Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die beklagte Partei schuldig erkannt wird, dem Kläger ab 1.7.1995 ein Pflegegeld der Stufe 5 von monatlich S 11.591,-- zu zahlen; das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Die beklagte Partei ist weiters schuldig, dem Kläger die mit S 10.956,48 bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz (darin S 1.806,08 Umsatzsteuer, S 120,-- Barauslagen) und die mit S 3.381,42 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin S 563,82 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am 25.7.1915 geborene Kläger, der ständig in einem Pflegeheim untergebracht ist, leidet an einer chronisch-cerebrovasculären Insuffizienz nach rechtshirnigem Schlaganfall mit Restlähmung der linken Körperhälfte und Morbus Parkinson, woraus eine Bewegungsunfähigkeit und stark verminderte geistige Leistungsfähigkeit mit Antriebsarmut resultieren. Überdies bestehen Schluckbeschwerden, eine sensomotorische Aphasie und ein massives organisches Psychosyndrom (Hirnschädigung). Er ist geistig verwirrt, nur kurzzeitig ansprechbar, zeitlich und örtlich teilweise desorientiert und insoweit bewegungsunfähig, als er auf einen Rollstuhl angewiesen ist, sich aber weder selbst in den Rollstuhl setzen noch diesen allein verlassen kann. Seine Antriebslosigkeit geht so weit, daß er allein weder ißt noch trinkt und Aufforderungen, etwas zu tun, in der Regel kaum nachkommt. Er ist daher nicht in der Lage, ohne fremde Hilfe irgendeine tägliche Verrichtung selbst durchzuführen. Die Dinge, die er trotz seiner körperlichen Behinderung noch selbst tun könnte, wie etwa das Trinken aus einer Schnabeltasse oder das Essen vorbereiteter zerkleinerter Nahrung, führt er auf Grund seiner Antriebslosigkeit nicht aus, weshalb ihm auch Nahrung und Getränke teils eingegeben werden müssen, teils beim Essen und Trinken eine dauernde Aufforderung durch eine Pflegeperson erforderlich ist.
Mit Bescheid des (damaligen) Bundesrechenamtes vom 4.8.1995 wurde dem Kläger ab 1.7.1995 ein Pflegegeld der Stufe 4 von monatlich S 8.535,-- zuerkannt.
Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen Klagebegehren statt und erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1.7.1995 das Pflegegeld der Stufe 7 zu gewähren. Es stellte im wesentlichen den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt fest und führte in rechtlicher Hinsicht aus, daß der Pflegebedarf des Klägers mehr als 180 Stunden monatlich betrage und infolge der Antriebslosigkeit überdies eine praktische Bewegungsunfähigkeit vorliege. Die Voraussetzungen für das begehrte Pflegegeld der Stufe 7 lägen daher vor.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Die dem Kläger verbliebene körperliche Bewegungsfähigkeit werde durch die Antriebslosigkeit "aufgehoben", er befinde sich daher in einem "praktischer Bewegungsunfähigkeit gleichzuachtenden Zustand."
Dieses Urteil wird von der beklagten Partei mit Revision insoweit bekämpft, als dem Kläger ein die Stufe 5 übersteigendes Pflegegeld zuerkannt wurde.
Der Kläger beantragte in der Revisionsbeantwortung, der Revision keine Folge zu geben.
Die Revision ist berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Strittig ist zunächst, ob beim Kläger die Voraussetzung "praktische Bewegungsunfähigkeit oder ein gleichzuachtender Zustand" im Sinne des § 4 Abs 2 Stufe 7 BPGG vorliegt. Die Einordnung in Stufe 7 sollte nach der Regierungsvorlage zum BPGG nur bei Vorliegen der vollständigen Bewegungsunfähigkeit zulässig sein (776 BlgNR 18.GP). In den Ausschußberatungen wurde diese Voraussetzung durch den weiteren Begriff "praktische Bewegungsunfähigkeit" ersetzt (908 BlgNR 18. GP). Es muß sich dabei um einen Zustand handeln, der in den funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkommt. Dies ist anzunehmen, wenn zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung nicht mehr möglich sind. Pflegegeld der Stufe 7 kommt schließlcih auch bei einem der praktischen Bewegungsunfähigkeit gleichzuachtenden Zustand in Betracht: Davon wird man sprechen können, wenn der Pflegebedürftige an sich noch über eine gewisse Mobilität verfügt, diese aber insbesondere aufgrund des Angewiesenseins auf bestimmte lebensnotwendige Hilfsmittel (etwa ein Beatmungsgerät) nicht nützen kann (10 ObS 2324/96d; 10 ObS 2337/96s = SSV-NF 10/129; 10 ObS 2434/96f = SSV-NF 10/135; 10 ObS 2466/96m; 10 ObS 2468/96f; Pfeil, BPGG 98 f; derselbe, Pflegevorsorge in Österreich, 199). Die bisherigen Aussagen zu dieser Frage sind noch dahin zu präzisieren, daß eine praktische Bewegungsunfähigkeit dann vorliegt, wenn einer hiervon betroffenen Person keinerlei willentliche Steuerung von Bewegungen, die zu einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen und mit denen dieser Zweck auch erreicht werden kann, mehr möglich wäre (10 ObS 268/97b; 10 ObS 385/97h; 10 ObS 410/97k).
Im vorliegenden Fall hat schon das Erstgericht darauf hingewiesen, daß dem Kläger Bewegungen mit der rechten Hand noch möglich seien, wie beispielsweise das zum Mund Führen des Essens oder Trinken aus einem Schnabelbecher; der Kläger könne die linke Hand als Hilfshand einsetzen. Damit ist im Sinne der zitierten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes weder von einer praktischen Bewegungsunfähigkeit noch von einem dieser gleichzuachtenden Zustand auszugehen. Ist jemand zu einer willentlichen Steuerung von Bewegungen, die zu einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen, noch fähig, dann liegt keine praktische Bewegungsunfähigkeit vor. Ist etwa jemand noch in der Lage, mit einer Hand zu essen oder ein Trinkflüssigkeit (und sei es auch nur unter Zuhilfenahme einer Schnabeltasse oder eines Schnabelbechers) zum Mund zu führen, ein Buch beim Lesen umzublättern, ein Mobiltelefon zu ergreifen und - sei es auch bloß mittels Kurzwahltaste - einen Kontakt herzustellen, eine Fernbedienung zu benützen oder auch einen Rollstuhl zu steuern, dann ist von praktischer Bewegungsunfähigkeit keine Rede, um so weniger von einem dieser gleichzuachtenden Zustand, der ja, wie oben bereits ausgeführt, beim Erfordernis des dauernden Einsatzes technischer Hilfsmittel zur Aufrechterhaltung lebensnotwendiger Funktionen angenommen werden kann. Die nunmehr von der Beklagten anerkannte Unfähigkeit des Klägers zum selbständigen Transfer in und aus dem Rollstuhl wegen eines deutlichen Ausfalls der Funktion der oberen Extremitäten führt auch nur zu einem Pflegegeldanspruch in Höhe der Stufe 5 (10 ObS 2468/96f; 10 ObS 101/97v ua). Kann aber der Kläger beispielsweise Essen zum Mund führen oder aus einem Schnabelbecher trinken, dann kann er Bewegungen, die zu einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen, willentlich steuern; damit sind aber zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung noch möglich (ebenso 10 ObS 268/97b; 10 ObS 385/97h; 10 ObS 410/97k - alle vom 2.12.1997).
Daß der Kläger nach den Feststellungen infolge seiner Antriebslosigkeit zu nahezu allen Verrichtungen des täglichen Lebens angeleitet werden muß, ist kein Kriterium für das Vorliegen der praktischen Bewegungsunfähgikeit, sondern nach § 4 der Einstufungsverordnung zum BPGG (EinstV) zu beurteilen: Danach sind die Anleitung und die Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in den §§ 1 und 2 EinstV angeführten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen. Der hier bestehende Pflegeaufwand etwa für das Einnehmen von Mahlzeiten (§ 1 Abs 4 EinstV) ist eben gerade deshalb anzuerkennen, weil der Kläger wenngleich nicht wegen körperlicher Bewegungsunfähigkeit, so doch wegen (geistiger) Antriebslosigkeit besondere Betreuung braucht. Er erfüllt aber deshalb nicht die Voraussetzungen für das Pflegegeld der Stufe 7 nach § 4 Abs 2 BPGG.
