European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00055.23W.0622.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 502,70 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin enthalten 83,78 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob die in den Niederlanden vorgesehene Leistung „Kinderopvangtoeslag“ eine iSd § 6 Abs 3 KBGG idF vor dem Bundesgesetz BGBl I 2016/53 dem pauschalen Kinderbetreuungsgeld (in der Variante des § 5a KBGG idF vor dem Bundesgesetz BGBl I 2016/53) vergleichbare ausländische Familienleistung darstellt.
[2] Die Klägerin ist die Mutter der * 2015 geborenen L*. Vom Zeitpunkt der Geburt an hatten Mutter und Kind ihren gemeinsamen Wohnsitz und Lebensmittelpunkt in Österreich.
[3] Von 8. Jänner 2015 bis 29. Februar 2016 ging die Klägerin keiner Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit im In- oder Ausland nach. Von 1. März 2016 bis 28. Februar 2017 befand sie sich als Angestellte in einem Dienstverhältnis und übte dabei aufgrund geringfügiger Beschäftigung iSd § 5 Abs 2 ASVG eine in Österreich sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit aus.
[4] Der Vater übte im Zeitraum von 8. Jänner 2015 bis 7. September 2016 eine unselbständige Berufstätigkeit in den Niederlanden aus. Weder er noch die Klägerin erhielten die in den Niederlanden nach den dortigen Rechtsvorschriften vorgesehene Leistung „Kinderopvangtoeslag“ von den dortigen Behörden tatsächlich zuerkannt oder bezogen diese Leistung.
[5] Mit Bescheid vom 21. April 2021wies die beklagte Österreichische Gesundheitskasse den Antrag der Klägerin vom 12. März 2015auf Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes in der „Pauschalvariante 20+4“ für den Zeitraum von 8. Jänner 2015 bis 7. September 2016 ab.
[6] Das Erstgericht gab dem auf Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld in der Leistungsart nach § 5a KBGG idF vor dem Bundesgesetz BGBl I 2016/53 für den Zeitraum von 8. Jänner 2015 bis 7. September 2016 in Höhe von 20,80 EUR pro Tag gerichteten Klagebegehren statt. Es ging vom eingangs wiedergegebenen Sachverhalt und davon aus, dass das niederländische „Kinderopvangtoeslag“ nicht mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld in der begehrten Variante vergleichbar sei. Außerdem verneinte es die von der Beklagten behauptete Verletzung einer Mitwirkungspflicht, weil eine Antragstellung in den Niederlanden durch die Klägerin nicht erforderlich sei, um eine Pflicht zur Entscheidung über allfällige Leistungsansprüche nach den niederländischen Rechtsvorschriften auszulösen.
[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Es verneinte eine Vergleichbarkeit der niederländischen Leistung „Kinderopvangtoeslag“ mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld. Anspruch auf diese Leistung bestehe im Unterschied zum österreichischen Kinderbetreuungsgeld nur dann, wenn das Kind in einer registrierten Kindertagesstätte oder durch eine registrierte Einrichtung zur Tagesmutter-Betreuung betreut werde, die Höhe sei abhängig von der (finanziellen) Tragkraft sowie den für die Kinderbetreuung tatsächlich aufgewendeten Kosten und die Leistung werde unabhängig von der Höhe des Einkommens des Elternteils gewährt. Da eine Anrechnung nicht in Frage komme, sei auf die behauptete Verletzung der Mitwirkungspflicht nicht weiter einzugehen.
[8] Das Berufungsgericht ließ die Revision mangels Vorliegens höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Vergleichbarkeit der niederländischen Familienleistung „Kinderopvangtoeslag“ mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld zu.
[9] Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten, in der sie die Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinn einer Abweisung des Klagebegehrens beantragt.
[10] In der Revisionsbeantwortung beantragt die Klägerin, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[11] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.
