European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E129152
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie insgesamt zu lauten haben:
Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens in der Zeit von 1. 11. 2018 bis 1. 7. 2019 ungekürzt in der Höhe von 66 EUR täglich zu zahlen, wird abgewiesen.
Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.
Entscheidungsgründe:
I. Die Bezeichnung der ursprünglich beklagten Vorarlberger Gebietskrankenkasse war gemäß § 23 Abs 1 und § 538t Abs 1 ASVG von Amts wegen auf Österreichische Gesundheitskasse zu berichtigen.
II. Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld anlässlich der Geburt ihres Sohnes O* am 2. 7. 2018 für den Zeitraum von 1. 11. 2018 bis 1. 7. 2019.
Die Klägerin ist deutsche Staatsbürgerin, ihr Ehemann (der Vater des Kindes) und der gemeinsame Sohn sind österreichische Staatsbürger. Sie leben gemeinsam in * in Vorarlberg. Die Klägerin war von 1. 11. 2014 bis 22. 10. 2018 unselbständig im Fürstentum Liechtenstein beschäftigt. Ihr Ehegatte arbeitet seit dem Mai 2014 ebenfalls im Fürstentum Liechtenstein.
Der Ehemann der Klägerin bezieht für den gemeinsamen Sohn eine (liechtensteinische) Kinderzulage von 280 CHF monatlich. Er erhielt ferner die (liechtensteinische) Geburtszulage von 2.300 CHF. In Österreich bezieht die Klägerin die Ausgleichszahlung zur Familienbeihilfe in Höhe des Kinderabsetzbetrags.
Mit Bescheid vom 10. 1. 2019 lehnte die Vorarlberger Gebietskrankenkasse den Antrag auf Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens mit der Begründung ab, die Klägerin sowie der zweite Elternteil hätten eine Erwerbstätigkeit in Liechtenstein ausgeübt bzw übten dort eine Erwerbstätigkeit aus, sodass es beiden an einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit mangle. Daher werde keine Leistungszuständigkeit Österreichs ausgelöst.
Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage statt und sprach der Klägerin Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens in Höhe von 66 EUR täglich für den Zeitraum von 1. 11. 2018 bis 1. 7. 2019 zu.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Es ließ die Revision nicht zu, weil es sich auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs gestützt habe.
Rechtlich bejahte es den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 und qualifizierte das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens gemäß §§ 24 ff KBGG als Familienleistung im Sinn des Art 1 lit z VO (EG) 883/2004 . Familienleistungen seien nach Art 67 ff VO (EG) 883/2004 zu koordinieren. Für inaktive Personen, wie hier das Kind der Klägerin, bestehe gemäß Art 11 Abs 3 VO (EG) 883/2004 eine Anknüpfung an den Wohnsitzmitgliedstaat. Es komme die „Familienbetrachtungsweise“ als spezielle Ausprägung der Sachverhaltsgleichstellung zur Anwendung. Daher sei das Erwerbseinkommen von Personen, die nicht den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats – hier Österreichs als des subsidiär zuständigen Mitgliedstaats für Familienleistungen – unterlägen, für die Berechnung von einkommensabhängigen Familienleistungen dem Grunde nach zu berücksichtigen. Darüber hinaus müsse das Erfordernis eines ausschließlich in Österreich sozialversicherungspflichtigen Erwerbseinkommens als unionsrechtswidrig unangewendet bleiben. Die Rechtssache Moser des Europäischen Gerichtshofs (C‑32/18 ) sei nicht einschlägig, weil die Anspruchswerber des dort betroffenen Verfahrens im EU-Ausland wohnten, aber im Inland arbeiteten. Zusammengefasst erfülle die liechtensteinische Beschäftigung der Klägerin die Anspruchsvoraussetzung des § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG. Im Weiteren sei der Standpunkt der Beklagten, die liechtensteinische Geburtszulage sei auf das österreichische einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld anzurechnen, aus näher angeführten Gründen unberechtigt.
Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen im klageabweisenden Sinn abzuändern.
Die Klägerin beantragt, der außerordentlichen Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die außerordentliche Revision ist zulässig, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts vom 11. 10. 2019 mit der zu 10 ObS 120/19y ergangenen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 19. 11. 2019 nicht im Einklang steht.
Die Revisionswerberin vertritt den Standpunkt, die Vorinstanzen ließen die bloße Koordinierungsfunktion der VO (EG) 883/2004 außer Acht. Ein Anspruch auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld solle nur jenen Eltern zustehen, die von ihrem Lohn bzw Gehalt sowohl Sozialversicherung als auch FLAF‑Beiträge in Österreich eingezahlt hätten. Hier fehle sowohl hinsichtlich der Klägerin als auch hinsichtlich des zweiten Elternteils die tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen (kranken- und pensionsversicherungspflichtigen) Erwerbstätigkeit gemäß § 24 Abs 2 KBGG.
Diese Ausführungen sind im Hinblick auf die zu einem vergleichbaren Sachverhalt, aber erst nach der Entscheidung des Berufungsgerichts ergangenen Entscheidung 10 ObS 120/19y, sowie im Hinblick auf die Entscheidungen 10 ObS 160/19f und 10 ObS 135/19d, je vom 26. 5. 2020, berechtigt.