Für die Gewährung eines Pflegegeldes in Höhe der Stufe 6 ist - wiederum zusätzlich zum 180 Stunden im Monatsdurchschnitt übersteigenden zeitlichen Aufwand - eine dauernde Beaufsichtigung des Pflegebedürftigen oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand erforderlich. Die Einordnung in Stufe 6 sollte nach der Regierungsvorlage zum BPGG (776 BlgNR 18. GP) nur bei Vorliegen des Erfordernisses der dauernden Beaufsichtigung zulässig sein. Dieser Tatbestand betrifft in erster Linie Pflegebedürftige mit geistiger oder psychischer Behinderung. Durch die im Ausschuß für Arbeit und Soziales vorgenommene Erweiterung der Anspruchsvoraussetzungen für die Stufe 6 durch die Wortfolge "oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand" soll auch körperlich behinderten Menschen der Zugang zu dieser Stufe ermöglicht werden (908 BlgNR 18. GP, 4). Unter dauernder Beaufsichtigung ist die Notwendigkeit einer weitgehend permanenten Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich bzw in unmittelbarer Nähe des Pflegebedürftigen zu verstehen (Gruber/Pallinger aaO Rz 57; ständige Rechtsprechung des Senates zB 10 ObS 2324/96d; 10 ObS 2337/96s = SSV-NF 10/129; 10 ObS 2468/96f). Die dauernde Beaufsichtigung eines Pflegebedürftigen wird vor allem dann erforderlich sein, wenn im Einzelfall besonders häufig und/oder besonders dringend (zB wegen sonstiger Selbstgefährdung) ein Bedarf nach fremder Hilfe auftritt; dieser Gesichtspunkt wird auch den Ausschlag für die Einstufung von körperlich Behinderten in Stufe 6 geben müssen, weil dieser Personengruppe ganz offenbar ebenfalls ein Zugang zur zweithöchsten Pflegegeldstufe ermöglicht werden soll (Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 198; derselbe, BPGG 98 unter Hinweis auf den oben zitierten Ausschußbericht). Nach den Richtlinien des Hauptverbandes für die einheitliche Anwendung des BPGG nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG, SozSi 1994, 686 - Amtl Verlautbarung 120/1994, die allerdings nach der wiederholt dargelegten Auffassung des Senates für Gerichte nicht bindend sind (10 ObS 2349/96f; 10 ObS 2396/96t = SSV-NF 10/131 = SZ 69/278 ua), wird ein dem Erfordernis dauernder Beaufsichtigung gleichzuachtender Zustand dann angenommen, wenn eine intensive, zeitlich unkoordinierbare Pflegeleistung beim immobilen oder mobilen Pflegebedürftigen zu erbringen ist (§ 17 Abs 2 Z 3 lit b dieser Richtlinien). Da sich diese Umschreibung der Erfordernisse für eine Einstufung in die Stufe 6 im wesentlichen mit der Auffassung des Obersten Gerichtshofes deckt, muß hier zu der Frage der Bindung der Richtlinien für die Gerichte nicht neuerlich Stellung genommen werden (vgl 10 ObS 2468/96f; 10 ObS 101/97v).
Die Feststellungen bieten keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Zustand des Klägers eine dauernde Beaufsichtigung oder einen gleichzuachtenden Pflegeaufwand erfordert. Einerseits ist nicht ersichtlich, daß die weitgehend permanente Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich oder in der unmittelbaren Nähe des Klägers erforderlich ist, andererseits muß auch noch nicht eine intensive, zeitlich unkoordinierbare Pflegeleistung erbracht werden. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger nicht in der Lage wäre, mit einer Pflegeperson in Kontakt zu treten und diese bei Bedarf herbeizurufen. Daß die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson erforderlich ist, wird dabei nicht in Abrede gestellt, doch begründet dieses Erfordernis den außergewöhnlichen Pflegeaufwand nach § 6 EinstV, der ja für eine Einstufung in die Stufe 5 erforderlich ist. Die dauernde oder weitgehende Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich oder in unmittelbarer Nähe des Klägers ist nach den Feststellungen trotz fehlender Einsicht und fehlenden Antriebs des Klägers nicht erforderlich. Die Pflegepersonen können einerseits zu fix vereinbarten Zeiten, andererseits auch auf Abruf zum Kläger kommen, was zwar eine Rufbereitschaft voraussetzt, die aber gerade nach der Definition des § 6 EinstV Voraussetzung ist, um überhaupt einen außergewöhnlichen Pflegeaufwand im Sinne des § 4 Abs 2 Stufe 5 BPGG zu rechtfertigen (so auch 10 ObS 2468/96f; 10 ObS 101/97v). Für das Erfordernis einer intensiven, zeitlich unkoordinierbaren Pflegeleistung bieten die Feststellungen ebenfalls keine Grundlage, wobei auch darauf Bedacht zu nehmen ist, daß der Kläger keine Stuhl- oder Harninkontinenz bzw Blasen- oder Mastdarmlähmung aufweist und die oberen Extremitäten, wenn auch eingeschränkt, benutzen kann.
Damit erfüllt aber der Kläger auch nicht die Voraussetzungen für ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 6. In Stattgebung der Revision waren die Urteile der Vorinstanzen entsprechend abzuändern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und b ASGG. Der Prozeßerfolg des Klägers in erster Instanz und im Berufungsverfahren besteht darin, daß er gegenüber dem angefochtenen Bescheid (Stufe 4) ein höheres Pflegegeld zugesprochen erhält und insoweit auch die Berufung der Beklagten abwehrte. Im Revisionsverfahren hingegen blieb der Kläger erfolglos. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht dargetan und sind auch nach der Aktenlage nicht ersichtlich.
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