OGH 10ObS2468/96f

OGH10ObS2468/96f28.1.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr. Steinbauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Walter Benesch (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ing.Helmut J*****, Pensionist, *****, vertreten durch Dr.Gerhard Hiebler, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17.Oktober 1996, GZ 8 Rs 250/96p-14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 9.Mai 1996, GZ 21 Cgs 332/95m-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Bei dem am 22.7.1934 geborenen Kläger bestehen die Folgen einer Kinderlähmung, die er im 21. Lebensjahr durchmachte. Es bestehen spastische Lähmungen beider Arme und beider Beine. Der Kläger kann lediglich beide Hände gebrauchen, nicht jedoch beide Unterarme. Im Bereich der Füße ist nur eine Beweglichkeit der Zehengelenke rechts verblieben. Weiters liegen hochgradige Abnützungserscheinungen im Bereich der Wirbelsäule vor. Es besteht eine Harnblasenentleerungsstörung, wegen der der Kläger zweimal täglich katheterisiert werden muß.

Der Kläger bewohnt eine 130 m**2 große Wohnung im Erdgeschoß eines Einfamilienhauses am Stadtrand. Er ist alleinstehend. Hilfspersonen kommen regelmäßig während des Tages und auch während der Nachtstunden, einerseits zu fixen Zeiten, andererseits auch auf Abruf. Das Haus wird elektrisch beheizt und ist behindertengerecht eingerichtet. Der Kläger kann mit dem Rollstuhl den Weg vom Schlafzimmer in das Badezimmer und in das Wohnzimmer ohne Behinderung zurücklegen. Im Schlafzimmer und im Badezimmer ist ein Bettenlift installiert, mit dessen Hilfe er in das Bett und aus dem Bett heraus und im Badezimmer in die Badewanne und aus dieser herausgehoben werden kann. Im Vorzimmer des Hauses befindet sich ein weiterer Bettenlift, mit dessen Hilfe der Kläger in einen elektrisch zu betreibenden Rollstuhl überhoben werden kann. Auch die Küche befindet sich in einer Ebene mit den anderen Räumen und kann mit dem Rollstuhl erreicht werden. Der Kläger ist in der Lage, sich insbesondere mit einem elektrisch betriebenen Rollstuhl innerhalb seiner Wohnung fortzubewegen und kann somit seinen Lebensraum mit Hilfe dieses Rollstuhles wesentlich erweitern. Der Rollstuhl ist zu seiner Fortbewegung überwiegend nötig. Ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten ist gegeben.

Der Kläger braucht Betreuung bzw Hilfe bei der täglichen Körperpflege, dem Zubereiten und dem Einnehmen von Mahlzeiten, bei der Verrichtung der Notdurft, beim An- und Auskleiden und bei der Verwendung des Katheters. Eine Harninkontinenz besteht nur sehr selten. Der Kläger braucht auch Hilfe bei der Einnahme von Medikamenten, bei der Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, der Pflege der Leib- und Bettwäsche und schließlich Mobilitätshilfe im weiteren Sinn. Erforderlich ist die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson, nicht jedoch deren dauernde Anwesenheit. Seit 1.7.1993 bezieht der Kläger von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten Pflegegeld in Höhe der Stufe 5.

Mit Bescheid vom 28.9.1995 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Gewährung eines höheren Pflegegeldes (also eines solchen der Stufe 6 oder 7) ab.

Mit der dagegen erhobenen Klage begehrt der Kläger den Zuspruch eines höheren Pflegegeldes im wesentlichen mit der Begründung, bei ihm liege praktische Bewegungsunfähigkeit vor, zumindest sei dauernde Beaufsichtigung oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand erforderlich.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung dieses Klagebegehrens.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Da der Kläger zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen sei und ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten vorliege, sei ohne weitere Prüfung nach § 4 BPGG ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand anzunehmen (§ 8 Z 3 der Einstufungsverordnung zum BPGG), woraus nach § 4 Abs 2 BPGG Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 hervorgehe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Im Fall des Klägers sei eine dauernde Beaufsichtigung oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand (Stufe 6) nicht erforderlich, weil die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson nicht erforderlich sei. Es liege aber auch keine praktische Bewegungsunfähigkeit oder ein gleichzuachtender Zustand (Stufe 7) vor, weil der Kläger noch beide Hände bewegen und sich dadurch mit dem Rollstuhl innerhalb seiner Wohnung fortbewegen könne.

