European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0100OB00012.22W.0420.000
Spruch:
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei (Gegner der gefährdeten Partei) hat ihre Kosten des Revisionsrekurses endgültig selbst zu tragen.
Die klagende und gefährdete Partei hat die Kosten der Revisionsbeantwortung vorläufig selbst zu tragen.
Begründung:
[1] Die am 18. Jänner 1960 geborene Klägerin und gefährdete Partei (im Folgenden nur Klägerin) und der am 19. April 1959 geborene Beklagte und (Gegner der gefährdeten Partei, im Folgenden nur Beklagter) haben am 29. April 1987 die Ehe geschlossen, die mit Urteil des Bezirksgerichts Linz vom 11. Juni 2007 wegen tiefgreifender unheilbarer Zerrüttung und mehr als 3‑jähriger Trennung geschieden wurde. Gemäß § 61 Abs 3 EheG wurde ausgesprochen, dass das überwiegende Verschulden an der Ehezerrüttung den Beklagten trifft. Am selben Tag schlossen die Parteien folgenden prätorischen Vergleich vor dem Bezirksgericht Linz:
„1.) [Der Beklagte] verpflichtet sich, zuhanden [der Klägerin] einen monatlichen Unterhalt von € 300,-- zum 1. des Monats bei 5tägigen Respiro, beginnend mit 1.7.2007, zu bezahlen.
2.) Nach Wegfall einer Sorgepflicht [des Beklagten] für eines der beiden ehelichen Kinder erhöht sich dieser Unterhaltsbetrag um EUR 70,--, nach Wegfall der Unterhaltspflicht für das zweite Kind um weitere EUR 70,--pro Monat.
3.) Die oben genannten Beträge werden nach dem VPI 2005 = 100 wertgesichert. Als Basis für die Berechnung der Wertsicherung gilt die für Juni 2007 veröffentlichte Indexzahl. Die Anpassung der Unterhaltsbeträge erfolgt alle 2 Jahre mit der für Jänner veröffentlichten Indexzahl, erstmals mit Jänner 2009.
4.) Die oben dargestellte Unterhaltsregelung gilt bis zur Pensionierung des Beklagten, aus welchem Grund auch immer. Ab dem der Pensionierung folgenden Monat verpflichtet sich der Beklagte, den gesetzlichen Unterhalt im Sinn des § 94 ABGB zu bezahlen.
5.) Hinsichtlich des Beklagten und hinsichtlich der Klägerin bis zur Pensionierung des Beklagten wird wechselseitig auf jeglichen weiteren Unterhalt verzichtet. Dies auch für den Fall der Not, geänderter Rechtslage oder sonst geänderter Verhältnisse.
6.) Hinsichtlich ihrer Kosten für die rechtsfreundliche Vertretung vereinbaren die Parteien Kostenaufhebung.“
[2] Seit 1. Mai 2021 ist der Beklagte im Ruhestand und leistet der Klägerin keinen Unterhalt mehr. Bis zur Versetzung in den Ruhestand leistete er an sie einen monatlichen Geldunterhalt von zuletzt 533,49 EUR. Die Klägerin erhält eine monatliche Nettopension von 511,95 EUR, der Beklagte von 2.148,77 EUR (jeweils 12‑mal jährlich). Das monatliche Nettogesamteinkommen der Parteien beläuft sich daher auf 2.660,72 EUR.
[3] Die Klägerin begehrte nach § 382 Abs 1 Z 8 lit a EO einen einstweiligen Unterhalt von 610 EUR sA monatlich ab 1. Mai 2021 bis zur rechtskräftigen Beendigung des anhängigen Unterhaltsverfahrens.
[4] Der Beklagte bestritt einen Unterhaltsanspruch und eine Unterhaltsverletzung. Die Klägerin sei auf eine zumutbare Erwerbstätigkeit anzuspannen. Außerdem sei sie auf einen höheren Pensionsanspruch anzuspannen, der sich unter Zugrundelegung einer durchgehenden Erwerbstätigkeit in der Vergangenheit errechne. Ihr Verhalten sei rechtsmissbräuchlich.
[5] Das Erstgericht verpflichtete den Beklagten zur Zahlung eines vorläufigen Unterhaltsbetrags von 550 EUR monatlich ab 1. Oktober 2021 bis zur rechtskräftigen Beendigung des anhängigen Unterhaltsverfahrens und von 4 % Zinsen für die bislang fälligen Beträge. Es nahm den eingangs gekürzt wiedergegebenen Sachverhalt als bescheinigt an und führte rechtlich aus, dass die Parteien erst ab der Pensionierung des Beklagten auf § 94 ABGB zurückgreifen hätten wollen und die Klägerin daher auch erst ab diesem Zeitpunkt angespannt werden könne. Die Klägerin habe aber das gesetzliche Regelpensionsalter erreicht, sodass sie keine Erwerbstätigkeit ausüben müsse.
[6] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Es verneinte die geltend gemachte Mangelhaftigkeit (Stoffsammlungsmängel). Weitere Einkünfte seien im Bescheinigungsverfahren nicht hervorgekommen. Der Klägerin sei aufgrund ihres Alters eine Erwerbstätigkeit nicht mehr zumutbar. Im Vergleich im Jahr 2007 sei der Anspannungsgrundsatz nicht vertraglich ausdrücklich vereinbart worden, sondern bis zur Pensionierung des Beklagten ein von allfälligem Einkommen der Antragstellerin unabhängiger Unterhalt. Der Beklagte habe redlicherweise nicht davon ausgehen dürfen, dass die Klägerin eine Erwerbstätigkeit aufnehmen werde oder dass dies stillschweigend dem Vergleich zugrunde gelegt worden sei. Fiktiv errechnete Pensionseinkünfte, die die Klägerin bei durchlaufender Erwerbstätigkeit in der Vergangenheit beziehen habe können, seien der Unterhaltsbemessung daher nicht zugrunde zu legen. Eine rechtsmissbräuchliche Geltendmachung sei nicht hervorgekommen.
[7] Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht nachträglich zu, weil es sich um eine Frage des Grundes des Unterhaltsanspruchs handle, der über den Anlassfall hinausgehende Bedeutung zukomme.
Rechtliche Beurteilung
[8] Der – von der Klägerin beantwortete – Revisionsrekurs des Beklagten ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichts (§ 402 Abs 4, § 78 Abs 1 EO iVm § 526 Abs 2 ZPO) nicht zulässig.
[9] 1. Der Frage, ob die Entscheidung den Grund oder die Bemessung von gesetzlichen Unterhaltsansprüchen betrifft, kommt bei Beurteilung der Zulässigkeit des Revisionsrekurses nach § 402 Abs 4, § 78 Abs 1 iVm § 528 ZPO keine Bedeutung zu. Der vom Rekursgericht zur Begründung der nachträglichen Zulassung des Revisionsrekurses herangezogene Rechtssatz (RS0043758) bezieht sich auf eine – seit der WGN 1989 – nicht mehr aktuelle Rechtslage (für das Revisionsverfahren).
[10] 2. Bei der besonderen Regelungsverfügung nach § 382 Abs 1 Z 8 lit a EO ersetzt die Bescheinigung der Unterhaltsverletzung jene der Gefährdung nach § 381 EO (RS0114824). Im Provisorialverfahren sind daher Unterhaltsanspruch und Unterhaltsverletzung zu bescheinigen. Entgegen der Rechtsansicht des Beklagten bedarf es keines Vorbringens und keiner Feststellungen zu einem – über die Verletzung der Unterhaltspflicht hinausgehenden – spezifischen Nachteil der Klägerin.
[11] 3.1. Nach dem als bescheinigt angenommenen Sachverhalt beläuft sich das monatliche Nettogesamteinkommen der Parteien – bestehend aus der Pension der Klägerin und der Pension des Beklagten – auf 2.660,72 EUR. Von diesem Sachverhalt ist im Provisorialverfahren auszugehen (RS0002192). Zu dem bei der Unterhaltsbemessung anrechenbaren Einkommen der Klägerin liegen daher Feststellungen der Tatsacheninstanzen vor.