1. Die Verordnung (EG) 883/2004 ebenso wie die Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 findet im Verhältnis zu den EWR-Staaten, zu denen Liechtenstein gehört, im Wege des Beschlusses Nr 76/2011 des Gemeinsamen EWR‑Ausschusses vom 1. 7. 2011 (Abl L 263/33 vom 6. 10. 2011) Anwendung (Kahil‑Wolff in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7, Vor Art 1 VO 883/2004 Rz 6). Der persönliche Anwendungsbereich der VO 883/2004 ist für die Klägerin, eine Grenzgängerin im Sinn des Art 1 lit f VO 883/2004 , eröffnet (Art 2 Abs 1 VO 883/2004 ). Ihr sachlicher Anwendungsbereich ist gemäß Art 3 Abs 1 lit j VO 883/2004 eröffnet, weil es sich beim Kinderbetreuungsgeld um eine Familienleistung nach dieser Bestimmung handelt (RS0122905 [T4]).
2. Personen, die in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen, unterliegen gemäß Art 11 Abs 1 VO 883/2004 den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Grundsätzlich ist gemäß Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 das Recht des Mitgliedstaats maßgebend, in dem eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Für die Klägerin ist demnach das liechtensteinische Recht alsdas Recht ihres Beschäftigungsstaats anwendbar.
3. Familienleistungen werden nach den Art 67–69 VO 883/2004 koordiniert. Gemäß Art 67 VO 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat bzw Vertragsstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats bzw Vertragsstaats. Die Klägerin hat danach grundsätzlich Anspruch auf Familienleistungen nach liechtensteinischem Recht für ihren in Österreich lebenden Sohn als Familienangehörigen (Art 1 lit i VO 883/2004 ). Liechtenstein gewährt nach den Verfahrensergebnissen auch Familienleistungen.
4.1 Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten (bzw Vertragsstaaten) zu gewähren, so gelangen die Prioritätsregeln des Art 68 VO 883/2004 zur Anwendung. Das ist auch hier der Fall, weil für den Sohn der Klägerin Leistungen sowohl nach liechtensteinischem Recht (Kinderzulage, Geburtszulage) als auch nach österreichischem Recht (Ausgleichszahlung zur Familienbeihilfe) gewährt werden.
4.2 Ebenso wie in dem zu 10 ObS 120/19y zu beurteilenden Sachverhalt gelangt auch im vorliegenden Fall nur Art 68 Abs 1 lit a VO 883/2004 zur Anwendung, weil ein Anspruch der Klägerin mangels Beschäftigung in Österreich nur aufgrund des Wohnorts des Kindes in Österreich denkbar ist. Auch der Gatte der Klägerin war nicht in Österreich beschäftigt, sodass auch hier nur ein über den Wohnort ausgelöster Anspruch in Frage käme. Eine der Entscheidung des EuGH, C‑32/18 , Moser, vergleichbare Konstellation liegt auch im vorliegenden Fall nicht vor. Insbesondere kann auch im vorliegenden Fall die Klägerin ihren Anspruch nicht aus einer Beschäftigung ihres Gatten in Österreich ableiten, wie dies der EuGH in der Entscheidung C‑32/18 , Moser, getan hat.
5.1 Bei der Anwendung österreichischen Rechts ist der Anspruch der Klägerin aus dem von der Beklagten angeführten Grund des Fehlens einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit in Österreich (§ 24 Abs 2 KBGG) vor der Geburt des Sohnes zu verneinen. Dazu kann auf die ausführliche Begründung der Entscheidung 10 ObS 120/19y verwiesen werden (dort Pkt 4.; so auch 10 ObS 135/19d; 10 ObS 160/19f). Daraus ist zusammengefasst hervorzuheben:
5.2 Nach dem Standpunkt der Klägerin müsste im Rahmen der Koordinierung nicht nur das rein mitgliedstaatliche (österreichische) Recht angewendet werden, sondern dieses darüber hinaus unionsrechtskonform ausgelegt werden, indem generell auch Beschäftigungszeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat bzw Vertragsstaat (hier: Liechtenstein) zurückgelegt wurden, für die Erfüllung der Voraussetzungen des § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG heranzuziehen wären. Damit würde allerdings der Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit verlassen. Art 45 AEUV räumt einem Wanderarbeitnehmer nicht das Recht ein, sich in seinem Wohnsitzstaat (hier: Österreich) auf dieselbe soziale Absicherung zu berufen wie die, in deren Genuss er käme, wenn er in diesem Mitgliedstaat arbeitete, falls er tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat bzw Vertragsstaat arbeitet (hier: Liechtenstein) und gemäß den Bestimmungen dieses (leistungszuständigen) Mitgliedstaats bzw Vertragsstaats nicht in den Genuss einer solchen Absicherung kommt (EuGH C‑95/18 , C‑96/18 , van den Berg, Giesen und Franzen, Rn 58). Eine aus einer Beschäftigung in einem anderen Staat abgeleitete Leistungsverpflichtung des Wohnsitzstaats würde das durch den AEUV eingerichtete Gleichgewicht zerstören, weil eine solche Pflicht dazu führen könnte, dass nur das Gesetz des Mitgliedstaats, der die vorteilhaftere soziale Sicherung bietet, angewandt wird. Es bestünde die Gefahr der Beeinträchtigung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit desjenigen Mitgliedstaats, der die vorteilhafteste soziale Sicherung bietet.
6. Die Klägerin hat daher keinen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens.
Der außerordentlichen Revision der beklagten Partei ist Folge zu geben und das Klagebegehren abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch aus Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)