Rechtliche Beurteilung

Die vom Kläger wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Revision ist nicht berechtigt.

Unbestritten ist zunächst, daß der Kläger zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen ist und einen deutlichen Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten aufweist; nach § 8 der Einstufungsverordnung zum BPGG (EinstV) ist daher ohne weitere Prüfung nach § 4 BPGG mindestens ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand anzunehmen. Nach § 4 Abs 2 BPGG ergibt sich daraus ein Anspruch des Klägers auf Pflegegeld mindestens in Höhe der Stufe 5 ("Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand erforderlich ist"). Während das BPGG und die EinstV grundsätzlich vom Konzept der funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegebedarfes, also von der individuell erforderlichen Betreuung und Hilfe ausgehen, können nach § 4 Abs 3 Z 4 BPGG für bestimmte Behindertengruppen mit weitgehend gleichartigem Pflegebedarf - insoweit also diagnosebezogen - Mindesteinstufungen im Verordnungsweg vorgenommen werden. Ungeachtet dieser abstrakten Pauschalierung hat aber auch bei diesen Pflegebedürftigen die individuelle Situation Berücksichtigung zu finden; dies kann im Einzelfall zur Gewährung einer höheren Leistung führen (Pfeil, Pflegevorsorge 199; ders, BPGG 99; Gruber/Pallinger BPGG § 4 Rz 60). Die Richtigkeit dieser Auffassung ergibt sich im vorliegenden Fall daraus, daß § 8 EinstV ausdrücklich von einem Mindestpflegebedarf spricht, der ohne weitere Prüfung anzunehmen ist.

Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 4 besteht für Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt. Für das Ausmaß des Pflegegeldes ab Stufe 5 sind nach § 4 Abs 2 BPGG zusätzlich zu einem zeitlichen Mindestaufwand von 180 Stunden auch andere Kriterien maßgebend. Diese sollen offenbar das Erfordernis besonders qualifizierter Pflege indizieren, sind aber zum Teil nur recht vage umschrieben. So wird für die Stufe 5 ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand verlangt. Dieser liegt nach § 6 EinstV vor, wenn die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson, nicht jedoch deren dauernde Anwesenheit erforderlich ist. Dauernde Bereitschaft wird wohl dahingehend zu verstehen sein, daß der Pflegebedürftige jederzeit Kontakt mit der Pflegeperson aufnehmen und diese in angemessener Zeit die erforderliche Betreuung und Hilfe leisten kann oder die Pflegeperson von sich aus in angemessenen Zeitabständen Kontakt mit Pflegebedürftigen aufnimmt. Die Einordnung in Stufe 6 sollte nach der Regierungsvorlage zum BPGG (776 BlgNR 18. GP) nur bei Vorliegen des Erfordernisses der dauernden Beaufsichtigung zulässig sein. Durch die im Ausschuß für Arbeit und Soziales vorgenommene Erweiterung der Anspruchsvoraussetzungen für die Stufe 6 durch die Wortfolge "oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand" soll auch körperlich behinderten Menschen der Zugang zu dieser Stufe ermöglicht werden (908 BlgNR 18. GP, 4). Unter dauernder Beaufsichtigung wird die Notwendigkeit einer weitgehenden Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich verstanden werden können. Ebenfalls im Ausschuß wurde die Anspruchsvoraussetzung "vollständige Bewegungsunfähigkeit" für die Stufe 7 durch den weiteren Begriff der "praktischen Bewegungsunfähigkeit" ersetzt. Diese setzt einen Zustand voraus, der in den funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkommt. Pflegegeld der Stufe 7 kommt schließlich auch bei einem der praktischen Bewegungsunfähigkeit gleichzuachtenden Zustand in Betracht. Davon wird man sprechen können, wenn der Pflegebedürftige an sich noch über eine gewisse Mobilität verfügt, diese aber insbesondere aufgrund des Angewiesenseins auf bestimmte lebensnotwendige Hilfsmittel (z.B. ein Beatmungsgerät) nicht nützen kann (vgl dazu Gruber/Pallinger, BPGG Rz 55 bis 58 zu § 4; Pfeil, Pflegevorsorge 198 f; ders, BPGG 97 ff, jeweils mit Hinweis auf die Gesetzesmaterialien; 10 ObS 2337/96s, 10 ObS 2324/96d; 10 ObS 2434/96f). Nach § 17 Abs 2 Z 4 der Richtlinien des Hauptverbandes für die einheitliche Anwendung des Bundespflegegeldgesetzes (SoSi 1994, 686 - Amtliche Verlautbarung Nr 120/1994) gebührt ein Pflegegeld in der Höhe der Stufe 7 Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn a) praktische Bewegungsunfähigkeit (zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung sind nicht mehr möglich) oder b) ein gleichzuachtender Zustand (dauernder Einsatz technischer Hilfsmittel zur Aufrechterhaltung lebensnotwendiger Funktionen ist erforderlich) vorliegt. Da sich die Umschreibung der Erfordernisse für ein Pflegegeld der Stufe 7 in dieser Richtlinienbestimmung im wesentlichen mit der Auslegung des Obersten Gerichtshofes deckt, muß hier nicht dazu Stellung genommen werden, ob diese Richtlinien für die Gerichte bindend sind oder nicht (ebenso 10 ObS 2337/96s, 10 ObS 2324/96d; 10 ObS 2434/96f). Es sei hier allerdings nicht verschwiegen, daß der Senat an anderer Stelle (10 ObS 2349/96f, 10 ObS 2396/96t, 10 ObS 2424/96k) eine Bindung der Gerichte an die Richtlinien des Hauptverbandes mit ausführlicher Begründung verneint hat.

Aus der dargestellten Rechtslage ergibt sich, daß beim Kläger praktische Bewegungsunfähigkeit oder ein gleichzuachtender Zustand im Sinne des § 4 Abs 2 Stufe 7 BPGG nicht vorliegt, da ihm zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung infolge Beweglichkeit beider Hände noch möglich sind und er sich mit einem (elektrischen) Rollstuhl in seiner Wohnung bewegen kann. Der Zustand des Klägers erfordert aber auch keine dauernde Beaufsichtigung oder einen gleichzuachtenden Pflegeaufwand im Sinne des § 4 Abs 2 Stufe 6 BPGG. Die dauernde oder weitgehende Anwesenheit einer Pflegeperson in seinem Wohnbereich ist nach den Feststellungen nicht erforderlich. Die Pflegepersonen kommen einerseits zu fix vereinbarten Zeiten, andererseits auch auf Abruf, was zwar eine gewisse Rufbereitschaft voraussetzt, die aber gerade nach der Definition des § 6 EinstV Voraussetzung ist, um überhaupt einen außergewöhnlichen Pflegeaufwand im Sinne des § 4 Abs 2 Stufe 5 BPGG zu rechtfertigen. Nicht zu übersehen ist, daß der Kläger mit seiner seit dem 21. Lebensjahr bestehenden Behinderung jahrelang berufstätig war. Wenngleich die Behinderung mit zunehmendem Alter die Mobilität erschwert haben mag, ist aber jedenfalls ein Pflegeaufwand, der über die erforderliche Bereitschaft einer Pflegeperson hinausgeht (Stufe 5), nicht gegeben.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte