OGH 10ObS2396/96t

OGH10ObS2396/96t13.12.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Peter Wolf (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Leopold Smrcka (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Irmgard K*****, Pensionistin, ***** vertreten durch Dr.Johannes Grund und Dr.Wolf D. Polte, Rechtsanwälte in Linz, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr.Anton Paul Schaffer, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 14.August 1996, GZ 11 Rs 156/96g-17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 10.April 1996, GZ 19 Cgs 175/95v-13, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin die mit S 4.058,88 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 676,48 USt) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 30.8.1914 geborene Klägerin leidet an hochgradiger parkinsonscher Krankheit mit fehlender Gesichtsmimik, Muskelspastizität an beiden oberen und unteren Gliedmaßen verbunden mit Altersschwäche, hochgradige Osteoporose des gesamten Skelettsystems, Alterssichtigkeit bei grauem Star beidseits, Zustand nach Bandscheibenoperation, Schenkelhalsfraktur und Schienbeinbruch, Senk- und Spreizfußbildung, Blasen- und Scheidensenkung mit höhergradigen Harnverhaltungsstörungen sowie einer Begleitdepression, aber auch Altersdepression. Sie ist überwiegend auf den Rollstuhl angewiesen, der aber von einer zweiten Person bewegt werden muß. Aus geistigen Gründen wäre sie nicht in der Lage, einen elektrischen Rollstuhl in Betrieb zu nehmen und damit zu fahren. Die Kraft ihrer Arme, die ebenfalls atrophisch sind, reicht zum Essen und zur Körperpflege aus, nicht aber um sich selbst in einen Rollstuhl zu setzen oder aus einem Rollstuhl erheben zu können. Die Klägerin braucht ständig fremde Hilfe für das Herbeischaffen von Lebensmitteln und Medikamenten, Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, Pflege der Leib- und Bettwäsche, Mobilitätshilfe im weiteren Sinn, Mobilitätshilfe im engeren Sinn, auch zum Einschalten eines Heizkörpers einer Zentralheizung, tägliche Körperpflege, Zubereitung von Mahlzeiten, Verrichtung der Notdurft sowie An- und Auskleiden.

Aufgrund einer Mitteilung der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten bezieht die Klägerin seit 1.7.1993 eine Pflegegeld der Stufe 3. Mit Bescheid vom 5.7.1995 wurde ihr Antrag vom 6.3.1995 auf Erhöhung des Pflegegeldes abgelehnt.

Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin ab 1.7.1995 Pflegegeld der Stufe 5 zu zahlen. Gemäß § 8 EinstV sei bei Personen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch des Rollstuhl angewiesen seien, ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand anzunehmen, wenn ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten gegeben sei. Die Klägerin sei überwiegend auf den Gebrauch des Rollstuhls angewiesen. Ein deutlicher Funktionsausfall der oberen Extremitäten sei durch die Atrophie der Arme gegeben. Der Klägerin gebühre daher das Pflegegeld der Stufe 5. Nicht zu folgen sei dem "Konsensuspapier" zur Vereinheitlichung der ärztlichen Begutachtung nach dem BPGG und den Richtlinien des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger für die einheitliche Anwendung des BPGG, wonach die Einstufung "auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen" nur dann erfolgen könne, wenn der Rollstuhlbenutzer weitgehend selbständig in der Lage sei, seinen Bewegungsradius zu erweitern. Dies stehe im Widerspruch zu § 8 Z 3 EinstV, wonach gerade ein deutlicher Funktionsausfall der oberen Extremitäten zum höchsten Pflegegeldanspruch führe. Begründung dafür könne nur sein, daß ein derart Behinderter am wenigsten in der Lage sei, seinen Lebensablauf möglichst eigenständig zu bewerkstelligen; dies könne aber nicht dazu führen, ihm die Qualifizierung als Rollstuhlfahrer zu versagen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge und bestätigte das erstgerichtliche Urteil mit der Maßgabe, daß es das Pflegegeld mit S 11.591,-- monatlich bezifferte. Es pflichtete der Rechtsansicht der Beklagten bei, daß es sich bei den Richtlinien für die einheitliche Anwendung des BPGG um eine gehörig kundgemachte Rechtsverordnung handle, die gegebenenfalls auch von den Gerichten anzuwenden sei, soweit sie inhaltlich unmittelbar Rechte bzw Pflichten Versicherter betreffe. Gerade im Hinblick auf § 8 Z 3 EinstV ("deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten"), aber auch unter Berücksichtigung des Zweckes des Pflegegeldes könne es nicht ausschlaggebend sein, ob der Betreffende sich mit dem Rollstuhl weitgehend selbständig bewegen könne, sodaß § 22 Abs 2 der Richtlinien gesetzeskonform eng, etwa im Sinne von "kann insbesondere dann erfolgen" auszulegen sei (Pfeil, BPGG 100). Überdies sei nach dem letzten Satz des § 22 Abs 1 der Richtlinien für den Fall, daß die funktionell erhobene Pflegestufe die diagnosebezogene Pflegestufe nicht erreiche, jedenfalls die diagnosebezogene Stufe der Einstufung zugrundezulegen. Insgesamt sei § 22 der Richtlinien wohl dahin zu verstehen, daß eine funktionelle Begutachtung zur Feststellung des tatsächlichen Pflegebedarfes bei zusätzlich vorliegenden komplizierenden Faktoren gemäß § 22 Abs 1 jedenfalls zu erfolgen habe, während in den Absätzen 2 und 3 geregelt sei, wann mit einer bloß diagnosebezogenen Einstufung das Auslangen gefunden werden könne. In jedem Fall sei aber sichergestellt, daß der zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhls Angewiesene bezüglich des Pflegebedarfes nicht schlechter beurteilt werden darf als aufgrund der diagnosebezogenen Einstufung. Bei Personen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen seien, sei ohne weitere Prüfung nach § 4 BPGG jeweils mindestens der in den Z 1 bis 3 des § 8 EinstV anzunehmende Pflegebedarf zugrundezulegen, nach § 8 Z 3 ein solcher von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand, wenn ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten gegeben sei. In § 22 Abs 4 Z 3 der Richtlinien sei dieser deutliche Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten konkret dahin umschrieben, daß der selbständige Transfer in und aus dem Rollstuhl nicht mehr möglich sei. All dies treffe bei der Klägerin zu. Damit bestehe gemäß § 4 Abs 2 BPGG Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 5.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Sie beantragt die Abänderung dahin, daß das über das zuerkannte Pflegegeld der Stufe 3 hinausgehende Mehrbegehren abgewiesen werde.

Die Klägerin erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Nach § 4 Abs 5 (nunmehr Abs 3) BPGG ist der Bundesminister für Arbeit und Soziales unter anderem ermächtigt, Mindesteinstufungen für bestimmte Gruppen von behinderten Personen mit einem weitgehend gleichartigen Pflegebedarf vorzunehmen. Nach § 8 EinstV ist bei Personen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sind, mindestens folgender Pflegebedarf ohne weitere Prüfung nach § 4 BPGG anzunehmen: 1. Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 120 Stunden monatlich, wenn kein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten und weder eine Stuhl- oder Harninkontinenz noch eine Blasen- oder Mastdarmlähmung vorliegen (entspricht Stufe 3); 2. Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich, wenn kein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten, jedoch eine Stuhl- oder Harninkontinenz bzw eine Blasen- oder Mastdarmlähmung vorliegt (entspricht Stufe 4); 3. Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand, wenn ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten gegeben ist (entspricht Stufe 5). Während das BPGG und die EinstV grundsätzlich vom Konzept der funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegebedarfes ausgehen, dh von der individuell erforderlichen Betreuung und Hilfe, so werden für bestimmte Behindertengruppen mit weitgehend gleichartigem Pflegebedarf - insoweit also diagnosebezogen - Mindesteinstufungen im Verordnungsweg vorgenommen. Ungeachtet dieser abstrakten ("ohne weitere Prüfung") Pauschalierung hat auch bei diesen Pflegebedürftigen die individuelle Situation Berücksichtigung zu finden und kann im Einzelfall zur Gewährung einer höheren Leistung führen (Gruber/Pallinger BPGG Rz 60 zu § 4; Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 199; derselbe BPGG 99).

