OGH 10ObS385/97h

OGH10ObS385/97h2.12.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Hermann Weber und OMr Ing Dr Mag Gustav Liebhart (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Silvia B*****, vertreten durch Dr.Bernhard Huber und Mag.Eva Huber-Stockinger, Rechtsanwälte in Linz, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, vertreten durch Dr.Paul Bachmann, Dr.Eva-Maria Bachmann und Dr.Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17.Juli 1997, GZ 12 Rs 175/97k-11, womit infolge Berufung beider Parteien das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 4.März 1997, GZ 11Cgs 67/96z-7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 12.11.1965 geborene Klägerin leidet an einer angeborenen Tetraparese. Sie ist praktisch am gesamten Körper gelähmt und kann nur im Bereich der linken Hand Greifbewegungen mit Daumen und Zeigefinger vornehmen. Dadurch ist sie allerdings in der Lage, einen Spezialrollstuhl mit besonderer Sitzposition und mit einem kleinen Steuerknüppel zu steuern und damit in ihrer behindertengerecht ausgebauten Wohnung und außer Haus zu fahren. Aufgrund ihrer hochgradigen Verbiegung und Fehlstellung der Wirbelsäule ist es notwendig, die Klägerin häufig umzulagern, um nicht wundzuliegen. Sie ist überdies inkontinent. Außerdem ist eine dauernde Beaufsichtigung durch eine Pflegeperson erforderlich; mindestens alle zehn Minuten muß eine Pflegeperson nach der Klägerin sehen. Unstrittig ist, daß ihr Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt.

Mit Bescheid vom 7.8.1996 gewährte die beklagte Partei der Klägerin ein Pflegegeld der Stufe 5. In ihrer Klage stellte sie das Begehren auf Zuerkennung eines solchen der Stufe 6, später ausgedehnt der Stufe 7.

Das Erstgericht verurteilte die beklagte Partei zur Zahlung eines Pflegegeldes der Stufe 6 ab 1.4.1996 im Betrag von S 15.806 und wies das Mehrbegehren der Stufe 7 ab. Es beurteilte den eingangs zusammengefaßt wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahin, daß der Bedarf der Klägerin nach ständiger Rufbereitschaft und eines Umliegens alle zehn Minuten dauernder Beaufsichtigung gleichkomme. Die für die Stufe 7 geforderte Anspruchsvoraussetzung einer praktischen Bewegungsunfähigkeit liege jedoch nicht vor, da der Klägerin in Form ihres Spezialrollstuhles ein Hilfsmittel zur Verfügung stehe, das es ihr ermögliche, diesen unter Verwendung von Daumen und Zeigefinger so zu steuern, daß sie selbständig die Wohnung zumindest für kürzere Zeit verlassen könne; weil sie so ihre restliche Mobilität noch selbständig nutzen könne, lägen praktische Bewegungsunfähigkeit oder ein gleichzuhaltender Zustand nicht vor.

Das Berufungsgericht gab weder der Berufung der Klägerin (gerichtet auf Zuerkennung der Stufe 7) noch jener der beklagten Partei (gerichtet auf Bestätigung im Sinne der Stufe 5 laut ihrem erlassenen Bescheid) Folge, sondern bestätigte das Ersturteil. Auch das Berufungsgericht vertrat die Auffassung, daß die Klägerin, auch wenn sie nicht selbständig das Haus verlassen könne, doch mit dem Rollstuhl in der Wohnung herumfahren und so für eine gewisse Abwechslung ihres Umfeldes sorgen könne; dies schließe aber den sehr eng zu verstehenden Begriff der praktischen Bewegungsunfähigkeit aus.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Revisionsgründe der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der Klägerin mit dem Antrag, das Berufungsurteil im Sinne eines Zuspruches der Pflegegeldstufe 7 abzuändern; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt. Die beklagte Partei hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.

Das Rechtsmittel ist gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässig, jedoch nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor; diese Beurteilung bedarf gemäß § 510 Abs 3 dritter Satz ZPO keiner näheren Begründung. Soweit hierin Feststellungsmängel gerügt werden, sind diese der Rechtsrüge zuzuordnen.

Zum Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung wird - zusammenfassend - ausgeführt, daß das Bundespflegegeldgesetz (BPGG) nicht verlange, daß jemand vollständig gelähmt sei; da die Klägerin (nach den Feststellungen der Vorinstanzen) praktisch am ganzen Körper gelähmt sei und nur die Finger und die Hand links etwas bewegen könne, sei bei ihr von praktischer Bewegungsunfähigkeit bzw einem gleichzuachtenden Zustand auszugehen. Der bloße Umstand, daß sie in einen Spezialrollstuhl gehoben und mit ihrer einzig aktiv möglichen Bewegung des Daumen-Zeigefinger-Griffes diesen fortbewegen könne, dürfe nicht dazu führen, sie nicht als praktisch bewegungsunfähig einzustufen.

Die beklagte Partei hingegen hält dem (in ihrer Revisionsbeantwortung) entgegen, daß es der Revisionswerberin so immerhin möglich sei, eine im Vergleich zu ansonsten dauernd ans Bett gefesselten Menschen recht hohe Mobilität zu erreichen.

Der Oberste Gerichtshof hat hiezu folgendes erwogen:

Vorauszuschicken ist, daß der Zuspruch der Pflegegeldstufe 6 an die Klägerin nunmehr rechtskräftig feststeht. Strittig ist allein, ob bei ihr die Voraussetzungen für die höchste Pflegegeldstufe 7, nämlich praktische Bewegungsunfähigkeit oder ein gleichzuachtender Zustand, vorliegen. Der Senat hat diesen Begriff der "praktischen Bewegungsunfähigkeit" inzwischen bereits in mehreren Entscheidungen jeweils dahingehend umschrieben, daß es sich um einen Zustand handeln müsse, der in den funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkommt, dem Pflegebedürftigen also zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung nicht mehr möglich sind. Von einem der praktischen Bewegungsfähigkeit gleichzumachenden Zustand ist dann zu sprechen, wenn der Pflegebedürftige an sich noch über eine gewisse Mobilität verfügt, diese aber insbesondere aufgrund des Angewiesenseins auf bestimmte lebensnotwendige Hilfsmittel (etwa ein Beatmungsgerät) nicht nützen kann (10 ObS 2434/96f, 10 ObS 2466/96m, 10 ObS 2468/96f, 10 ObS 2337/96s, 10 ObS 268/97b, 10 ObS 410/97k; Pfeil, BPGG 98 f; derselbe, Pflegevorsorge in Österreich, 199). Praktische Bewegungsunfähigkeit als höchster Grad der Pflegebedürftigkeit setzt hiebei nicht eine vollständige Bewegungsunfähigkeit voraus (10 ObS 2466/96m) - der Ausschuß für Arbeit und Soziales hat nämlich die Anspruchsvoraussetzung der "vollständigen" Bewegungsunfähigkeit noch in der Regierungsvorlage (776 BlgNR 18.GP) ausdrücklich durch den weiteren Begriff der "praktischen" Bewegungsunfähigkeit ersetzt (908 BlgNR 18.GP, 4; Gruber/Pallinger, BPGG Rz 58 zu § 4) -, sondern kommt es ausschließlich auf die umfassende Einschränkung der Beweglichkeit als Maßstab an (10 ObS 2324/96d).

Auch wenn die Klägerin im vorliegenden Fall als Pflegebedürftige leidensbedingt seit ihrer Geburt an weitgehenden Lähmungen ihres Körpers leidet, so handelt es sich im Hinblick auf die für den Obersten Gerichtshof maßgeblichen Feststellungen der Tatsacheninstanzen doch nicht um eine - wie vom Gesetzgeber gefordert - praktische im Sinne der bereits wiedergegebenen Umschreibungserfordernisse. Eine "praktische" Bewegungsunfähigkeit oder ein dieser gleichzuachtender Zustand läge nämlich nach Auffassung des Senates nur dann vor, wenn einer hievon betroffenen Person keinerlei willentliche Steuerung von Bewegungen, die zu einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen und eingesetzt werden können und mit denen dieser Zweck auch erreicht werden kann, mehr möglich wäre. Ist aber jemand noch in der Lage, zB mit einer Hand Essen oder eine Trinkflüssigkeit (und sei es auch nur unter Zuhilfenahme des Hilfsmittels einer Schnabeltasse) zum Mund zu führen, ein Buch etc zum Lesen umzublättern, eine Rufglocke oder ein Mobiltelefon (Handy) zu ergreifen und (sei es auch bloß etwa mittels Kurzwahltaste) einen Rufkontakt herzustellen, eine Fernbedienung zu benützen oder - wie hier - einen elektrischen Rollstuhl derart zu steuern, daß er auf willentliche Einflüsse zu reagieren vermag, dann liegt - insgesamt - die Voraussetzung "praktischer" Bewegungsunfähigkeit im Sinne des für die höchste Pflegegeldstufe 7 geforderten Gesetzeserfordernisses (noch) nicht vor. Dies erscheint auch grundsätzlich sachgerecht, weil hiedurch (auch wenn es sich nur um eingeschränkte Restfähigkeiten der hievon betroffenen Personen handelt) die Betreuung insgesamt einfacher gemacht und gestaltet werden kann (so muß nicht unbedingt jemand permanent in der Nähe des Betroffenen sein, muß den Betroffenen nicht ständig unter Beobachtung halten etc). Nach den Feststellungen sind der Klägerin jedoch solche zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung infolge Beweglichkeit zweier maßgeblicher Finger (Daumen und Zeigefinger) ihrer linken Hand noch möglich; sie kann hiedurch ihren elektrischen Spezialrollstuhl jedenfalls in der Wohnung zielgerichtet bewegen (so schon 10 ObS 2468/96f) und ist damit zu einer willentlichen Bewegungssteuerung in der Lage. Die Verwendung des Rollstuhles als Hilfsmittel ist dabei auch gemäß § 3 Abs 2 EinstV zu berücksichtigen. Auch wenn die verbliebene Restmobilität der Klägerin nicht aus eigener, noch körperlich vorhandener Kraftumsetzung besteht, so ist sie doch aufgrund dieses externen technischen Hilfsmittels jedenfalls gegeben und auch in concreto umsetzbar.

In Übereinstimmung mit diesen Rechtsgrundsätzen haben daher die Vorinstanzen der Klägerin zu Recht nur die Pflegegeldstufe 6 und nicht der Stufe 7 zuerkannt. Ihrer Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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