OGH 10ObS101/97v

OGH10ObS101/97v15.4.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Carl Hennrich und Dr.Peter Wolf (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Richard M*****, Pensionist, ***** vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Ghegastraße 1, vertreten durch Dr.Herbert Macher, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26.November 1996, GZ 10 Rs 192/96w-13, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 9.Februar 1996, GZ 8 Cgs 286/95i-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie lauten:

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger ab dem 1. Juli 1995 das Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 von monatlich S 11.591,-- zu zahlen.

Das Mehrbegehren auf Zahlung eines höheren Pflegegeldes, nämlich eines solchen der Stufe 6, wird abgewiesen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 5.1.1995 gewährte die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Bauern dem Kläger ab 1.1.1995 ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 3. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 11.9.1995 lehnte sie den Antrag des Klägers vom 27.6.1995 auf Erhöhung dieses Pflegegeldes ab.

Mit seiner fristgerechten Klage begehrte der Kläger zunächst die Zahlung eines Pflegegeldes in Höhe der Stufe 4 ab Antragstellung; im Laufe des Verfahrens dehnte er dieses Begehren auf Leistung eines Pflegegeldes der Stufe 6 ab dem 1.7.1995 aus.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger ab dem 1.7.1995 das Pflegegeld der Stufe 6 "im gesetzlichen Ausmaß" zu zahlen und eine vorläufige Leistung von monatlich von S 15.806,-- zu erbringen. Dabei ging es vom folgenden Sachverhalt aus:

Der am 8.8.1931 geborene Kläger lebt zusammen mit seiner Ehefrau in einem Wirtschaftshof; über einen Innenhof und mehrere Stufen gelangt man von einem Vorraum in ein Wohn- und Schlafzimmer, das mit Tisch, Kästen, Sitzgelegenheit und Fernseher ausgestattet ist. Angrenzend befindet sich eine Küche mit E-Herd und Zusatzofen, Abwasch, Sitzgegelenheit und üblicher Kücheneinrichtung. Das WC entspricht der Norm, kann aber vom Kläger wegen eines Niveauunterschiedes nicht benützt werden. Kühlschrank und Tiefkühltruhe sind vorhanden. Das umgebaute Badezimmer ist mit einer Dusche und mit einem Handwaschbecken ausgestattet, kann aber vom Kläger wegen des Niveauunterschiedes nicht ohne Hilfe erreicht werden. Eine Waschmaschine ist vorhanden. Als Hilfsmittel stehen dem Kläger ein Spitalsbett mit "Galgen", ein Rollstuhl, ein Leibstuhl und ein reziprokes Gehgestell zur Verfügung.

Beim Kläger besteht ein Zustand nach Total-Endoprothese links, nach Unterschenkelamputation rechts sowie Oberschenkelamputation links und Pankreatitis. Weiters leidet er an einer Schulterluxation links mit eingeschränkter Beweglichkeit und einer Lebervergrößerung. Das Stehen und Aufstehen ist ihm mit Hilfe möglich, das Sitzen ist mit einer Lehne möglich, ein Gehen oder Stiegensteigen ist jedoch nicht möglich. Die Fähigkeit, Sachen zu tragen, besteht nicht. Die angeführten Einschränkungen beruhen auf den beidseitigen Amputationen, wobei derzeit links eine Prothesenversorgung unmöglich ist und die Prothese rechts nicht mehr paßt. Der Kläger ist nicht transferfähig. Dazu kommen eine eingeschränkte Beweglichkeit der linken Schulter nach Luxation, ein beidseits auf 5 kp eingeschränkter Faustschluß, fehlende Einsicht und fehlender Antrieb. Der Zustand besteht seit dem Zeitpunkt der Antragstellung und wird voraussichtlich mindestens 6 Monate andauern, ist aber auf längere Sicht durch Prothesenversorgung besserungsfähig. Der Kläger benötigt zur Fortbewegung überwiegend einen Rollstuhl und braucht Hilfe bei der täglichen Körperpflege, bei der Zubereitung (nicht jedoch bei der Einnahme) von Mahlzeiten, bei der Verrichtung der Notdurft, beim An- und Auskleiden, nicht jedoch bei der Einnahme von Medikamenten, sowie auch Mobilitätshilfe im engeren Sinn.