[12] 1. Klarzustellen ist, dass sich Fragen der (vorrangigen oder nachrangigen) Zuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 im vorliegenden Fall nicht stellen:
[13] Der Anspruch auf das von der Klägerin begehrte pauschale Kinderbetreuungsgeld in der Variante nach § 5a KBGG idF vor dem Bundesgesetz BGBl I 2016/53 (= BGBl I 2009/116) ist lediglich von der Erfüllung der in § 2 Abs 1 KBGG (idF BGBl I 2014/35) normierten Anspruchsvoraussetzungen abhängig, die hier unstrittig erfüllt sind. Insbesondere die Ausübung einer Erwerbstätigkeit durch die Klägerin berührt das Vorliegen dieser Anspruchsvoraussetzungen nicht (vgl 10 ObS 203/21g). Selbst wenn Österreich nach der VO (EG) 883/2004 nicht zur Leistungsgewährung (vor- oder nachrangig) zuständig wäre, wäre der Anspruch vielmehr schon nach nationalem Recht zu bejahen.
[14] 2. Darauf aufbauend stellt sich hier (nur) die Frage, ob (und bejahendenfalls inwieweit) dieser Anspruch iSd § 6 Abs 3 KBGG (in der hier anzuwendenden Fassung laut Bundesgesetz BGBl I 2009/116) ruht, weil Anspruch auf eine vergleichbare ausländische Familienleistung besteht.
[15] 2.1. Die Ruhensbestimmung des § 6 Abs 3 KBGG ist eine international umfassend ausgestaltete Antikumulierungsregel (RIS‑Justiz RS0125752) und erfasst „vergleichbare“ ausländische Familienleistungen.
[16] 2.2. Die Bestimmung des § 6 Abs 3 KBGG idF des Bundesgesetzes BGBl I 2016/53, die nach ihrem Wortlaut nicht mehr auf die Gleichartigkeit ausländischer Familienleistungen abstellt, trat erst am 1. März 2017 in Kraft (§ 50 Abs 15 KBGG) und ist auf den hier zu beurteilenden, vor diesem Zeitpunkt verwirklichten Sachverhalt nicht anzuwenden (zur Unionsrechtswidrigkeit der Anrechenbarkeit sämtlicher Familienleistungen im Fall der nachrangigen Zuständigkeit Österreichs nach der VO [EG] 883/2004 siehe 10 ObS 110/19b SSV‑NF 33/55).
[17] 2.3. Eine Vergleichbarkeit iSd § 6 Abs 3 KBGG wird vom Obersten Gerichtshof – entsprechend der Auslegung der unionsrechtlichen Antikumulierungsvorschriften durch den EuGH – angenommen, wenn die Leistungen einander in Funktion und Struktur im Wesentlichen entsprechen (RS0122907). Es wird keine völlige Gleichartigkeit gefordert, sondern es genügt, wenn die Leistungen unabhängig von den besonderen Eigenheiten der Rechtsvorschriften der verschiedenen Mitgliedstaaten in wesentlichen Merkmalen (Sinn und Zweck, Berechnungsgrundlage und Voraussetzung für die Gewährung sowie die Leistungsberechtigten) übereinstimmen (10 ObS 149/17k SSV‑NF 32/11; 10 ObS 146/16t SSV‑NF 31/2; EuGH C‑347/12 , Wiering, ECLI:EU:C:2014:300, Rz 54, 61).
[18] 2.3.1. Die Beklagte zieht auch in der Revision nicht in Zweifel, dass ein Anspruch auf die niederländische Leistung „Kinderopvangtoeslag“ nur dann besteht, wenn das Kind in einer registrierten Kindertagesstätte oder durch eine registrierte Einrichtung zur Tagesmutter-Betreuung betreut wird und die Höhe dieser Leistung – unabhängig vom Erwerbseinkommen des antragstellenden Elternteils – von der finanziellen Tragkraft und den tatsächlich entstandenen Kosten der Fremdbetreuung abhängig ist.
