OGH 10ObS57/24s

OGH10ObS57/24s13.8.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Schober und Dr. Vollmaier sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und FI Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei *, vertreten durch DDr. Heinz‑Dietmar Schimanko, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. April 2024, GZ 7 Rs 31/24 s‑33, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00057.24S.0813.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Berufsunfähigkeitspension nach § 273 Abs 1 ASVG.

[2] In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag 1. 2. 2023 war der Kläger 159 Monate als Behindertenbetreuer in einem Wohnheim für Personen mit geistiger Behinderung, Mehrfachbehinderung, Autismus sowie für Personen mit psychischen Erkrankungen tätig. Hauptaufgabe waren pädagogische Inhalte. Der Kläger betreute die Heimbewohner sozialpädagogisch und unterstützte sie bei der Alltags‑ und Freizeitgestaltung. Er führte Kriseninterventionen und beratende Tätigkeiten durch und unterstützte die Betroffenen bei Ämtern und Behörden. Auch das Vorbereiten und die Ausgabe der Medikamente sowie die Dokumentation des Gesundheitszustands der Betroffenen gehörte zu seinen Aufgaben.

[3] Der Kläger ist nicht mehr in der Lage, als Behindertenbetreuer tätig zu sein. Unter Nutzung seiner beruflichen Kenntnisse aus seinem Pädagogik‑Teilstudium und den Beratungen wäre er jedoch in der Lage, im „Back‑Office“ in der Personalentwicklung eines Unternehmens zu arbeiten, wobei er hauptsächlich mit der Erstellung und Umsetzung von Schulungskonzepten und Ausbildungsmodellen einschließlich technisch‑organisatorischer Vorbereitungen, der Auswahl und Organisation von Trainern, der Evaluierung von Fortbildungsveranstaltungen sowie der Verwaltung des Trainingsbudgets und gegebenenfalls Einzelcoachings betraut wäre.

[4] Mit Bescheid vom 27. 4. 2023 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension mangels Berufsunfähigkeit ab.

[5] Das Erstgericht wies das Begehren des Klägers, auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ab 1. 2. 2023 ab und stellte fest, dass auch keine vorübergehende Berufsunfähigkeit im Ausmaß von mindestens sechs Monaten vorliege und kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld sowie auf medizinische oder berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe. Die mit dem medizinischen Leistungskalkül des Klägers vereinbare Tätigkeit als Angestellter im „Back‑Office“ unter Nutzung seiner einschlägigen Kenntnisse aus dem Pädagogik‑Studium und aus den Beratungen sei diesem möglich und zumutbar. Die Tätigkeit sei auch gleichwertig zu der zuletzt nicht bloß vorübergehend ausgeübten Tätigkeit eines Behindertenbetreuers und zudem mit keinem unzumutbaren sozialen Abstieg verbunden.

[6] Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil.

Rechtliche Beurteilung

[7] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision des Klägers ist mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[8] 1. Der sinngemäße Hinweis des Klägers darauf, dass zum Verweisungsfeld für den – weit verbreiteten – Beruf des Behindertenbetreuers noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorhanden sei, vermag eine Rechtsfrage von der geforderten Qualität nicht zu begründen. Der alleinige Umstand, dass die konkret zu lösenden Fragen in einer Vielzahl von Fällen auftreten, ist für sich genommen nicht entscheidend (vgl RS0042816).

[9] Die im vorliegenden Fall relevierten Rechtsfragen lassen sich vielmehr unter Rückgriff auf die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit bei Angestellten (Berufsunfähigkeit nach § 273 ASVG) lösen:

