt Gelegenheit zu geben sein, den Beweis der Unrichtigkeit dieser Tatsache anzutreten.
4.1 Das Erstgericht hat wie ausgeführt im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung die Mitnahme eines Rollators oder einer vergleichbaren Sitzgelegenheit für den Kläger als „nicht praktikabel“ (gemeint offenbar: nicht zumutbar) bezeichnet. Feststellungen dazu fehlen. Das Berufungsgericht ist dessen ungeachtet davon ausgegangen, dass die Mitnahme eines „leichten Aluminiumhockers“ für den Kläger bei „ungünstiger Gestaltung“ des Arbeitswegs „letztlich in Frage komme“.
4.2 Sollte sich im fortzusetzenden Verfahren herausstellen, dass nicht davon auszugehen ist, dass ausreichend öffentliche Sitzgelegenheiten auf einem durchschnittlichen 500 m langen Weg vor oder nach Verwendung eines öffentlichen Verkehrsmittels zum Erreichen des Arbeitsplatzes vorhanden sind, werden Feststellungen zu treffen sein, ob dem Kläger die Verwendung eines Rollators mit Sitzgelegenheit oder einer vergleichbaren Sitzgelegenheit medizinisch möglich ist, um Schlüsse auf die Zumutbarkeit ziehen zu können. Dabei wird zu beachten sein, dass das Erstgericht festgestellt hat, dass dem Kläger Hebe-und Trageleistungen bis höchstens 3 kg, und das nur „maximal gelegentlich“ und nur unter Einsatz einer Unterarmstützkrücke möglich sind. Unklar bleibt daher etwa, ob der Kläger einen Rollator mit Sitzgelegenheit (mit oder ohne Unterarmstützkrücke links) überhaupt verwenden kann.
Das Verfahren erweist sich aus diesen Gründen als ergänzungsbedürftig.
5. Das Berufungsgericht hat das Eventualbegehren auch im Umfang der Geltendmachung des Anspruchs auf Umschulungsgeld abgewiesen. Für dieses Begehren fehlt es jedoch an der Prozessvoraussetzung der Rechtswegzulässigkeit. Über Anträge auf Umschulungsgeld gemäß § 39b AlVG entscheidet gemäß § 56 Abs 1 AlVG die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice mit Bescheid. Gegen deren Bescheid steht gemäß § 56 Abs 2 AlVG die Möglichkeit einer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht offen. Es liegt daher in diesem Umfang weder gemäß § 65 ASGG noch im Weg der Verweisung gemäß § 100 ASGG eine Sozialrechtssache vor. Dies wird im fortzusetzenden Verfahren für den Fall, dass bei Abweisung des Hauptbegehrens eine Entscheidung über das Eventualbegehren auf Umschulungsgeld erforderlich sein sollte, zu beachten sein.
6. Der Revision ist daher Folge zu geben und die Rechtssache zur ergänzenden Erörterung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 2 ASGG, § 52 ZPO.
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