In rechtlicher Hinsicht hielt das Erstgericht grundsätzlich eine diagnosebezogene Einstufung in die Stufe 5 nach § 8 Z 3 EinstV für angezeigt, weil der Kläger zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sei und einen deutlichen Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten aufweise. Infolge seiner Immobilität sei aber eine intensive, zeitlich unkoordinierte Pflegeleistung zu erbringen, weshalb zu dem Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich überdies die Notwendigkeit einer dauernden Beaufsichtigung oder eines gleichzuachtenden Pflegeaufwandes trete. Demnach gebühre ihm ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 6.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Der gerichtsärztliche Sachverständige habe selbst angegeben, daß infolge der Immobilität des Klägers eine intensive zeitlich unkoordinierte Pflegeleistung zu erbringen sei, weshalb dauernde Beaufsichtigung oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand nötig sei. Damit sei die Einstufung der Klägers in die Stufe 6 nach § 4 Abs 2 BPGG zutreffend.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten insoweit, als dem Kläger ein höheres Pflegegeld als ein solches der Stufe 5 zuerkannt wurde. Es wird beantragt, die Urteile der Vorinstanzen entsprechend abzuändern und das Mehrbegehren abzuweisen.

Der Kläger hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Die Revision ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Unbestritten ist, daß der Kläger zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen ist und überdies einen deutlichen Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten aufweist; insoweit läßt die Beklagte in ihrer Revision unbekämpft, daß der Kläger nach § 8 Z 3 EinstV einen Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und einen außergewöhnlichen Pflegeaufwand hat. Dies rechtfertigt nach § 4 Abs 2 BPGG jedenfalls ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 5. Die Revisionswerberin wendet sich ausschließlich dagegen, daß zu diesem Pflegeaufwand noch das Erfordernis einer dauernden Beaufsichtigung oder eines gleichzuachtenden Pflegeaufwandes hinzukämen. Sie weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß eine Stuhl- oder Harninkontinenz bzw eine Blasen- oder Mastdarmlähmung beim altersmäßig orientierten Kläger nicht vorliege und daß es ihm auch möglich sei, Mahlzeiten (wie auch Medikamente) selbständig zu sich zu nehmen. Es sei daher ausreichend, wenn der Kläger die Möglichkeit habe, jederzeit Kontakt mit einer Pflegeperson aufzunehmen und diese in angemessener Zeit die erforderliche Betreuung und Hilfe leisten könne bzw daß die Pflegeperson von sich aus in angemessenen Zeitabständen Kontakt mit ihm aufnehme. Fehlende Einsicht und fehlender Antrieb werde ihn nicht daran hindern, elementare Bedürfnisse zu befriedigen, wenn es etwa darum gehe, ein in Reichweite bereitgestelltes Getränk zu sich zu nehmen oder Kontakt mit der Pflegeperson aufzunehmen, wenn diese ihm etwa bei der Verrichtung der Notdurft helfen solle.

Diesen Ausführungen ist im wesentlichen beizupflichten. Für das Ausmaß des Pflegegeldes ab Stufe 5 sind nach § 4 Abs 2 BPGG zusätzlich zu einem zeitlichen Mindestaufwand von 180 Stunden auch noch andere Kriterien maßgebend. Diese sollen offenbar das Erfordernis besonders qualifizierter Pflege indizieren, sind allerdings zum Teil nur recht vage umschrieben. So wird für die Stufe 5 ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand verlangt. Dieser liegt nach § 6 EinstV vor, wenn die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson, nicht jedoch deren dauernde Anwesenheit erforderlich ist. Dauernde Bereitschaft ist dahingehend zu verstehen, daß der Pflegebedürftige jederzeit Kontakt mit der Pflegeperson aufnehmen und diese in angemessener Zeit die erforderliche Betreuung und Hilfe leisten kann oder die Pflegeperson von sich aus in angemessenen Zeitabständen Kontakt mit dem Pflegebedürftigen aufnimmt (Gruber/Pallinger, BPGG § 4 Rz 56; 10 ObS 2324/96d, 10 ObS 2468/96f ua). Für die Gewährung eines Pflegegeldes in Höhe der Stufe 6 ist - wiederum zusätzlich zum 180 Stunden im Monatsdurchschnitt übersteigenden zeitlichen Aufwand - eine dauernde Beaufsichtigung des Pflegebedürftigen oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand erforderlich. Die Einordnung in Stufe 6 sollte nach der Regierungsvorlage zum BPGG (776 BlgNR 18. GP) nur bei Vorliegen des Erfordernisses der dauernden Beaufsichtigung zulässig sein. Dieser Tatbestand betrifft in erster Linie Pflegebedürftige mit geistiger oder psychischer Behinderung. Durch die im Ausschuß für Arbeit und Soziales vorgenommene Erweiterung der Anspruchsvoraussetzungen für die Stufe 6 durch die Wortfolge "oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand" soll auch körperlich behinderten Menschen der Zugang zu dieser Stufe ermöglicht werden (908 BlgNR 18. GP, 4). Unter dauernder Beaufsichtigung ist die Notwendigkeit einer weitgehend permanenten Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich bzw in unmittelbarer Nähe des Pflegebedürftigen zu verstehen (Gruber/Pallinger aaO Rz 57; ständige Rechtsprechung des Senates zB 10 ObS 2324/96d; 10 ObS 2337/96s; 10 ObS 2468/96f). Die dauernde Beaufsichtigung eines Pflegebedürftigen wird vor allem dann erforderlich sein, wenn im Einzelfall besonders häufig und/oder besonders dringend (zB wegen sonstiger Selbstgefährdung) ein Bedarf nach fremder Hilfe auftritt; dieser Gesichtspunkt wird auch den Ausschlag für die Einstufung von körperlich Behinderten in Stufe 6 geben müssen, weil dieser Personengruppe ganz offenbar ebenfalls ein Zugang zur zweithöchsten Pflegegeldstufe ermöglicht werden soll (Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 198; derselbe, BPGG 98 unter Hinweis auf den oben zitierten Ausschußbericht). Nach den Richtlinien des Hauptverbandes für die einheitliche Anwendung des BPGG nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG, SoSi 1994, 686 - Amtl Verlautbarung 120/1994, die allerdings nach der wiederholt dargelegten Auffassung des Senates für Gerichte nicht bindend sind (10 ObS 2349/96f ua), wird ein dem Erfordernis dauernder Beaufsichtigung gleichzuachtender Zustand dann angenommen, wenn eine intensive, zeitlich unkoordinierbare Pflegeleistung beim immobilen oder mobilen Pflegebedürftigen zu erbringen ist (§ 17 Abs 2 Z 3 lit b dieser Richtlinien). Da sich diese Umschreibung der Erfordernisse für eine Einstufung in die Stufe 6 im wesentlichen mit der Auffassung des Obersten Gerichtshofes deckt, muß hier zu der Frage der Bindung der Richtlinien für die Gerichte nicht neuerlich Stellung genommen werden (vgl 10 ObS 2468/96 f).