[10] Danach liegt Berufsunfähigkeit nur dann vor, wenn der Versicherte weder die zuletzt (nicht nur vorübergehend) ausgeübte Angestelltentätigkeit noch dieser Tätigkeit gleichwertige Tätigkeiten im Rahmen seiner Berufsgruppe zu verrichten im Stande ist (10 ObS 112/13p; 10 ObS 1/19y; RS0084954 [T8]). Dieser zuletzt ausgeübte Beruf bestimmt das Verweisungsfeld, das heißt die Summe aller Berufe, die derselben Berufsgruppe zuzurechnen sind, weil sie eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige (nicht gleiche oder gleichartige) Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen (RS0084867 [T7]; RS0084954 [T6]). Maßgeblich dafür ist, inwieweit ein Versicherter in einem möglichen Verweisungsberuf das erworbene qualifizierte berufliche Wissen verwerten kann. Entscheidend ist, ob ein Kernbereich der erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten bei Ausübung der (berufsschutzerhaltenden) Teiltätigkeiten im Rahmen der infrage kommenden Verweisungsberufe verwertet wird (10 ObS 56/05s; 10 ObS 32/11w ua), weshalb eine Verweisung auf eine Berufssparte mit völlig anders gearteten Anforderungen ausgeschlossen ist (10 ObS 2/10g; RS0108694 [T4]). Die Frage, auf welche Tätigkeiten ein Versicherter verwiesen werden darf, ist eine – anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu beurteilende (RS0084541 [T7, T39]; RS0084497 [T20, T26, T28]) – Rechtsfrage (RS0043194 [T1]).

[11] 2. Die Vorinstanzen sind, entgegen den Behauptungen des Klägers, von diesen Rechtsprechungsgrundsätzen nicht abgewichen. Eine im Einzelfall im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung liegt nicht vor:

[12] 2.1. Der Kläger weist zwar im Ausgangspunkt zu Recht darauf hin, dass die Frage der Gleichwertigkeit der im Rahmen des Verweisungsberufs vorzunehmenden Tätigkeiten, wie soeben dargelegt, Teil der rechtlichen Beurteilung und damit – was von den Vorinstanzen zu wenig beachtet wurde – keiner Tatsachenfeststellung zugänglich ist. Wenn diese aber auf Basis der konkreten Urteilsfeststellungen zur zuletzt vom Kläger (nicht nur vorübergehend) ausgeübten Tätigkeit sowie zu den speziellen Tätigkeitsanforderungen an den in Rede stehenden Verweisungsberuf zur Einschätzung gelangten, dass der Kläger auf eine Tätigkeit im „Back‑Office“ in der Personalentwicklung verwiesen werden darf und diese Tätigkeit damit im Ergebnis als gleichwertig zur bisher ausgeübten Tätigkeit als Behindertenbetreuer qualifizierten, so steht diese Beurteilung im Einklang mit den zuvor angeführten Leitlinien.

[13] Nach den vom Berufungsgericht übernommenen Sachverhaltsannahmen des Erstgerichts ist der Kläger nämlich „unter Nutzung“ seiner Kenntnisse aus dem Pädagogik‑Studium und aus der Beratungstätigkeit als Behindertenbetreuer in der Lage, die näher beschriebene Tätigkeit im Bereich der Personalentwicklung auszuüben. Die (implizite) Annahme, wonach der Kläger namentlich bei der Erstellung von Schulungskonzepten und Ausbildungsmodulen sowie bei der Auswahl von Trainern, aber auch bei Evaluierung von Fortbildungsveranstaltungen sein qualifiziertes pädagogisches Vorwissen sowie im Rahmen gegebenenfalls durchzuführender Einzelcoachings seine beruflichen Beratungskenntnisse verwerten kann, bedarf keiner Korrektur.

[14] 2.2. Der Kläger argumentiert darüber hinaus, wie schon in seiner Berufung, seine Tätigkeit als Behindertenbetreuer sei mit der eines Krankenpflegers vergleichbar, weshalb er – mit Blick auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum Verweisungsfeld von diplomierten Krankenpflegern (10 ObS 225/89; 10 ObS 223/92) – mangels Gleichwertigkeit der Tätigkeit nicht auf bloße Hilfsdienste oder administrative Aufgaben verwiesen werden dürfe.

