OGH 10Nc24/22v

OGH10Nc24/22v13.10.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei N*, vertreten durch die Skribe Rechtsanwaelte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei B* Plc, pA *, Deutschland, wegen 1.624 EUR sA über den Ordinationsantrag der klagenden Partei den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0100NC00024.22V.1013.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Als örtlich zuständiges Gericht wird das Bezirksgericht Schwechat bestimmt.

 

Begründung:

[1] Die in Österreich wohnhafte Klägerin erhob am 19. Juli 2021, also vor dem Anwendungsbeginn des § 101a JN in der Fassung der ZVN 2022, gegen ein Luftfahrtunternehmen mit Sitz im Vereinigten Königreich Klage auf Zahlung von 1.624 EUR sA aufgrund der Verordnung (EG) 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs‑ und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen (EU‑FluggastVO). Ihr Flug von Wien über London nach St. Lucia sei annulliert worden, weshalb sie von der Beklagten die Rückerstattung der Flugscheinkosten nach Art 8 Abs 1 lit a EU‑FluggastVO fordere.

[2] Das von der Klägerin angerufene Bezirksgericht Schwechat wies die Klage mit rechtskräftigem Beschluss vom 19. Jänner 2022 mangels internationaler Zuständigkeit zurück.

[3] Die Klägerin beantragt nunmehr eine Ordination nach § 28 JN. In ihrem Antrag führt sie aus, dass sich der Sitz der Beklagten im Vereinigten Königreich befinde. Eine Rechtsverfolgung dort würde für sie als Verbraucherin eine übermäßige Erschwernis darstellen. Zur effektiven Durchsetzung ihrer Ansprüche nach der EU‑FluggastVO sei eine Ordination geboten.

Rechtliche Beurteilung

[4] Der Ordinationsantrag ist berechtigt.

[5] 1. An die rechtskräftige Verneinung der internationalen Zuständigkeit des von der Klägerin angerufenen Bezirksgerichts Schwechat ist der Oberste Gerichtshof gebunden (RIS‑Justiz RS0046568 [T5]).

[6] 2. Für den Fall, dass für eine bürgerliche Rechtssache die Voraussetzungen für die örtliche Zuständigkeit eines inländischen Gerichts nicht gegeben oder nicht zu ermitteln sind, bestimmt § 28 Abs 1 Z 2 JN, dass der Oberste Gerichtshof aus den sachlich zuständigen Gerichten eines zu bestimmen hat, welches für die fragliche Rechtssache als örtlich zuständig zu gelten hat, wenn der Kläger österreichischer Staatsbürger ist oder seinen Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz im Inland hat und im Einzelfall die Rechtsverfolgung im Ausland nicht möglich oder unzumutbar wäre.

[7] 3. § 28 Abs 1 Z 2 JN soll Fälle abdecken, in denen trotz Fehlens eines inländischen Gerichtsstands ein Bedürfnis nach Gewährung von inländischem Rechtsschutz besteht, weil die Sache ein Naheverhältnis zum Inland aufweist und im Einzelfall eine effektive Klagemöglichkeit im Ausland fehlt (RS0057221 [T4]). Letzteres wird insbesondere dann angenommen, wenn eine Exekution im Inland angestrebt wird, eine am Sitz des Beklagten ergangene Entscheidung hier aber nicht vollstreckt würde (RS0046148 [T17]).

[8] Dem Vorbringen der Klägerin lässt sich (noch) ausreichend deutlich entnehmen, dass sie die Vollstreckung in Österreich anstrebt.

[9] 4. Der Oberste Gerichtshof hat Ordinationsanträgen bereits in einer Vielzahl von Entscheidungen stattgegeben, wenn der Kläger Ansprüche nach der EU‑FluggastVO sonst in einem Drittstaat einklagen müsste und zwischen diesem Drittstaat und Österreich kein Vollstreckungsübereinkommen besteht (etwa für Serbien [6 Nc 1/19b], die Vereinigten Arabischen Emirate [4 Nc 11/19h], die Ukraine [4 Nc 23/19y], Ägypten [8 Nc 18/20v] oder Mexiko [4 Nc 20/20h]; vgl im Übrigen die Bsp in RS0046148).

