AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1 Z2
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z1
BFA-VG §19
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1a
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2024:I425.2300636.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Philipp RAFFL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Tunesien, vertreten durch RA Mag. Veap ELMAZI, LL.M., Annagasse 3a/29, 1010 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.09.2024, Zl. XXXX , zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet ein und stellte am 22.07.2024 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Rahmen seiner am darauffolgenden Tag stattfindenden Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes damit begründete, dass er seinen Herkunftsstaat Tunesien aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage verlassen habe. Seine Mutter sei an Krebs erkrankt und wolle er deren medizinische Behandlung finanzieren, weswegen er arbeiten und Geld in seine Heimat schicken wolle. Dies seien all seine Fluchtgründe. Im Falle seiner Rückkehr befürchte er Armut und Arbeitslosigkeit.
Am 16.09.2024 wurde der Beschwerdeführer niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA / belangte Behörde) einvernommen. Hierbei gab er hinsichtlich seiner Fluchtgründe zu Protokoll, dass er in Tunesien einsam sei, er habe dort niemanden, keine Freunde und sei isoliert. Da er keine Religion habe, sei er gesellschaftlich nicht akzeptiert und auch geschlagen worden, persönlich bedroht worden sei er jedoch nie und sei auch sein Leben nicht in Gefahr. Zudem machte er Gesundheitsbeeinträchtigungen in Form von Problemen mit dem Verdauungstrakt geltend.
Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 17.09.2024 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Tunesien abgewiesen (Spruchpunkt II.). Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz wurde ihm gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Tunesien zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.) und einer Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.). Dem Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers wurde hierbei jegliche Asylrelevanz versagt und eine wie auch immer geartete Rückkehrgefährdung in Bezug auf seine Person verneint.
Gegen den gegenständlich angefochtenen Bescheid wurde fristgerecht mit Schriftsatz vom 30.09.2024 vollumfänglich Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben und hierbei dessen inhaltliche Rechtswidrigkeit sowie Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert. Es wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass der Atheismus bzw. die Nichtzugehörigkeit des Beschwerdeführers zum islamischen Glauben der Grund für das Verlassen seines Herkunftsstaates gewesen sei. Er sei wiederholt von Menschen islamischen Glaubens in seiner Umgebung geschlagen und ständig diskriminiert worden, könne deswegen in Tunesien keine Beschäftigung finden und sei es ihm auch nicht möglich, staatliche Akte wie die Verehelichung in Anspruch zu nehmen. Zwar handle es sich um keine vom tunesischen Staat ausgehende Verfolgung, jedoch könne der Staat den Beschwerdeführer vor einer Privatverfolgung auch nicht schützen. Dem Beschwerdeführer drohe aufgrund seiner Nichtzugehörigkeit zum Islam unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung, zudem befinde er sich in einem schlechten, in Tunesien nicht behandelbaren Gesundheitszustand.
Beschwerde und Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 11.10.2024 vorgelegt und langten am 14.10.2024 in der Gerichtsabteilung des erkennenden Richters ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weitere Feststellungen getroffen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatangehöriger von Tunesien, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und Atheist. Er ist ledig und hat keine Sorgepflichten. Seine Identität steht nicht fest.
Der Beschwerdeführer leidet an keiner schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Gesundheitsbeeinträchtigung. Er leidet seit etwa zwei Jahren an niederschwelligen, rezidivierenden Problemen in Zusammenhang mit dem Verdauungstrakt, wofür er sich bereits in seinem Herkunftsstaat und später in Serbien in medikamentöser Behandlung befand. Er nimmt nicht regelmäßig Medikamente ein und ist sein Laborbefund unauffällig. Er ist uneingeschränkt erwerbsfähig.
Der Beschwerdeführer stammt aus XXXX , wo er bis zu seiner Ausreise zeitlebens gelebt hat. Er hat in seinem Herkunftsstaat dreizehn Jahre die Schule mit einem Schwerpunkt für Wirtschaftsmanagement besucht und seinen Lebensunterhalt in Bars als Kellner sowie durch diverse Hilfsarbeiten bestritten. Er hat mit seiner Mutter zusammengelebt, die an einer Krebserkrankung leidet. Seine Eltern sind geschieden. Sein Vater, zwei Brüder und eine Schwester des Beschwerdeführers leben ebenfalls nach wie vor in Tunesien, jedoch hat er nur zu seiner Mutter ein enges Verhältnis.