[19] 2.3.2. Das österreichische pauschale Kinderbetreuungsgeld in der Variante des § 5a KBGG (idF BGBl I 2009/116) ist demgegenüber eine Leistung für Elternteile, die sich gezielt der Kindererziehung in den ersten 20, höchstens 24 Lebensmonaten des Kindes widmen und die dazu dient, die Erziehung des Kindes zu vergüten, die anderen Betreuungs- und Erziehungskosten auszugleichen und gegebenenfalls die finanziellen Nachteile, die der Verzicht auf ein (Voll‑)Erwerbseinkommen bedeutet, abzumildern (vgl 10 ObS 147/21x SSV‑NF 35/73; 10 ObS 149/17k SSV‑NF 32/11; 10 ObS 146/16t SSV‑NF 31/2; 10 ObS 109/07p SSV‑NF 21/78).
[20] 2.3.3. Diese Unterschiede in Funktion und Struktur der beiden Leistungen lassen eine Vergleichbarkeit nicht annehmen. Entgegen der in der Revision vertretenen Rechtsansicht der Beklagten kommt es bei dieser Beurteilung nicht darauf an, dass beide Leistungen grundsätzlich eine Vereinbarung von Familie und Beruf und eine Unterstützung der Jungfamilie bezwecken. Ebensowenig ist entscheidend, in welchen Fällen ausländische Behörden von einer Vergleichbarkeit von Leistungen ausgehen. Dem Hinweis der Beklagten auf einen Änderungsentwurf der Kommission zur Abänderung der VO (EG) 883/2004 , mit dem eine Neuordnung der Familienleistungen geplant wird, die im Fall ihres Inkrafttretens – wie die Beklagte vorbringt – in Hinkunft ihrem Rechtsstandpunkt Rechnung tragen werde, dass (lediglich) Kinderbetreuungsleistungen und Familienbeihilfeleistungen nicht gleichartig seien (Zwei-Körbe-Lösung), hat der Oberste Gerichtshof bereits entgegnet, dass damit derzeit keine andere Beurteilung verbunden ist (10 ObS 110/19b SSV‑NF 33/55).
[21] Der Beklagten ist lediglich darin zuzustimmen, dass das österreichische Kinderbetreuungsgeld – unter anderem (!) – auch dazu dient, Betreuungs- und Erziehungskosten auszugleichen, wozu auch Kosten einer Fremdbetreuung (wie sie vom niederländischen „Kinderopvangtoeslag“ abgedeckt werden sollen) fallen können. Damit wird aber die primäre Funktion des Kinderbetreuungsgeldes, die Kindererziehung zu vergüten und die finanziellen Nachteile abzumildern, die durch den Verzicht auf eine (Voll‑)Erwerbstätigkeit entstehen, außer Acht gelassen, wodurch es sich vom niederländischen „Kinderopvangtoeslag“ deutlich unterscheidet. Dieses Ergebnis wird auch dadurch bestärkt, dass die Kosten einer Fremdbetreuung in Österreich durch die Bundesländer (teilweise auch für unter Dreijährige) gefördert werden (bzw auch im hier gegenständlichen Zeitraum wurden), ohne dass eine Anrechnung solcher (inländischen) Leistungen vorgesehen wäre.
[22] 3. Da die niederländische Leistung „Kinderopvangtoeslag“ somit keine dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare ausländische Familienleistung ist und ein Anspruch darauf folglich nicht zu einem Ruhen des Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld nach § 6 Abs 3 KBGG führen könnte, kommt es auch nicht darauf an, ob die vorrangige Zuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 (infolge der festgestellten Ausübung einer Erwerbstätigkeit in Österreich ab 1. März 2016) einer Anwendung des § 6 Abs 3 KBGG entgegen stünde (vgl dazu RS0125752). Auf das diesbezügliche Revisionsvorbringen ist somit nicht einzugehen.
[23] 4. Soweit die Beklagte der Klägerin weiterhin eine Verletzung der Mitwirkungspflicht vertritt, weil sie in den Niederlanden keinen Antrag auf die Leistung „Kinderopvangtoeslag“ gestellt habe, legt sie die Relevanz dieses Vorbringens für die gegenständliche Entscheidung nicht dar.