Unter Hinweis auf die bereits genannten Richtlinien des Hauptverbandes (insbesondere § 22) meint die Beklagte, die diagnosebezogene Einstufung bei Menschen, die zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen seien, könne nur dann erfolgen, wenn der Betroffene weitgehend selbständig in der Lage sei, seinen Bewegungsradius zu erweitern und seinen Lebenslauf (gemeint offenbar Lebensablauf) möglichst eigenständig zu gestalten. Die diagnosebezogene Einstufung gelte jedoch nicht, wenn der Rollstuhl wegen zunehmender Gebrechlichkeit oder ähnlicher Leidenszustände angeschafft worden sei, um den Betroffenen durch andere Menschen fortzubewegen (so § 22 Abs 3 der Richtlinien). Ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand sei nur dann anzunehmen, wenn der selbständige Transfer in und aus dem Rollstuhl wegen eines deutlichen Ausfalls der Funktionen der oberen Extremitäten nicht mehr möglich sei (so § 22 Abs 4 Z 3 der Richtlinien). Da die Klägerin bei funktioneller Einstufung einen monatlichen Pflegebedarf von 160 Stunden aufweise, stehe ihr nur Pflegegeld der Stufe 3 zu.

Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden. Zunächst erhebt sich die Frage nach der Rechtsnatur der vom Hauptverband erlassenen Richtlinien für die einheitliche Anwendung des BPGG nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG, veröffentlicht in SozSi 1994, 686 ff - Amtliche Verlautbarung Nr 120/1994. Diese Richtlinien bezeichnen in ihrem § 1 als Grundlage für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit einerseits § 4 Abs 1 bis 5 BPGG, andererseits die Verordnung des BMfAS BGBl 1993/314 über die Beurteilung des Pflegebedarfes nach dem BPGG (Einstufungsverordnung zum BPGG, im folgenden EinstV). Nach § 2 gelten die Richtlinien für alle Pensions- und Unfallversicherungsträger. Im 2. Abschnitt "Betreuung" (§§ 3 bis 10) und im 3. Abschnitt "Hilfe" (§§ 11 bis 14) werden die bereits in der EinstV enthaltenen Begriffe Zeitaufwand, tägliche Körperpflege, Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten, Verrichtung der Notdurft, An- und Auskleiden, Einnahme von Medikamenten, Mobilitätshilfe im engeren Sinn, Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, Beheizung des Wohnraumes einschließlich Herbeischaffung von Heizmaterial und Mobilitätshilfe im weiteren Sinn näher erklärt und teilweise über die EinstV hinausgehend umschrieben. Der 4. Abschnitt (§§ 15 bis 17) nimmt eine Differenzierung der Pflegestufen 4, 5, 6 und 7 vor, der 5. Abschnitt (§§ 18 bis 20) regelt die geistige oder psychische Behinderung, der 6. Abschnitt (§§ 21 und 22) befaßt sich mit "Diagnosebezogenen Mindesteinstufungen" bei Sehbehinderung und bei Rollstuhlfahrern. Im 7.Abschnitt (§§ 23 bis 25) werden die Begriffe Alter, Heimpflege und verstorbene Antragsteller umschrieben, der 8. und letzte Abschnitt (§§ 26 bis 31) enthält Vorschriften über die Administration.

