European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00105.24Z.1008.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Höhe des dem Kläger zuzuerkennenden Pflegegeldes.
[2] Mit Bescheid vom 19. 7. 2022 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 27. 12. 2021 auf Gewährung von Pflegegeld ab.
[3] Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte, dem Kläger ab 1. 1. 2022 Pflegegeld der Stufe 3 zu gewähren, wies indes das Mehrbegehren auf Leistung eines diese Pflegestufe übersteigenden Pflegegeldes ab. Unter Zugrundelegung der Einstufungsverordnung zum BPGG und der getroffenen Feststellungen ergebe sich ein durchschnittlicher monatlicher Pflegebedarf des Klägers von höchstens 144 Stunden.
[4] Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung des Klägers nicht Folge. Es trat der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts bei und führte ergänzend aus, hinsichtlich der Betreuung bei der Reinigung nach Inkontinenz, bei der Vorbereitung der Medikamente und bei der Mobilität im engeren Sinn unterschreite der festgestellte tatsächlich notwendige Zeitaufwand die jeweiligen Richtwerte nach § 1 Abs 3 EinstV erheblich, weshalb insoweit nicht die jeweiligen Pauschalwerte, sondern der tatsächliche Betreuungsaufwand zu veranschlagen sei.
Rechtliche Beurteilung
[5] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision des Klägers ist mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
[6] 1. Für die Reinigung bei inkontinenten Patienten sieht die Einstufungsverordnung zum BPGG in § 1 Abs 3 einen auf den Tag bezogenen Richtwert von 4 x 10 Minuten vor, für das Einnehmen von Medikamenten (auch bei Sondenverabreichung) einen solchen von 6 Minuten und für Mobilitätshilfe im engeren Sinn einen solchen von 30 Minuten.
[7] Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs dienen die in § 1 Abs 3 EinstV festgelegten Richtwerte im Wesentlichen als Orientierungshilfe für die Rechtsanwendung (RS0053147 [T2]). Grundsätzlich ist damit zwar von den normierten Zeitwerten auszugehen (10 ObS 85/03b ua); wesentliche Abweichungen von diesen sind jedoch zu berücksichtigen. Sie können daher im Einzelfall, wenn sich der spezifische Betreuungsaufwand vom üblichen unterscheidet, auch unter‑ oder überschritten werden (10 ObS 197/06b; 10 ObS 67/17a ErwGr 3.2. mwN; RS0053147). Abweichungen von den Durchschnittswerten bedürfen allerdings stets einer besonderen Begründung (RS0053147 [T5]) und sind nur dann als wesentlich (erheblich) zu berücksichtigen, wenn der tatsächliche Pflegebedarf vom Pauschalwert um annähernd die Hälfte des Pauschalwerts abweicht (10 ObS 197/06b; 10 ObS 12/08z; 10 ObS 67/17a ErwGr 3.2.; RS0121676 [T1]; RS0053147 [T6]). Abzustellen ist dabei auf den im konkreten Fall notwendigen Aufwand; erst wenn dieser feststeht, kann beurteilt werden, ob ein Abweichen vom Richtwert gerechtfertigt ist oder nicht (10 ObS 129/14i ErwGr 1.2. mwN).
[8] 2. Von den in der Einstufungsverordnung zum BPGG in § 1 Abs 3 normierten Richtwerten sind die in § 1 Abs 4 statuierten Mindestwerte betreffend den (wiederum auf den Tag bezogenen) zeitlichen Betreuungsaufwand für bestimmte im Rahmen der Pflege notwendige Verrichtungen zu unterscheiden: Auch sie stellen zwar auf Expertenmeinungen beruhende „Durchschnittswerte“ für den Regelfall dar, von den – ebenso wie von den Richtwerten nach § 1 Abs 3 EinstV – bei einer erheblichen Überschreitung des tatsächlichen Betreuungsaufwands abgewichen werden darf (so ausdrücklich § 1 Abs 4 letzter Satz EinstV; vgl dazu RS0058292). Sie sind jedoch anders als die zuvor angesprochenen Richtwerte als verbindliche Untergrenzen des spezifischen zeitlichen Betreuungsaufwands konzipiert (§ 4 Abs 7 Z 2 BPGG: „verbindliche Mindestwerte“), die einer Unterschreitung bei Vorliegen eines tatsächlich geringeren Zeitaufwands im Allgemeinen entgegenstehen (10 ObS 148/98g; 10 ObS 197/06b ua; vgl auch RS0121676; RS0109875).