Die Feststellungen bieten keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Zustand des Klägers eine dauernde Beaufsichtigung oder einen gleichzuachtenden Pflegeaufwand erfordert. Einerseits ist nicht ersichtlich, daß die weitgehend permanente Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich oder in der unmittelbaren Nähe des Klägers erforderlich ist, andererseits muß auch noch nicht eine intensive, zeitlich unkoordinierbare Pflegeleistung erbracht werden. Die diese Fragen bejahenden Ausführungen des gerichtsärztlichen Sachverständigen stellen eine diesem nicht zustehende vorweggenommene rechtliche Beurteilung dar und sind nicht maßgebend. Entscheidend ist vielmehr, daß der Kläger trotz des deutlichen Ausfalls von Funktionen der oberen Extremitäten doch noch beide Arme teilweise gebrauchen kann und ihm nach den Feststellungen beidseits ein auf 5 kp eingeschränkter Faustschluß möglich ist. Damit ist er auch noch in der Lage, selbst Mahlzeiten (aber auch Medikamente) einzunehmen, aber auch etwa einen elektrischen Rollstuhl zu bedienen oder telefonisch mit einer Pflegeperson in Kontakt zu treten und diese bei Bedarf herbeizurufen. Daß die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson erforderlich ist, wird dabei nicht in Abrede gestellt, doch begründet dieses Erfordernis den außergewöhnlichen Pflegeaufwand nach § 6 EinstV, der ja für eine Einstufung in die Stufe 5 erforderlich ist. Die dauernde oder weitgehende Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich oder in unmittelbarer Nähe des Klägers ist nach den Feststellungen trotz fehlender Einsicht und fehlenden Antriebs des Klägers nicht erforderlich. Die Pflegepersonen können einerseits zu fix vereinbarten Zeiten, andererseits auch auf Abruf zum Kläger kommen, was zwar eine Rufbereitschaft voraussetzt, die aber gerade nach der Definition des § 6 EinstV Voraussetzung ist, um überhaupt einen außergewöhnlichen Pflegeaufwand im Sinne des § 4 Abs 2 Stufe 5 BPGG zu rechtfertigen (so auch 10 ObS 2468/96f). Für das Erfordernis einer intensiven, zeitlich unkoordinierbaren Pflegeleistung bieten die Feststellungen ebenfalls keine Grundlage, wobei nochmals darauf Bedacht zu nehmen ist, daß der Kläger keine Stuhl- oder Harninkontinenz bzw Blasen- oder Mastdarmlähmung aufweist und die oberen Extremitäten, wenn auch eingeschränkt, benutzen kann.

Damit erfüllt aber der Kläger nicht die Voraussetzungen für ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 6. In Stattgebung der Revision waren die Urteile der Vorinstanzen entsprechend abzuändern.

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