[12] 3.2. Wenn zu einem bestimmten Thema Tatsachenfeststellungen getroffen wurden, mögen diese auch von den Vorstellungen des Rechtsmittelwerbers abweichen, können diesbezüglich auch keine rechtlichen Feststellungsmängel mit Erfolg geltend gemacht werden (RS0053317 [T1]). Die bloße Behauptung des Beklagten im Revisionsrekurs, es seien Feststellungen zu (weiteren) Einkünften der Klägerin unterblieben, setzt sich mit dem bescheinigten Sachverhalt und seiner – einzelfallbezogenen und daher regelmäßig keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung darstellenden (RS0118891 [T4]) – Auslegung des Rekursgerichts, wonach im Bescheinigungsverfahren keine weiteren Einkünfte und Erträgnisse aus Vermögen, hervorgekommen seien, nicht auseinander. Eine Fehlbeurteilung durch das Rekursgericht zeigt das Rechtsmittel des Beklagten daher nicht auf.
[13] 4.1. Ob die Voraussetzungen für eine Anspannung im konkreten Fall gegeben sind oder nicht, richtet sich nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls (RS0113751 [T9]; RS0007096 [T7]). Dass der Klägerin aufgrund des Erreichens des gesetzlichen Regelpensionsalters eine Erwerbstätigkeit im verfahrensgegenständlichen Zeitraum nicht mehr zumutbar ist (vgl RS0057339), bestreitet der Beklagte im Revisionsrekurs nicht mehr.
[14] 4.2. Soweit er fordert, dass dem nunmehrigen Unterhaltsanspruch der Klägerin ein höherer (fiktiver) Pensionsanspruch als der tatsächlich erworbene als Eigeneinkommen zugrunde gelegt wird, weil die Klägerin in der Vergangenheit keiner ausreichenden Erwerbstätigkeit nachgegangen sei, übergeht er die Interpretation des gegenständlichen Unterhaltsvergleichs durch das Rekursgericht, wonach der Beklagte bis zu seiner Pensionierung einen vom Einkommen der Streitteile unabhängigen bestimmten Unterhaltsbetrag schuldete und erst dann eine Unterhaltsbemessung nach § 94 ABGB erfolgen sollte.
[15] 4.3. Die Frage, ob die Klägerin nach dem Inhalt des Unterhaltsvergleichs in der Vergangenheit zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verpflichtet war, betrifft die Auslegung eines Unterhaltsvergleichs im Einzelfall und wirft als solche keine Rechtsfragen auf, deren Entscheidung zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukommen würde (RS0113785 [T6]). Entgegen der pauschalen Behauptung des Beklagten ist nicht ersichtlich, inwiefern das Rekursgericht konkret die Auslegungsgrundsätze der §§ 914 f ABGB außer Acht gelassen hätte. Insbesondere lässt sich dem Revisionsrekurs nicht entnehmen, woraus der Beklagte schließt, dass die Anwendung des § 94 ABGB oder die Geltung des Anspannungsgrundsatzes – entgegen dem klaren Wortlaut des Vergleichs – für die Zeit vor seiner Pensionierung vereinbart worden wäre. Sein Argument, dass er von seinem Rechtsanwalt bei Abschluss des Vergleichs in einem solchen Sinn beraten wurde, ist bei der Auslegung des Unterhaltsvergleichs mangels Offenlegung dieser Beratung gegenüber der Klägerin – die der Beklagte gar nicht behauptet – nicht von Relevanz. Auch die „tatsächlichen Begebenheiten“ und die „tatsächliche Situation“ zum Ehescheidungszeitpunkt rechtfertigen keine andere Sicht, waren doch die Ausbildungen der Klägerin, auf die sich der Beklagte beruft, bereits im Jahr zuvor abgeschlossen; sie ging danach – auch nach dem Vorbringen des Beklagten – weiter keiner Erwerbstätigkeit nach. Wäre der Beklagte damals davon ausgegangen, dass die Klägerin verpflichtet sein sollte, nach dem Abschluss ihrer Ausbildungen eigene Einkünfte zu erwirtschaften, wäre die Vereinbarung eines Unterhaltsbetrags, der unabhängig von einem solchen Einkommen der Klägerin zustehen soll, nicht zu erwarten.
