OGH 10ObS2324/96d

OGH10ObS2324/96d13.12.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag.Erich Deutsch und Dr.Peter Wolf (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Georg F*****, Landwirt, ***** vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Gegerstraße 1, vertreten durch Dr.Herbert Macher, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23.Mai 1996, GZ 12 Rs 35/96w-19, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Ried im Innkreis als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 28.Dezember 1995, GZ 14 Cgs 144/95a-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie lauten:

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei vom 1.Juli bis 20. September 1995 Pflegegeld der Stufe 7 (monatlich S 21.074,--) binnen 14 Tagen zu zahlen. Das Mehrbegehren auf Zahlung eines Pflegegeldes über den 20.September 1995 hinaus wird abgewiesen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 12.8.1907 geborene Theresia F***** war seit Jahren pflegebedürftig. Seit einem apoplektischen Insult im Mai 1994 war sie rechtsseitig gelähmt. Dadurch und durch die Inaktivität mit der Ausbildung von Kontrakturen an beiden Hüft- und Kniegelenken und dem rechten Ellbogengelenk waren beide Beine und der rechte Arm praktisch unbeweglich. Mit dem linken Arm waren noch langsame Bewegungen möglich. Eine Funktion mit diesem Arm war aber ebensowenig gegeben wie zielgerichtete Bewegungen. Die Genannte konnte nicht mehr auf den Leibstuhl gesetzt werden; Nahrung mußte ihr im Bett gereicht werden. Eine Kommunikation war insofern noch möglich, als sie auf gewisse zielgerichtete Fragen mit einem leisen Ja oder Nein antworten konnte. Die ständige Anwesenheit einer Pflegeperson im Haus war zwar erforderlich, allerdings war es nicht notwendig, daß diese Pflegeperson ständig bei der Kranken bleiben mußte. Die Pflege konnte geordnet und koordiniert durchgeführt werden. Tagsüber mußte die Genannte alle zwei Stunden umgelagert werden, nachts konnte sie nach Gabe eines Beruhigungsmittels durchschlafen. Sie litt allerdings an Inkontinenz und mußte Windeln tragen. Unbestritten ist, daß der durch ihren Zustand verursachte Pflegebedarf mehr als 180 Stunden monatlich erforderte. Sie bezog ab 1.5.1994 ein Pflegegeld der Stufe 5 und ab 1.10.1994 ein solches der Stufe 6.

Mit Bescheid vom 4.7.1995 lehnte die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Bauern den Antrag vom 31.5.1995 auf Erhöhung des Pflegegeldes der Stufe 6 auf ein solches der Stufe 7 ab.

Gegen diesen Bescheid richtet sich das auf die Gewährung von Pflegegeld der Stufe 7 gerichtete Klagebegehren. Die Beklagte beantragte die Abweisung dieses Begehrens.

Theresia F***** ist am 20.9.1995 verstorben. Das Verfahren wurde gemäß § 19 BPGG mit ihrem Sohn, dem nunmehrigen Kläger, mit dem sie bis zu ihrem Ableben im gemeinsamen Haushalt lebte, fortgesetzt.

Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger Pflegegeld der Stufe 7 im gesetzlichen Ausmaß ab 1.7.1995 zu zahlen. Die Verstorbene sei praktisch bewegungsunfähig im Sinne der für die Pflegegeldstufe 7 im § 4 Abs 2 BPGG aufgestellten Voraussetzung gewesen. Da auch das weitere Erfordernis für diese Stufe, nämlich der monatliche Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden gegeben sei, stehe die beantragte Pflegegeldstufe ab dem Zeitpunkt der Antragstellung zu.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Zwar sei richtig, daß nach den Vorstellungen des Gesetzgebers eine höhere Pflegegeldstufe auch einen höheren Grad der Pflegebedürftigkeit voraussetze, doch bedeute dies nicht, daß sämtliche Merkmale einer niedrigeren Stufe erfüllt sein und durch ein zusätzliches Element übertroffen werden müßten. Der Gesetzgeber habe die Bewertung der Pflegebedürftigkeit neben dem zeitlichen Aufwand noch durch bestimmte für die einzelnen Stufen spezifische Merkmale charakterisiert, wie eben das Erfordernis der ständigen Beaufsichtigung für Stufe 6 und die Bewegungsunfähigkeit für Stufe 7. Damit gebe der Gesetzgeber zu erkennen, daß er die völlige oder praktische Bewegungsunfähigkeit als höchsten Grad der Pflegebedürftigkeit einstufe, also nicht mehr auf das Element der dauernden Beaufsichtigung abstelle, sondern die umfassende Einschränkung der Beweglichkeit als Maßstab für den zu erwartenden Pflegeaufwand heranziehe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung. Sie beantragt sinngemäß die Abänderung dahin, daß das Begehren auf Erhöhung des rechtskräftig gewährten Pflegegeldes der Stufe 6 auf ein solches der Stufe 7 abgewiesen werde.

Der Kläger beteiligte sich am Revisionsverfahren nicht.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist teilweise berechtigt.

Die Beklagte steht auf dem Standpunkt, daß bei der Verstorbenen nicht einmal der zuerkannte Pflegebedarf der Stufe 6 gegeben gewesen sei, da sie keiner dauernden Beaufsichtigung bedurft hätte. Selbst die Notwendigkeit einer dauernden Beaufsichtigung hätte aber lediglich den Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 6 gerechtfertigt. Aus dem systematischen Aufbau der Pflegegeldstufenregelung ergebe sich eindeutig, daß der Pflegeaufwand der Stufe 7 den Aufwand für die Stufe 6 noch übertreffen müsse. Bei der Verstorbenen sei eine koordinierte, zeitlich einteilbare Pflege möglich gewesen, weil sie in den Nachtstunden überhaupt allein gelassen werden konnte und weil auch nicht die Notwendigkeit der Heranziehung einer zweiten Pflegeperson bestanden habe. Daher seien die Voraussetzungen für Stufe 7 nicht erfüllt. Das Berufungsgericht habe die Grundsatzfrage der hierarchischen Abstufung der einzelnen Pflegestufen in unrichtiger Weise verneint.

Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 4 besteht für Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt. Für das Ausmaß des Pflegegeldes ab Stufe 5 sind nach § 4 Abs 2 BPGG zusätzlich zu einem zeitlichen Mindestaufwand von 180 Stunden auch andere Kriterien maßgebend. Diese sollen offenbar das Erfordernis besonders qualifizierter Pflege indizieren, sind aber zum Teil nur recht vage umschrieben. So wird für die Stufe 5 ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand verlangt. Dieser liegt nach § 6 EinstV vor, wenn die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson, nicht jedoch deren dauernde Anwesenheit erforderlich ist. Dauernde Bereitschaft wird wohl dahingehend zu verstehen sein, daß der Pflegebedürftige jederzeit Kontakt mit der Pflegeperson aufnehmen und diese in angemessener Zeit die erforderliche Betreuung und Hilfe leisten kann oder die Pflegeperson von sich aus in angemessenen Zeitabständen Kontakt mit dem Pflegebedürftigen aufnimmt. Die Einordnung in Stufe 6 sollte nach der Regierungsvorlage zum BPGG (776 BlgNR 18.GP) nur bei Vorliegen des Erfordernisses der dauernden Beaufsichtigung zulässig sein. Durch die im Ausschuß für Arbeit- und Soziales vorgenommene Erweiterung der Anspruchsvoraussetzungen für die Stufe 6 durch die Wortfolge "oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand" soll auch körperlich behinderten Menschen der Zugang zu dieser Stufe ermöglicht werden (908 BlgNR 18. GP, 4). Unter dauernder Beaufsichtigung wird die Notwendigkeit einer weitgehenden Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich verstanden werden können. Ebenfalls im Ausschuß wurde die Anspruchsvoraussetzung "vollständige Bewegungsunfähigkeit" für die Stufe 7 durch den weiteren Begriff der "praktischen Bewegungsunfähigkeit" ersetzt. Dies setzt einen Zustand voraus, der in den funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleich kommt. Pflegegeld der Stufe 7 kommt schließlich auch bei einem der praktischen Bewegungsunfähigkeit gleichzuachtenden Zustand in Betracht. Davon wird man sprechen können, wenn der Pflegebedürftige an sich noch über eine gewisse Mobilität verfügt, diese aber insbesondere aufgrund des Angewiesenseins auf bestimmte lebensnotwendige Hilfsmittel nicht nützen kann (vgl dazu Gruber/Pallinger, BPGG Rz 55 bis 58 zu § 4; Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 198 f; derselbe, Bundespflegegeldgesetz 97 ff jeweils mit Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). Ohne daß hier dazu Stellung genommen werden muß, ob die vom Hauptverband nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG erlassenen Richtlinien für die einheitliche Anwendung des Bundespflegegeldgesetzes, SozSi 1994, 686 - Amtliche Verlautbarung Nr. 120/1994, für die Gerichte bindend sind oder nicht, sei doch auf § 17 Abs 2 Z 4 dieser Richtlinien verwiesen, wonach ein Pflegegeld in der Höhe der Stufe 7 Personen gebührt, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn a) praktische Bewegungsunfähigkeit (zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung sind nicht mehr möglich) oder b) ein gleichzuachtender Zustand (dauernder Einsatz technischer Hilfsmittel zur Aufrechterhaltung lebensnotwendiger Funktionen ist erforderlich) vorliegt.