[15] Dieser Erwägung ist bereits das Berufungsgericht unter zutreffendem Hinweis darauf entgegengetreten, dass schon die Prämisse, der Kläger habe als Behindertenbetreuer mit dem (höheren) Pflegedienst vergleichbare Tätigkeiten ausgeübt, keine Grundlage im festgestellten Sachverhalt hat. Die vom Kläger durchgeführten pflegerischen Tätigkeiten erschöpften sich nämlich in der Dokumentation des Gesundheitszustands der Heimbewohner sowie in der Vorbereitung und Ausgabe von Medikamenten. Schon aus diesem Grund vermag der Kläger aus den von ihm angeführten Entscheidungen zu diplomiertem Krankenpflegepersonal keine für seinen Rechtsstandpunkt günstigen Ableitungen zu treffen.

[16] 2.3. Im selben Zusammenhang unterstreicht der Kläger schließlich auch die (sozial‑)pädagogische Komponente seiner bisherigen Tätigkeit als Behindertenbetreuer und verweist auf die Entscheidung 10 ObS 139/88. Daraus gehe hervor, dass Pädagogen, die bisher mit der unmittelbaren pädagogischen Betreuung von Personen betraut gewesen seien, auf keine andere als diese pädagogische Tätigkeit verwiesen werden dürften. Diese Wertung treffe auch auf den Kläger zu, weshalb eine administrative Tätigkeit ohne Kundenkontakt nicht als gleichwertig zu qualifizieren sei.

[17] Aus der angeführten Entscheidung ergibt sich indes nur, dass ein Lehrer, der eines seiner beiden Unterrichtsfächer (Sport) nicht mehr unterrichten kann, auf die schon bisher ausgeübte (Teil‑)Tätigkeit in Bezug auf sein zweites Unterrichtsfach verwiesen werden darf.

[18] Demgegenüber wird in der Entscheidung 10 ObS 32/11w klargestellt, dass die Verweisung einer bisher nicht mit administrativen Aufgaben befassten Kindergartenpädagogin auf die (administrative) Tätigkeit der Leiterin eines Kindergartens oder Kinderheims zulässig ist, zumal sie dabei einen Kernbereich ihrer Ausbildung und bisherigen Tätigkeit verwerten kann. Auch vor diesem Hintergrund vermögen die Revisionsausführungen des Klägers keine aufzugreifenden Bedenken an der Entscheidung des Berufungsgerichts hervorzurufen.

[19] Im Übrigen geht der Kläger mit seinem Verweis auf einen gänzlich fehlenden Kundenkontakt im Rahmen der Tätigkeit im „Back‑Office“ nicht vom festgestellten Sachverhalt aus, lässt er damit doch die nach dem Urteilssachverhalt gegebenenfalls durchzuführenden Einzelcoachings außer Betracht. Seine Rechtsrüge ist folglich insoweit nicht gesetzmäßig ausgeführt (RS0043603).

[20] 2.4. Schließlich liegen auch die in der Revision gerügten rechtlichen Feststellungsmängel nicht vor:

[21] Der Kläger vermisst zunächst Feststellungen dazu, dass die in Frage stehende Verweisungstätigkeit keine besondere Ausbildung oder Berufserfahrung erfordere, weshalb diese etwa auch von früheren Sportlern (etwa Fußballern) ausgeübt werden könne. Wenn der Kläger aus dieser Feststellung jedoch ableiten möchte, dass die Ausübung des Verweisungsberufs zu einem unzumutbaren sozialen Abstieg führen würde, so ist ihm zu erwidern, dass er in erster Instanz nicht einmal andeutungsweise vorgebracht hat, die Tätigkeit im „Back‑Office“ würde ins Gewicht fallende Einbußen an sozialem Prestige (oder an Entlohnung) mit sich bringen. Die Vorinstanzen waren vor diesem Hintergrund nicht gehalten, zu diesem Themenkreis Feststellungen zu treffen (RS0053317).

[22] Zu der für die Beurteilung der Gleichwertigkeit des Verweisungsberufs zu der ausgeübten Tätigkeit maßgeblichen Frage der Verwertbarkeit der Ausbildung und der erworbenen Kenntnisse des Klägers wurden demgegenüber, wie bereits ausgeführt, ohnedies Feststellungen getroffen, mögen diese auch von den Vorstellungen des Rechtsmittelwerbers abweichen. Auch insoweit geht somit der Vorwurf eines rechtlichen Feststellungsmangels fehl (RS0053317 [T1]).

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