[16] 5. Bestand nach dem Unterhaltsvergleich (bis zur Pensionierung des Beklagten) keine Verpflichtung zur Annahme einer Erwerbstätigkeit, kann der Klägerin in diesem Zeitraum nicht zum Vorwurf gemacht werden, keine Einkünfte erzielt zu haben, sodass schon damals eine Verletzung des Anspannungsgrundsatzes durch die Klägerin zu verneinen ist. Mangels Verletzung des Anspannungsgrundsatzes ist die Beurteilung des Rekursgerichts, dass ein höherer (fiktiver) Pensionsanspruch (unter Annahme einer durchgehenden Erwerbstätigkeit in der Vergangenheit) der Unterhaltsbemessung nicht zugrunde zu legen ist, nicht zu beanstanden. Auf die Fragen, ob der Unterhaltsbemessung bei Verpflichtung zur Aufnahme einer geregelten Erwerbstätigkeit in der Vergangenheit auch fiktiv errechnete Pensionseinkünfte zugrunde gelegt werden können (ablehnend 6 Ob 620/93; zur Berücksichtigung von Verhalten aus Vorzeiträumen s aber 7 Ob 210/17h), und ob der Anspannungsgrundsatz schon grundsätzlich nicht (bzw nur im Fall des Rechtsmissbrauchs) zur Anwendung gelangt, weil die Klägerin bei Auflösung der ehelichen Gemeinschaft den Haushalt führte (vgl RS0009609; RS0009749), kommt es somit nicht an. Auf die diesbezüglichen Ausführungen im Revisionsrekurs ist daher nicht weiter einzugehen. Sekundäre Feststellungsmängel scheiden in diesem Zusammenhang mangels rechtlicher Relevanz aus (RS0053317 [T5]).
[17] 6. Ähnliches gilt für die einen Rechtsmissbrauch der Klägerin verneinende Beurteilung des Rekursgerichts. Eine Verwirkung des Unterhaltsanspruchs dem Grunde nach ist nur bei so groben Verfehlungen des anderen Ehegatten anzunehmen, die die Geltendmachung des Anspruchs als Rechtsmissbrauch erscheinen lassen (RS0005919; vgl auch RS0009759). Ob Rechtsmissbrauch vorliegt, ist eine nach den Umständen des Einzelfalls zu klärende Rechtsfrage, der grundsätzlich keine erhebliche Bedeutung zukommt (RS0110900; RS0009759 [T13]). Angesichts des Inhalts des Unterhaltsvergleichs, nach dem die Klägerin bis zur Pensionierung des Beklagten keine Obliegenheit traf, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, hält sich auch die Verneinung eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens im Rahmen des dem Rekursgericht zukommenden Beurteilungsspielraums.
[18] 7. Soweit der Beklagte im Revisionsrekurs (weitere) Feststellungen vermisst, gibt er lediglich – wie schon im Rekurs – über mehrere Seiten sein erstinstanzliches Vorbringen im Wesentlichen wortgleich wieder, ohne es mit dem als bescheinigt angenommenen Sachverhalt, seiner rechtlichen Relevanz oder der Beurteilung des Rekursgerichts in Bezug zu setzen. Eine Fehlbeurteilung des Rekursgerichts legt er damit nicht nachvollziehbar dar.
[19] 8. Der neuerlichen Geltendmachung von Stoffsammlungsmängeln durch den Beklagten steht entgegen, dass ein vom Rekursgericht nicht als solcher anerkannter Verfahrensmangel vom Obersten Gerichtshof nicht mehr überprüft werden kann (RS0043919). Mit der im Wesentlichen wortgleichen Anführung seines (gesamten) erstinstanzlichen Vorbringens und der darin enthaltenen Beweisanträge stellt er den Revisionsrekursgrund überdies nicht gesetzmäßig dar (RS0043039).
[20] 9. Insgesamt liegt eine vom Obersten Gerichtshof zu korrigierende Fehlbeurteilung nicht vor, sodass der Revisionsrekurs gemäß §§ 78, 402 Abs 4 EO iVm § 526 Abs 2 S 1 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückzuweisen ist.
[21] 10. Die Entscheidung über die Kosten der Revisionsrekursbeantwortung beruht auf § 393 Abs 1 EO, §§ 41, 52 Abs 1 ZPO. Darin hat die Klägerin auf die Unzulässigkeit des Revisionsrekurses hingewiesen (RS0035962 [T32]). Zur Höhe der verzeichneten Kosten ist für den Fall ihrer Bestimmung anzumerken, dass Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens lediglich der vom Erstgericht zuerkannte Unterhaltsbetrag von 550 EUR monatlich war, sodass die Bemessungsgrundlage (§ 9 Abs 3 RATG: einfache Jahresleistung) nur 6.600 EUR beträgt.
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