Im Herbst 2022 reiste der Beschwerdeführer legal unter Verwendung seines tunesischen Reisepasses in die Türke aus, wo er sich in der Folge für etwa zwei Monate aufhielt, ehe er von dort nach Serbien weiterreiste. In Serbien war er mehr als ein Jahr aufhältig, stellte dort jedoch keinen Asylantrag, sondern reiste schlussendlich im Sommer 2024 unter Umgehung der Grenzkontrollen über Ungarn nach Österreich weiter, wo er am 22.07.2024 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz einbrachte.
Seit 23.07.2024 ist der Beschwerdeführer im Bundesgebiet hauptgemeldet, zunächst für drei Tage in einem Flüchtlingsquartier der BBU, und seit 26.07.2024 laufend bei seiner Freundin. Hierbei handelt es sich um die griechische Staatsangehörige A.I. (IFA-Zl. XXXX ), die seit Mai 2022 in Österreich lebt und sich hier rechtmäßig aufgrund einer Anmeldebescheinigung (Arbeitnehmerin) aufhält. Der Beschwerdeführer und A.I. hatten sich im Juli 2023 während seines Serbien-Aufenthaltes auf einem Technofestival in XXXX kennengelernt, hielten in der Folge über Monate nur telefonischen Kontakt und gingen schlussendlich eine Fernbeziehung ein. Nach dem Festival im Juli 2023 hat der Beschwerdeführer A.I. erst wieder nach seiner Einreise in Österreich im Juli 2024 gesehen, wo er bereits nach wenigen Tagen bei ihr einzog und seitdem bei ihr lebt und von ihr finanziell unterstützt wird. Der Beschwerdeführer bezieht keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung, einer angemeldeten Erwerbstätigkeit ging er im Bundesgebiet ebenfalls zu keinem Zeitpunkt nach.
Abgesehen von A.I. hat der Beschwerdeführer in Österreich keine weiteren familiären oder maßgeblichen privaten Anknüpfungspunkte und weist er auch keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher oder gesellschaftlicher Hinsicht auf. Insbesondere hat er keinen Nachweis über einen besuchten Deutschkurs oder eine erfolgreich abgelegte Sprachprüfung erbracht und ist er auch nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation.
Er ist strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zum Fluchtvorbringen und einer Rückkehrgefährdung des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist in Tunesien nicht der Gefahr einer individuellen Verfolgung oder Bedrohung aufgrund seines Atheismus bzw. seiner Nichtzugehörigkeit zum islamischen Glauben ausgesetzt.
Es besteht auch keine reale Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Tunesien einer wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein wird. Weder wird ihm seine Lebensgrundlage gänzlich entzogen, noch besteht für ihn die reale Gefahr einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes.
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Gemäß § 1 Z 11 HStV (Herkunftsstaaten-Verordnung) gilt Tunesien als sicherer Herkunftsstaat.
Zur aktuellen Lage in Tunesien werden folgende Feststellungen getroffen:
Politische Lage
Tunesien befindet sich aktuell in einer schweren politischen und einer sich verschlimmernden wirtschaftlichen und finanziellen Krise (AA 22.6.2023).
Unter Berufung des Notstandsartikel 80 der Verfassung von 2014, hat Staatspräsident Kaïs Saïed am 25.7.2021 das tunesische Parlament suspendiert und später ganz aufgelöst (AA 22.6.2023).