Das Berufungsgericht war der Auffassung, daß diese Richtlinien des Hauptverbandes auch für die zur Entscheidung in Sozialrechtssachen (Pflegegeldleistungen nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG) berufenen Gerichte verbindlich seien. Der Oberste Gerichtshof kann dieser Ansicht aus folgenden Erwägungen nicht beistimmen:

Dem Hauptverband obliegt nach § 31 Abs 2 Z 3 ASVG die Erstellung von Richtlinien zur Förderung oder Sicherstellung der gesamten wirtschaftlichen Tragfähigkeit, der Zweckmäßigkeit und der Einheitlichkeit der Vollzugspraxis der Sozialversicherungsträger. Im § 31 Abs 5 findet sich der Katalog jener Materien, über die der Hauptverband Richtlinien aufzustellen hat; darunter solche für die einheitliche Anwendung des BPGG (Z 23). Diese Richtlinien sind aufgrund der ausdrücklichen Anordnung des § 31 Abs 6 ASVG für die im Hauptverband zusammengefaßten Versicherungsträger verbindlich. Lediglich ausnahmsweise wird eine darüber hinausreichende Verbindlichkeit angeordnet, wie in § 31 Abs 5 Z 10 für die Richtlinien über die Berücksichtigung ökonomischer Grundsätze bei der Krankenbehandlung: Diese sind nach ausdrücklicher Anordnung des Gesetzgebers auch für die Vertragspartner bindend. Alle diese Richtlinien bedürfen nach § 31 Abs 8 ASVG der Beurkundung des gesetzmäßigen Zustandekommens durch den BMfAS und sind sodann in der Fachzeitschrift "Soziale Sicherheit" zu verlautbaren.

Soweit die Richtlinien nach der entsprechenden gesetzlichen Ermächtigung im ASVG durch Beschluß des Hauptverbandes erlassen und entsprechend kundgemacht sind, haben sie als generelle rechtsverbindliche Anordnung einer Verwaltungsbehörde nach herrschender Auffassung die Qualität von Rechtsverordnungen (Korinek in Tomandl, SV-System 7. ErgLfg 510 mwN; Grillberger, Österreichisches Sozialrecht3 105). Als bloße generelle Weisungen oder Verwaltungsverordnungen (vergleiche Tomandl, Probleme des Hilflosenzuschusses, ZAS 1979, 130 [134]; derselbe, Grundriß des österreichischen Sozialrechts4 194 in Rz 256), sind sie schon deshalb nicht zu qualifizieren, weil die einzelnen Sozialversicherungsträger keine dem Hauptverband untergeordneten Verwaltungsorgane, sondern selbständige Rechtssubjekte sind (zutreffend Pfeil, Ein nicht gewährter Hilflosenzuschuß, DRdA 1990, 74 [76 mwN bei FN 10]; derselbe, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich 181), sodaß es an einer organisationsrechtlichen Über- und Unterordnung fehlt.

Aus der Bindung der Versicherungsträger an diese Richtlinien folgt aber entgegen mehrfach vertretenen Auffassungen (Korinek, Pfeil und Grillberger jeweils aaO) noch nicht deren Verbindlichkeit für die Gerichte. Infolge der Kundmachung fällt zwar ein wesentliches Argument weg, das gegen die Verbindlichkeit der seinerzeitigen Richtlinien zum Hilflosenzuschuß auch für die Gerichte ins Treffen geführt wurde (Tomandl aaO, auf den der OGH in den Entscheidungen SSV-NF 1/46 = SZ 60/223, ZAS 1988, 53/5 und JBl 1988, 64 verwiesen hat). Auch wenn nunmehr alle zur Entscheidung in Pflegegeldangelegenheiten berufenen Sozialversicherungsträger (und nicht nur die Pensionsversicherungsträger) vom Geltungsbereich der verlautbarten Richtlinien erfaßt sind, ist an der Qualität der Richtlinien als nur die Sozialversicherungsträger bindende Norm keine Änderung eingetreten. Zunächst einmal ist unbestritten, daß der Hauptverband nur die Sozialversicherungsträger, nicht aber die übrigen nach § 22 BPGG zur Entscheidung berufenen Träger zu binden vermag (Gruber/Pallinger, BPGG Rz 77 zu § 4). Daß dennoch möglicherweise die Richtlinien als Hilfsmittel für die Interpretation der jeweiligen Begriffe im BPGG auch im Hinblick auf Pflegegelder herangezogen werden könnten, für deren Gewährung nicht die Sozialversicherungsträger zuständig sind (so Pfeil aaO), ist kein zwingendes Argument für die Verbindlichkeit der Richtlinien für Gerichte; auch andere Interpretationshilfen wie Gesetzesmaterialien oder Lehrmeinungen haben keine verbindliche Kraft. Ferner wäre es ungewöhnlich, daß der Gesetzgeber dem BMfAS eine den gesamten Personenkreis des BPGG umfassende Verordnungsermächtigung einräumt (§ 4 Abs 5 Stammfassung, nunmehr Abs 3 BPGG), darüber hinaus aber für einen Teil dieses Personenkreises eine noch nähere Ausführung des Gesetzes durch eine weitere Rechtsverordnung einem anderen Verordnungsgeber überträgt (Gruber/Pallinger aaO), wenngleich zugegeben werden muß, daß dies keinen entscheidenden Einwand gegen die Verbindlichkeit der Richtlinien darstellen mag (Pfeil BPGG 82).

Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofes sind jedoch folgende Umstände ausschlaggebend: Wenngleich sich die Richtlinien für die einheitliche Anwendung des BPGG auf die Versicherten bzw Pflegegeldbeansprucher als davon Betroffene auswirken mögen, so sind doch die genannten Personenkreise nicht Adressaten der Richtlinien; der Hauptverband hat keine generelle gesetzliche Ermächtigung, Rechtsnormen im Zusammenhang mit der Zuerkennung von Pflegegeld für Dritte zu erlassen. Er kann daher insbesondere Ansprüche von Versicherten bzw Pflegebedürftigen weder schaffen noch begrenzen. § 31 Abs 6 ASVG spricht folgerichtig (und anders als etwa § 31 Abs 5 Z 10) auch nur von einer Verbindlichkeit der Richtlinien für die im Hauptverband zusammengefaßten Versicherungsträger. Umsoweniger besteht irgendeine gesetzliche Ermächtigung des Hauptverbandes, für Gerichte verbindliche Normen auf dem Gebiet der Pflegevorsorge zu erlassen. Die Richtlinien haben nicht die Aufgabe, für andere Rechtsanwender zu präzisieren, wann ein Anspruch auf Pflegegeld besteht, sie haben vielmehr den Zweck, die Versicherungsträger zu einer gleichmäßigen Rechtsanwendung anzuleiten (arg "Einheitlichkeit der Vollzugspraxis der Sozialversicherungsträger" in § 31 Abs 2 Z 3 ASVG). Die Entscheidung über den Anspruch auf Pflegegeld ist durch § 65 Abs 1 ASGG letztlich den Gerichten zugewiesen; soweit ein Gesetz die Vollziehung einem Gericht übertragen hat, kann die Konkretisierung des Gesetzes mittels einer Verordnung nur insoweit durch eine Verwaltungsbehörde erfolgen, als dies das Gesetz ausdrücklich oder erkennbar vorsieht. Die Konkretisierungskompetenz wurde durch § 4 Abs 3 BPGG ausschließlich dem BMfAS zugewiesen, nicht aber dem Hauptverband. Daraus folgt, daß die Richtlinien zwar im Hinblick auf den einheitlichen Vollzug des BPGG durch die davon erfaßten Entscheidungsträger anzuwenden sind, jedoch keine verbindliche Kraft für die in Sozialrechtssachen berufenen Gerichte beanspruchen können. Eine Bindung der Gerichte an die Richtlinien des Hauptverbandes wäre im übrigen im Interesse einer Entscheidungsharmonie höchstens dann sachgerecht, wenn die Sozialgerichte die Aufgabe hätten, die von den Trägern der Sozialversicherung erlassenen, von den Versicherten bekämpften Bescheide zu überprüfen. Dies ist aber gerade nicht der Fall. Dem Grundsatz der sukzessiven Zuständigkeit entsprechend haben die Sozialgerichte vielmehr über die vom Versicherten mit einer Klage geltend gemachten sozial(versicherungs)rechtlichen Ansprüche nach Abschluß des mit einem darüber absprechenden Bescheid des Versicherungsträgers beendeten Verwaltungsverfahrens in einem eigenen, selbständigen Verfahren zu entscheiden (Kuderna, ASGG2 441 Anm 1 zu § 67; 10 ObS 2189/96a). Die Erhebung der Klage beseitigt gemäß § 71 Abs 1 ASGG den "angefochtenen" Bescheid des Trägers und setzt ein vollkommen neues erstinstanzliches Verfahren in Gang. Das Gericht kann den - durch die Klage außer Kraft getretenen - Bescheid weder "abändern" noch "bestätigen" oder "aufheben", wie dies einem Rechtsmittelverfahren entsprechen würde (vgl Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen, 7 ff, 83 ff). Daß die Richtlinien des Hauptverbandes auch nach ihrem Inhalt gar keinen Anspruch auf Geltung für die Sozialgerichte erheben, beweist etwa der die Fälle der "Sehbehinderung" regelnde § 21: Bei Vorhandensein eines "aktuellen augenärztlichen Befundes" soll danach "im Regelfall" eine weitere augenfachärztliche Begutachtung durch einen "Vertrauensarzt" nicht mehr notwendig sein.... Diese Bestimmung bezweckt wohl eine Erleichterung des Ermittlungsverfahrens für den Entscheidungsträger, ist aber im Verfahren vor den Sozialgerichten prinzipiell unanwendbar, und zwar nicht bloß deshalb, weil hier eine Begutachtung durch gerichtsärztliche Sachverständige, nicht aber durch Vertrauensärzte zu erfolgen hat.