Aus der dargestellten Rechtslage ergibt sich, daß die Auffassung der Beklagten, ein Pflegegeld der Stufe 7 erfordere außer der praktischen Bewegungsunfähigkeit oder eines gleichzuachtenden Zustandes daneben auch noch eine dauernde Beaufsichtigung oder einen gleichzuachtenden Pflegeaufwand, aus dem Gesetz nicht abzuleiten ist. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, setzt zwar nach den Vorstellungen des Gesetzgebers eine höhere Pflegegeldstufe auch einen höheren Grad der Pflegebedürftigkeit voraus, doch hat der Gesetzgeber durch die Formulierung der Erfordernisse im § 4 Abs 2 BPGG zu erkennen gegeben, daß er die völlige oder praktische Bewegungsunfähigkeit (bzw einen gleichzuachtenden Zustand) als höchsten Grad der Pflegebedürftigkeit einstuft, also hier nicht auf das Element der dauernden Beaufsichtigung abstellt, sondern die umfassende Einschränkung der Beweglichkeit als Maßstab für den zu erwartenden Pflegeaufwand heranzieht.

Im vorliegenden Fall war die Pflegebedürftige praktisch bewegungsunfähig, weil ihr zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung in keiner Weise mehr möglich waren. Sie erfüllte damit die Voraussetzungen für ein Pflegegeld der Stufe 7, ohne daß es darauf ankommt, ob dauernde Beaufsichtigung oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand erforderlich war. Zu verweisen ist aber doch auf die Feststellungen, wonach die ständige Anwesenheit einer Pflegeperson im Haus erforderlich war, wenngleich diese nicht ständig bei der Kranken verweilen mußte.

Der Revision kommt im Ergebnis aber insoweit teilweise Berechtigung zu, als die Vorinstanzen außer acht gelassen haben, daß der Anspruch auf Pflegegeld mit dem Todestag des Anspruchsberechtigten erlischt und in diesem Kalendermonat nur der verhältnismäßige Teil des Pflegegeldes gebührt (§ 9 Abs 1 letzter Satz BPGG in der Fassung Artikel 21 Z 3 des Strukturanpassungsgesetzes 1996, BGBl Nr. 201). Diese Regelung ist mit 1.5.1996 in Kraft getreten (§ 48 BPGG idgF) und daher mangels einer Ausnahmebestimmung (wie § 47 BPGG idgF) bereits auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Der Anspruch auf Pflegegeld endete daher mit dem Todestag der Anspruchsberechtigten, also mit dem 20.9.1995. In diesem Sinne waren die Urteile der Vorinstanzen abzuändern.

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