Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen, die hinsichtlich des Zuspruches von Pflegegeld der Stufe 4 ab 1.12.1995 als unangefochten unberührt bleiben, werden im übrigen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sozialrechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.
Text
Begründung
Mit Bescheid des damaligen Bundesrechenamtes vom 3.4.1996 wurde ausgesprochen, daß dem Kläger ab 1.12.1995 ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 4 von monatlich S 8.535,-- anstelle des bisherigen Pflegegeldes in Höhe der Stufe 3 gebührt.
Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen Klagebegehren statt und erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1.12.1995 das Pflegegeld der Stufe 7 zu gewähren. Es stellte fest, daß der am 17.4.1938 geborene Kläger seit seinem 9. Lebensjahr an einem Muskelschwund und Lähmungen sämtlicher Extremitäten und der Rumpfmuskulatur nach Kinderlähmung leide. Seit einer Hirnblutung im Stammhirn im Herbst 1995 sei er bettlägerig und könne nur kurzfristig in einem Rollstuhl gelagert werden. Er sei seither inkontinent, der Harn müsse durch häufiges Reichen einer Harnflasche aufgefangen werden. Seine linke Hand sei praktisch nicht mehr funktionsfähig. Auch mit der rechten Hand seien ihm trotz grundsätzlicher Beweglichkeit zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung nicht mehr möglich, weil der Körper des Klägers von anderen Personen in eine Stellung gebracht werden müsse, damit eine Handlung mit dem rechten Arm noch möglich sei. Die Pflege des Klägers sei grundsätzlich noch koordinierbar, er benötige aber eine koordinierte Pflegeleistung von 6 bis 10 Pflegeeinheiten. Unter Anwendung eines Harnkatheders wäre eine koordinierte Pflege von unter 6 Pflegeeinheiten möglich. Dabei bestehe aber die Möglichkeit einer Infektionsgefahr. Im gesamten liege beim Kläger ein der praktischen Bewegungsunfähigkeit gleichzuachtender Zustand vor. Er sei praktisch zu keinen lebensnotwendigen Handlungen mehr fähig, es bestehe ein Pflegebedarf von über 180 Stunden monatlich.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Soweit die Berufungswerberin auf die Möglichkeit der koordinierten Pflege in 6 Pflegeeinheiten ins Spiel bringe, woraus sich aufgrund der Richtlinien des Hauptverbandes ein Pflegegeldanspruch höchstens der Stufe 5 ergeben würde, sei auf die höchstgerichtliche Rechtsprechung zu verweisen, wonach den Richtlinien jeder verbindliche Charakter für die gerichtliche Beurteilung des Pflegegeldanspruchs fehle. Im übrigen stufe der Gesetzgeber die völlige oder praktische Bewegungsunfähigkeit als höchsten Grad der Pflegebedürftigkeit ein.
Dieses Urteil wird von der beklagten Partei mit Revision insoweit bekämpft, als dem Kläger ein die Stufe 4 übersteigendes Pflegegeld zuerkannt wurde.
Die Revision ist im Sinne ihres Aufhebungsantrages berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Strittig ist zunächst, ob beim Kläger die Voraussetzung "praktische Bewegungsunfähigkeit oder ein gleichzuachtender Zustand" im Sinne des § 4 Abs 2 Stufe 7 BPGG vorliegt. Die Einordnung in Stufe 7 sollte nach der Regierungsvorlage zum BPGG nur bei Vorliegen der vollständigen Bewegungsunfähigkeit zulässig sein (§ 776 BlgNR 18. GP). In den Ausschußberatungen wurde diese Voraussetzung durch den weiteren Begriff "praktische Bewegungsunfähigkeit" ersetzt (908 BlgNR 18. GP). Es muß sich dabei um einen Zustand handeln, der in den funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkommt. Dies ist anzunehmen, wenn zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung nicht mehr möglich sind. Pflegegeld der Stufe 7 kommt schließlich auch bei einem der praktischen Bewegungsunfähigkeit gleichzuachtetenden Zustand in Betracht: Davon wird man sprechen können, wenn der Pflegebedürftige an sich noch über eine gewisse Mobilität verfügt, diese aber insbesondere aufgrund des Angewiesenseins auf bestimmte lebensnotwendige Hilfsmittel (etwa ein Beatmungsgerät) nicht nützen kann (10 ObS 2324/96d; 10 ObS 2337/96s; 10 ObS 2434/96f = SSV-NF 10/135 - in Druck; 10 ObS 2466/96m; 10 ObS 2468/96f; Pfeil, BPGG 98 f; derselbe, Pflegevorsorge in Österreich, 199). Die bisherigen Aussagen zu dieser Frage sind noch dahin zu präzisieren, daß eine praktische Bewegungsunfähigkeit dann vorliegt, wenn einer hievon betroffenen Person keinerlei willentliche Steuerung von Bewegungen, die zu einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen und mit denen dieser Zweck auch erreicht werden kann, mehr möglich wäre (10 ObS 385/97h; 10 ObS 410/97k).