[10] 5. Auch im Verhältnis zu dem seit 1. Jänner 2021 als Drittstaat anzusehenden Vereinigten Königreich (vgl Art 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl L 2020/29, 7 [in der Folge nur: Austrittsabkommen]) liegt eine vergleichbare Situation vor:

[11] 5.1. Entscheidungen eines britischen Gerichts, die in einem nach dem Ablauf des 31. Dezember 2020 eingeleiteten gerichtlichen Verfahren ergehen, können nicht mehr nach den Regeln der EuGVVO vollstreckt werden (Art 67 Abs 2 lit Austrittsabkommen e contrario). Auch eine Vollstreckung britischer Entscheidungen in Österreich nach dem EuGVÜ oder dem LGVÜ kommt nicht in Betracht (Exenberger/Karl, Anerkennung und Vollstreckung zivilgerichtlicher Entscheidungen Post-Brexit, ecolex 2021/227, 320; vgl auch Cap, BREXIT – Die justizielle Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich in Zivilrechtssachen nach 31. 12. 2020, RZ 2021, 124 [127 f]). Es bleibt damit – jedenfalls im hier zu beurteilenden Fall – nur ein (allfälliger: Cap, RZ 2021, 124 [128]) Rückgriff auf den bilateralen Vollstreckungsvertrag.

[12] 5.2. Nach dem Vertrag zwischen der Republik Österreich und dem Vereinigten Königreich über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, BGBl 1962/224 idgF, werden grundsätzlich nur Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen eines „oberen Gerichts“ (Art II Abs 1 iVm Art I Z 2 lit a) nach einem (auch Fragen der Zuständigkeit umfassenden) Exequaturverfahren (Art III) anerkannt und vollstreckt. Trotz der in Art II Abs 2 vorgesehenen grundsätzlichen Möglichkeit zur Vollstreckung auch von Entscheidungen „unterer“ Gerichte („Dieser Vertrag schließt nicht aus …“) kommt eine Vollstreckung der Entscheidung eines britischen „unteren“ Gerichts in Österreich mangels qualifizierter Gegenseitigkeit (§ 406 EO) nicht in Betracht (RS0002320).

[13] 5.3. Da der Klägerin im vorliegenden Fall im Hinblick auf die geringe Höhe ihrer Forderung die Erlangung einer Entscheidung eines britischen „oberen Gerichts“ kaum möglich sein wird, ist von einer faktischen Unmöglichkeit der Exekutionsführung in Österreich aufgrund eines im Vereinigten Königreich erlangten Titels auszugehen (ähnlich bereits 1 Nd 502/85 JBl 1986, 191 [zust Pfersmann] = SZ 58/109).

[14] 6. Insgesamt sind damit die Voraussetzungen für eine Ordination nach § 28 Abs 1 Z 2 JN als erfüllt anzusehen (so auch 7 Nc 7/22x, 2 Nc 11/22y, 5 Nc 5/22p, 6 Nc 1/22g und 10 Nc 6/22x [je Sitz der Airline im Vereinigten Königreich]).

[15] 7. Bei der Auswahl des zu bestimmenden Gerichts ist auf die Kriterien der Sach- und Parteinähe sowie der Zweckmäßigkeit Bedacht zu nehmen (RS0106680 [T13]). Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben hat eine Zuweisung an das Bezirksgericht Schwechat zu erfolgen, lag doch zum einen der Abflugort in dessen Sprengel; zum anderen wurde die Klage bereits bei diesem Gericht behandelt (2 Nc 12/19s und 6 Nc 31/20s je mwN).

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