Der vom Berufungsgericht in Anschluß an Pfeil beantworteten Frage, wie § 22 Abs 2 der Richtlinien gesetzeskonform auszulegen sei, braucht daher nicht weiter nachgegangen zu werden. Es ist zwar richtig, daß § 8 EinstV vor allem jene Personen zu unterstellen sind, die mit Hilfe des Rollstuhles ihren Bewegungsradius erweitern können und dadurch in die Lage versetzt werden, Verrichtungen wie sie in §§ 1 und 2 EinstV vorgesehen sind, (weitgehend) eigenständig vorzunehmen. Gerade im Hinblick auf § 8 Z 3 EinstV, wo von einem deutlichen Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten die Rede ist, aber auch unter Berücksichtigung des Zweckes des Pflegegeldes (§ 1 BPGG) kann es auch nach Meinung des Obersten Gerichtshofes nicht ausschlaggebend sein, ob der Betreffende sich mit dem Rollstuhl (weitgehend) selbständig bewegen kann oder wie es in § 22 Abs 2 der Richtlinien heißt, "weitgehend selbständig in der Lage ist, seinen Bewegungsradius zu erweitern und seinen Lebenslauf (gemeint offenbar Lebensablauf) möglichst eigenständig zu gestalten." Es ist nicht einzusehen, warum die diagnosebezogenen Einstufungen des § 8 EinstV nicht gelten sollen, wenn der Rollstuhl wegen zunehmender Gebrechlichkeit oder ähnlicher Leidenszustände angeschafft wurde, um den Betroffenen durch andere Menschen fortzubewegen (soweit § 22 Abs 3 der Richtlinien derartiges anordnet, kann diese Bestimmung weder auf das BPGG noch auf die EinstV zurückgeführt werden).

Zusammenfassend ergibt sich daraus, daß die Klägerin zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen ist und überdies einen deutlichen Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten aufweist. Sie erfüllt damit die Voraussetzungen des § 8 Z 3 EinstV, weshalb ohne weitere Prüfung nach § 4 BPGG ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand anzunehmen ist, woraus sich nach § 4 Abs 2 BPGG ein Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 ableitet.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

Stichworte