Im vorliegenden Fall hat schon das Erstgericht darauf hingewiesen, daß dem Kläger Bewegungen mit der rechten Hand noch möglich seien, wie "beispielsweise" das zum Mund Führen des Essens oder das Umblättern eines Buches; "sonst" könne der Kläger mit der rechten Hand nichts mehr machen. In der Folge habe der Sachverständige aber weiter ausgeführt, daß der Kläger, um diese Bewegungen mit der rechten Hand auch durchführen zu können, von anderen Personen in eine Stellung gebracht werden müsse, damit eine Handlung mit dem rechten Arm noch möglich sei; im gesamten gesehen seien ihm zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung nicht mehr möglich und es liege ein der praktischen Bewegungsunfähigkeit gleichzuachtender Zustand vor. Diese Aussagen stehen zum Teil mit den oben wiedergegebenen Begriffsinhalten zum Erfordernis der praktischen Bewegungsunfähigkeit im Widerspruch, zum Teil sind sie aber in sich widersprüchlich. Ist jemand zu einer willentlichen Steuerung von Bewegungen, die zu einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen, noch fähig, dann liegt keine praktische Bewegungsunfähigkeit vor. Ist etwa jemand noch in der Lage, mit einer Hand zu essen oder eine Trinkflüssigkeit (und sei es auch nur unter Zuhilfenahme einer Schnabeltasse oder eines Schnabelbechers) zum Mund zu führen, ein Buch beim Lesen umzublättern, ein Mobiltelefon zu ergreifen und - sei es auch bloß mittels Kurzwahltaste - einen Kontakt herzustellen, eine Fernbedienung zu benützen oder auch einen Rollstuhl zu steuern, dann ist von praktischer Bewegungsunfähigkeit keine Rede, umsoweniger von einem dieser gleichzuachtenden Zustand, der ja, wie oben bereits ausgeführt, beim Erfordernis des dauernden Einsatzes technischer Hilfsmittel zur Aufrechterhaltung lebensnotwendiger Funktionen angenommen werden kann. Die Feststellung, daß der Kläger von einer Pflegeperson erst in eine "Stellung" gebracht werden müsse, damit er mit der rechten Hand Bewegungen vornimmt, ist zu unklar um daraus rechtliche Schlüsse ziehen zu können. Sollte damit die Unfähigkeit zum selbständigen Transfer in und aus dem Rollstuhl wegen eines deutlichen Ausfalls der Funktion der oberen Extremitäten gemeint sein, so führt sie im allgemeinen auch nur zu einem Pflegegeldanspruch in Höhe der Stufe 5 (10 ObS 2468/96f; 10 ObS 101/97v ua). Kann aber der Kläger "beispielsweise" Essen zum Mund führen oder ein Buch umblättern, dann kann er Bewegungen, die zu einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen, willentlich steuern; damit sind aber zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung möglich. Diesfalls würde aber ein Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 7 ausscheiden. Insoweit werden präzisere Feststellungen zu treffen sein.
Auch für die Entscheidung der Frage, ob beim Kläger die Voraussetzungen für ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 (außergewöhnlicher Pflegeaufwand erforderlich) oder der Stufe 6 (dauernde Beaufsichtigung oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand erforderlich) vorliegen, fehlen die erforderlichen Feststellungen. Wie das Berufungsgericht schon zutreffend dargelegt hat, lehnt der Oberste Gerichtshof eine Bindung der Gerichte an die Richtlinien des Hauptverbandes für die einheitliche Anwendung des Bundespflegegeldgesetzes nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG (SozSi 1994, 686 ff - Amtliche Verlautbarung Nr 120/1994) in ständiger Rechtsprechung ab (10 ObS 2396/96t = SSV-NF 10/131 - in Druck ua). Die dort in den §§ 15 - 17 vorgenommene Differenzierung der Pflegestufen 4 bis 7 nach sogenannten "Pflegeeinheiten" stellt daher keine für die Gerichte verbindliche Beurteilungsgrundlage dar.
Das Erstgericht wird die Feststellungen im aufgezeigten Sinn zu ergänzen und sodann über das Begehren des Klägers neuerlich zu entscheiden haben. Dabei wird zu beachten sein, daß eine Entscheidung bloß dem Grunde nach im Sinne des § 89 Abs 2 ASGG nur dann in Frage kommt, wenn das Begehren dem Grund und der Höhe nach strittig ist. Da die Höhe des Pflegegeldes in den einzelnen Stufen im Gesetz ziffernmäßig festgelegt ist, sind diese Voraussetzungen nicht gegeben. Mit der Stufe des Pflegegeldes, die für berechtigt erkannt wird, steht im Zusammenhang mit den gesetzlichen Bestimmungen über die Höhe des in dieser Stufe gebührenden Pflegegeldes der Anspruch auch der Höhe nach fest und ist dann im Urteil ziffernmäßig zuzuerkennen.
Eine Kostenentscheidung hatte mangels Verzeichnung von Kosten zu entfallen.
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