OGH 10ObS203/21g

OGH10ObS203/21g24.5.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr. C*, Italien, vertreten durch Dr. Peter Schmautzer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 27. Oktober 2021, GZ 10 Rs 50/21 b‑37, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 22. März 2021, GZ 1 Cgs 128/19y‑30, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00203.21G.0524.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts unter Einschluss des in Rechtskraft erwachsenen Teils mit der Maßgabe wiederhergestellt wird, dass es in der Hauptsache insgesamt zu lauten hat:

„Es wird festgestellt, dass die klagende Partei nicht zum Rückersatz des für den Zeitraum von 11. Juli 2016 bis 16. April 2017 bezogenen Kinderbetreuungsgelds als Ersatz des Erwerbseinkommens in Höhe von 18.480 EUR an die beklagte Partei verpflichtet ist.“

Die Kostenentscheidung bleibt dem Erstgericht vorbehalten.

 

 

Entscheidungsgründe:

[1] Mit Bescheid vom 27. 5. 2019 widerrief die Rechtsvorgängerin der nun beklagten Österreichischen Gesundheitskasse die Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes als Ersatz des Erwerbseinkommens an die Klägerin für ihren am 17. 4. 2016 geborenen Sohn für den Zeitraum von 11. 7. 2016 bis 16. 4. 2017 im Ausmaß von gesamt 18.480 EUR (66 EUR täglich). Für diesen Zeitraum bestehe kein Anspruch der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld, es fehle an der Anspruchsvoraussetzung des Mittelpunkts der Lebensinteressen im Bundesgebiet gemäß § 2 Abs 1 Z 4 KBGG.

[2] Mit ihrer gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt die Klägerin im Ergebnis die Feststellung, nicht zum Rückersatz des Kinderbetreuungsgeldes in der Höhe von 18.480 EUR verpflichtet zu sein. Sie habe mit ihrem Kind im Bezugszeitraum den Mittelpunkt der Lebensinteressen in Österreich gehabt.

[3] Die Beklagte wandte dagegen ein, dass die Klägerin ihre Erwerbstätigkeit in Österreich aufgegeben habe. Die Klägerin habe den Lebensmittelpunkt gemeinsam mit ihrem Sohn in das Vereinigte Königreich verlagert, wo auch der Vater des Kindes einer Beschäftigung nachgegangen sei. Eine Rückkehrabsicht nach Österreich habe nicht bestanden. Zur Gewährung von Familienleistungen sei daher allein das Vereinigte Königreich zuständig. Selbst bei Annahme eines Lebensmittelpunkts der Klägerin in Österreich wäre das Vereinigte Königreich infolge der Beschäftigung des Vaters des Kindes vorrangig zur Gewährung von Familienleistungen zuständig, Österreich nur nachrangig, sodass die Klägerin allenfalls eine Ausgleichszahlung erhalten könnte.

[4] Das Erstgericht gab der Klage statt. Es ging von folgendem wesentlichen Sachverhalt aus:

[5] Die Klägerin war von 26. 8. 2013 bis 31. 7. 2014 sowie von 1. 10. 2015 bis 12. 1. 2017 als angestellte Ärztin bei der W* GmbH & CoKG beschäftigt und lebte währenddessen durchgehend in Wien. Der Sohn der Klägerin wurde am 17. 4. 2016 geboren. Von 16. 1. 2017 bis 31. 12. 2017 arbeitete die Klägerin in London an zweieinhalb Tagen pro Woche – wöchentlich 20 Stunden – als Ärztin. Sie wohnte jedoch weiterhin durchgehend in Wien und hielt sich dort – abgesehen von kurzen, ein‑ oder zweitägigen berufsbedingten Aufenthalten im Vereinigten Königreich und einem dreitägigen berufsbedingten Aufenthalt in Finnland – durchgehend auf. Wenn die Klägerin berufsbedingt für jeweils kurze Zeit im Vereinigten Königreich war, betreuten entweder ihre Eltern oder ihre Tante ihren Sohn in Wien. Davon abgesehen betreute, pflegte und erzog ausschließlich die Klägerin ihren Sohn. Sie hatte – wie auch ihr Sohn – im Bezugszeitraum ihren Lebensmittelpunkt in Wien. Der Vater des Sohnes arbeitete im Zeitraum von 17. 4. 2016 bis 16. 4. 2017 in London als Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin und lebte auch dort.

[6] Rechtlich folgerte das Erstgericht, dass infolge der Beschäftigung des Vaters im Vereinigten Königreich und dem Umstand, dass die Klägerin weiterhin den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in Österreich hatte, Anspruch auf Familienleistungen in beiden Ländern bestanden habe. Aus Art 68 Abs 1 lit b sublit i VO (EG) 883/2004 ergebe sich die vorrangige Zuständigkeit Österreichs zur Gewährung von Kinderbetreuungsgeld.

[7] Das Berufungsgericht gab der nur im Umfang der Stattgebung des Klagebegehrens für das Kalenderjahr 2017 von der Beklagten erhobenen Berufung teilweise Folge. Es sprach – unter Einschluss der unangefochten in Rechtskraft erwachsenen Stattgebung des Klagebegehrens für den Zeitraum 11. 7. 2016 bis 31. 12. 2016 – aus, dass die Klägerin nicht zum Rückersatz von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens im Umfang von 13.530 EUR verpflichtet sei. Hingegen verpflichtete es die Klägerin zum Rückersatz von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens in Höhe von 4.950 EUR. Da beide Eltern ab 16. 1. 2017 im Vereinigten Königreich beschäftigt gewesen seien, sei ab diesem Zeitpunkt nur mehr das Vereinigte Königreich zur Gewährung von Familienleistungen zuständig. Der Wohnsitz des Kindes in Österreich begründe keinen Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeit. Art 68 VO (EG) 883/2004 sei nicht anwendbar, weil Österreich auch nicht nachrangig zur Gewährung von Familienleistungen ab diesem Zeitpunkt zuständig sei. Da die Änderung der Zuständigkeit zur Gewährung von Familienleistungen während des Monats erfolgt sei, sei die Klägerin erst ab 1. 2. 2017 zum Rückersatz des zu Unrecht empfangenen Kinderbetreuungsgeldes verpflichtet. Dass die Voraussetzungen der Rückforderung gegeben seien, habe die Klägerin nie bestritten. Die von der Beklagten erstmals in der Berufung behauptete Überschreitung der Zuverdienstgrenze durch die Arbeitstätigkeit der Klägerin im Vereinigten Königreich sei eine unbeachtliche Neuerung. Die Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung fehle, ob in einem Fall wie dem vorliegenden allein der Wohnsitz des Kindes und eines Elternteils in Österreich ein ausreichendes Anknüpfungskriterium für einen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens darstelle, wenn beide Elternteile in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt seien.

[8] Gegen dieses Urteil wendet sich die von der Beklagten beantwortete Revision der Klägerin, mit der sie die gänzliche Stattgebung ihrer Klage anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die Revision ist zulässig und berechtigt.

[10] Die Revisionswerberin macht im Ergebnis zu Recht geltend, dass sie alle Voraussetzungen für die Gewährung ihres Anspruchs nach österreichischem Recht erfüllt habe:

[11] 1. Die Anspruchsberechtigung für das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens regelt § 24 KBGG. Zwischen den Parteien ist nicht strittig, dass die Anspruchsvoraussetzungen nach dieser Bestimmung jedenfalls bis zur Aufnahme einer Arbeitstätigkeit der Klägerin in London ab 16. 1. 2017 erfüllt waren.

[12] 2. Die Beklagte macht auch in der Revisionsbeantwortung geltend, dass die Klägerin infolge der Aufnahme einer Beschäftigung im Vereinigten Königreich ab diesem Zeitpunkt den Vorschriften dieses Mitgliedstaats unterliege. Da auch der Vater des Kindes im Vereinigten Königreich einer Beschäftigung nachgehe, sei der Wohnsitz des Kindes in Österreich kein taugliches Anknüpfungskriterium, um den Anspruch der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld – gemeint: für den Zeitraum nach dem 16. 1. 2017 – zu begründen. Dieses Argument übergeht jedoch, dass die Ausübung einer Erwerbstätigkeit während des Bezugszeitraums – unabhängig davon, ob ihr in Österreich oder in einem anderen Mitgliedstaat der Union nachgegangen wird – keine Anspruchsvoraussetzung für die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens ist. Allenfalls kann der Anspruch durch eine solche Erwerbstätigkeit verringert werden, wenn die Zuverdienstgrenze überschritten wird (§ 24 Abs 1 Z 3, § 8a KBGG). Weder hat jedoch die Beklagte ihre Rückforderung auf eine Überschreitung der Zuverdienstgrenze gestützt noch hat sie – worauf bereits das Berufungsgericht hingewiesen hat – ein entsprechendes Vorbringen im Verfahren erster Instanz erstattet, sodass darauf nicht weiter einzugehen ist.

[13] 3. Die beklagte Österreichische Gesundheitskasse hat im Übrigen im Verfahren erster Instanz gar nicht geltend gemacht, dass die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit der Klägerin im Vereinigten Königreich den Verlust des Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld infolge des Übergangs der internationalen Zuständigkeit auf das Vereinigte Königreich zur Folge hätte. Ihr wesentlicher Einwand war vielmehr, dass die Klägerin und ihr Sohn den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in Österreich durch einen Umzug in das Vereinigte Königreich aufgegeben hätten, sodass die Anspruchsvoraussetzung des § 24 Abs 1 Z 1 iVm § 2 Abs 1 Z 4 KBGG nicht (mehr) erfüllt sei. Dieser Einwand erwies sich jedoch nach den den Obersten Gerichtshof bindenden – und in der Berufung auch nicht angefochtenen –Feststellungen des Erstgerichts als nicht berechtigt. Weitere Anspruchsvoraussetzungen hat die Beklagte im Verfahren nicht bestritten.

[14] 4. Da die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit der Klägerin während des Bezugszeitraums im Vereinigten Königreich ohne Änderung des Mittelpunkts ihrer Lebensinteressen nicht die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 24 KBGG berührt, stellen sich die von den Vorinstanzen und der Beklagten aufgeworfenen Fragen einer (internationalen) Zuständigkeit des Vereinigten Königreichs zur Gewährung von Familienleistungen nach der VO (EG) 883/2004 bzw einer Anwendung des Art 68 dieser Verordnung hier nicht. Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich wesentlich von dem der Entscheidung 10 ObS 120/19y (SSV‑NF 33/70), auf die sich das Berufungsgericht gestützt hat: In jener Entscheidung waren weder die damalige Klägerin noch ihr Ehegatte in Österreich erwerbstätig, sondern – auch bereits vor der Geburt des Kindes – in der Schweiz (vgl auch 10 ObS 135/19d SSV‑NF 34/33, 10 ObS 160/19f, 10 ObS 164/19v). Damit stellte sich in jener Entscheidung die Frage der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzung des § 24 Abs 1 Z 2 KBGG, weil die damalige Klägerin keine in Österreich kranken‑ und pensionsversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit ausübte. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin diese Anspruchsvoraussetzung jedoch unstrittig erfüllt: Sie war in den letzten 182 Tagen unmittelbar vor der Geburt des Kindes in Österreich durchgehend erwerbstätig im Sinn des § 24 Abs 2 KBGG.

[15] Der Revision ist daher Folge zu geben und die Entscheidung des Erstgerichts im Ergebnis wieder herzustellen. Zu Recht hat bereits das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass das Klagebegehren als solches auf Feststellung, dass die Pflicht zum Rückersatz für den strittigen Zeitraum nicht besteht, zu lauten hat (RIS‑Justiz RS0084315, RS0109892), was bei der Formulierung des Spruchs zu beachten ist.

[16] Das Berufungsgericht behielt die Kostenentscheidung gemäß § 52 Abs 1 ZPO bis zur rechtskräftigen Erledigung der Streitsache vor, sodass eine Kostenentscheidung gemäß § 52 Abs 3 ZPO nicht zu treffen war. Die Bestimmung über den Kostenvorbehalt gemäß § 52 ZPO ist auch im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbar (Neumayr in ZellKomm³ § 77 ASGG Rz 2).

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