[9] Es entspricht allerdings ständiger höchstgerichtlicher Rechtsprechung, dass die Anerkennung eines pauschalen Mindestbedarfs im Sinn des § 1 Abs 4 EinstV dann ausnahmsweise nicht mehr in Betracht kommt, wenn sich der tatsächliche Bedarf bloß auf einen kleinen Teil der insgesamt unter diesem Titel subsumierten Betreuungsmaßnahmen beschränkt, sodass die Zugrundelegung des Mindestwerts unter diesen Umständen nicht gerechtfertigt wäre. Bloß bei einer solchen erheblichen Abweichung des konkreten Betreuungsbedarfs vom veranschlagten Mindestbedarf, etwa dann, wenn die einzelnen Verrichtungen lediglich einen Aufwand verursachen, der deutlich unter der Hälfte des normierten Mindestwerts liegt, ist nicht der Mindestwert zu veranschlagen, sondern der tatsächliche Zeitaufwand für die erforderlichen Betreuungsleistungen (10 ObS 289/00y; 10 ObS 144/01a; 10 ObS 12/08z; 10 ObS 57/20k ErwGr 1. uva; RS0109875).
[10] 3. Entgegen der Rechtsansicht des Klägers lassen sich diese zu § 1 Abs 4 EinstV entwickelten Rechtsprechungsgrundsätze nicht auf die hier in Rede stehenden Richtwerte nach § 1 Abs 3 EinstV übertragen. Weder sind die dazu unter Punkt 1. dargelegten Leitlinien „überholt“, noch liegt zu dieser Frage eine uneinheitliche Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vor. Insoweit bleibt es dabei, dass eine Unterschreitung der in § 1 Abs 3 EinstV festgelegten Richtwerte bereits dann gerechtfertigt ist, wenn der tatsächlich festgestellte Pflegebedarf um annähernd die Hälfte vom Pauschalwert abweicht.
[11] Die bekämpfte Entscheidung hält sich im Rahmen dieser Vorgaben: Ausgehend von den zugrundeliegenden Sachverhaltsannahmen, wonach es beim Kläger nur durchschnittlich zweimal täglich zu einer Stuhlinkontinenz kommt, die einen Reinigungsaufwand von insgesamt (nur) 20 Minuten pro Tag verursacht, während fremde Hilfe in Zusammenhang mit der Reinigung bei Harninkontinenz nicht erforderlich ist, bejahte das Berufungsgericht eine Unterschreitung des Richtwerts nach § 1 Abs 3 EinstV um die Hälfte. Zu einem entsprechenden Ergebnis gelangte es auch in Ansehung der notwendigen Betreuung des Klägers bei der Vorbereitung der Medikamente sowie bei der Mobilität im engeren Sinn, dies ausgehend vom festgestellten Urteilssachverhalt, wonach der Kläger die vorbereiteten Medikamente selbst einnehmen kann, weshalb sich der darauf bezogene durchschnittliche Pflegebedarf auf monatlich 1,5 Stunden beschränkt, und er weiters nur der Betreuung bei Lagewechseln, nicht aber bei der Fortbewegung innerhalb der Wohnung bedarf, was einen konkreten Zeitaufwand von durchschnittlich 7,5 Stunden pro Monat verursacht. Diese Beurteilung bedarf keiner Korrektur.
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