[24] 4.1. Entsprechend den Grundsätzen der sukzessiven Kompetenz hat das Gericht nicht die Verwaltungsentscheidung zu prüfen, sondern ein eigenes Verfahren durchzuführen und aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen vollkommen neu zu entscheiden (RS0053686; RS0106394; RS0112044). Im Fall einer Klage gegen einen auf die – erst seit 1. März 2017 als Ablehnungsgrund eingeführte (§ 50 Abs 15 KBGG idF BGBl I 2016/53) – Verletzung der Mitwirkungspflicht nach § 32 Abs 4 KBGG gestützten Bescheid ist Gegenstand des Gerichtsverfahrens daher nicht die Verletzung der Mitwirkungspflicht, sondern der geltend gemachte Anspruch (Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG4 § 32 Rz 3), der hier zu bejahen ist.
[25] 4.2. Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht des § 32 KBGG könnte im Gerichtsverfahren für die Kostenentscheidung von Bedeutung sein (Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG4 § 32 Rz 3), nämlich einerseits im Rahmen des § 77 Abs 3 ASGG (Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG4 § 32 Rz 4) oder bei der Frage, ob die vom Kläger verzeichneten Kosten zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig waren (vgl Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG4 § 32 Rz 5).
[26] 4.3. Abgesehen davon, dass die Kostenentscheidungen der Vorinstanzen infolge Bestätigung der angefochtenen Entscheidungen in der Hauptsache vom Obersten Gerichtshof nicht neu zu fassen ist und die Beklagte überdies auch nicht darlegt, inwiefern die von ihr behauptete Verletzung der Mitwirkungspflicht durch die Klägerin im Rahmen der Kostenentscheidung konkret Berücksichtigung finden könnte, ist eine Verletzung der Mitwirkungspflicht durch die Klägerin auch nicht ersichtlich:
[27] Da nach § 6 Abs 3 KBGG schon der Anspruch auf eine vergleichbare Leistung ausreicht, treten ein Ruhen und eine Anrechnung nach dieser Bestimmung auch dann ein, wenn die ausländischen Leistungen nicht beantragt wurden (M. Weißenböck in Holzmann‑Windhofer/Weißenböck, KBGG § 6, 134). Eine (erfolgte oder nicht erfolgte) Antragstellung berührt den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld somit nicht und ein Ruhen wird auch nicht durch das Vorliegen eines (positiven oder negativen) Bescheids über eine ausländische Leistung bewirkt, sodass eine Verletzung der Mitwirkungspflicht insofern auch nicht denkbar ist.
[28] Allfällige aus einem Bescheid eines ausländischen Trägers zu ziehende Rückschlüsse auf die (im Verwaltungsverfahren von der Beklagten zu ermittelnde) Rechtslage im Ausland – etwa das Bestehen oder Nichtbestehen eines Anspruchs auf eine vergleichbare ausländische Familienleistung – sind nicht von der Mitwirkungspflicht des § 32 Abs 1 und 4 KBGG erfasst, die sich ausdrücklich auf die Aufklärung und Feststellung des für den Anspruch maßgeblichen Sachverhalts bezieht.
[29] Überdies lag der (Rechtsvorgängerin der) Beklagten bereits seit Juli 2017 ein Schreiben des Finanzamts des Kantoor Utrecht an die Klägerin vor, in dem ein Anspruch auf das niederländische „Kinderopvangtoeslag“ verneint wurde (./10). Welche zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts erforderliche Mitwirkung sie von der Klägerin darüber hinaus konkret erwartet hätte, lässt sich den Revisionsausführungen der Beklagten nicht entnehmen.
[30] 5.1. Zusammenfassend stellt die niederländische Leistung „Kinderopvangtoeslag“ keine iSd § 6 Abs 3 KBGG vergleichbare ausländische Familienleistung dar, sodass es dem von den Vorinstanzen bejahten Anspruch der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld in der begehrten Variante nicht entgegen steht. Der Revision der Beklagten ist daher nicht Folge zu geben.
[31] 5.2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a iVm Abs 2 ASGG. Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht liegt nicht vor (oben ErwGr 4.3.), sodass sich ein Eingehen auf die Frage erübrigt, inwiefern dies bei der Kostenentscheidung berücksichtigt werden könnte.
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