Am 22.9.2021 hat Präsident Saïed per Präsidialdekret (Nr. 117) eine vorläufige öffentliche Ordnung erlassen, welche die bis dahin gültige Verfassung von 2014 weitestgehend ausgesetzt hat. In der Nacht vom 12./13.2.2022 hat er per Dekret den 2016 zur Garantie der Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit der Justiz gegründeten „Obersten Justizrat“ aufgelöst und durch ein vorläufiges Gremium ersetzt, das personell weitgehend seiner Kontrolle untersteht. Dadurch hat er sich weitgehende Einflussmöglichkeiten auf die Justiz gesichert (AA 22.6.2023). Am 22.4.2022 und auch am 10.5.2023 verfügte Präsident Saïed Änderungen an der Unabhängigen Hohen Wahlkommission (ISIE), dem Wahlaufsichtsgremium, das dem Präsidenten und nicht dem Parlament die Befugnis gab, ISIE-Mitglieder zu ernennen und ihren Haushalt zu genehmigen. Oppositionsparteien kritisierten den Schritt als Untergrabung der Unabhängigkeit der Kommission und der Integrität künftiger Wahlen. Die Zusammensetzung des ISIE-Vorstands hatte sich bis zum Jahresende 2022 nicht geändert (USDOS 20.3.2023).
Am 25.7.2022 wurde eine neue Verfassung per Referendum angenommen (95 % Zustimmung bei 30 % Wahlbeteiligung) (AA 22.6.2023). Diese Verfassung räumt dem Staatspräsidenten weitreichende Macht ein (BMEIA 5.6.2023). Mehrere etablierte politische Parteien forderten ihre Anhänger auf, das Referendum zu boykottieren, um ihre Ablehnung sowohl der Machtkonzentration des Präsidentenamtes in der vorgeschlagenen Verfassung als auch der Aufhebung der verfassungsmäßigen Ordnung und der Verhängung „außergewöhnlicher Maßnahmen“ durch Präsident Kaïs Saïed zum Ausdruck zu bringen (USDOS 20.3.2023). Gemäß der neuen Verfassung von 2022 ist Tunesien eine Präsidialrepublik mit einem Zweikammerparlament (USDOS 20.3.2023).
Im Herbst 2022 kündigte Saïed Parlamentswahlen an, die Ende Dezember auf der Grundlage einer neuen Verfassung und eines neuen Wahlgesetzes stattfinden sollten (FH 13.4.2023). Diese waren von weiteren zunehmenden Spannungen und Streiks geprägt. Organisationen und Aktivisten riefen zum Boykott der Wahlen auf, weil sie diese als Bedrohung für die Demokratie betrachteten (TI 31.1.2023). Das neue Parlament würde 161 Mitglieder haben, die in Einzelwahlkreisen gewählt werden, darunter 10 Vertreter der im Ausland lebenden Tunesier (FH 13.4.2023). Die Wahlbeteiligung bei den Legislativwahlen im Dezember 2022/Jänner 2023 erreichte mit ca. 11 % einen weltweiten historischen Negativrekord; viele politische Parteien boykottierten die Wahlen (AA 22.6.2023; vgl. USDOS 20.3.2023). Nur 1.058 Kandidaten traten an - ein starker Rückgang gegenüber früheren Parlamentswahlen. Die extrem niedrige Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang war wegen der zum großen Teil auf die strengen Beschränkungen für die Kandidatur und den von den großen Oppositionsparteien angeführten Boykott zurückzuführen. In zehn Wahlkreisen gab es nur einen zugelassenen Kandidaten, und für sieben der Sitze für im Ausland lebende Wähler gab es überhaupt keine Kandidaten. Nach dem ersten Wahlgang standen nur 21 Kandidaten als Sieger fest, und ein zweiter Wahlgang wurde für Jänner 2023 angesetzt. Bis zum 28.12.2022 wurden mindestens 57 Einsprüche gegen die ersten Ergebnisse bei der Unabhängigen Hohen Behörde für Wahlen (ISIE) eingereicht (FH 13.4.2023). Im März 2023 trat das mit geringer Beteiligung gewählte Parlament zusammen (BMEIA 5.6.2023). Am 13.3.2023 kam das neu gewählte Parlament zu seiner ersten Sitzung zusammen. Ausländische und unabhängige Journalistinnen und Journalisten durften auf Anweisung von Präsident Kaïs Saïed das Parlamentsgebäude nicht betreten, sodass nur staatliche Medien und Nachrichtenagenturen zugelassen waren. Als offizielle Begründung wurde angeführt, dass damit mögliche Unruhen verhindert werden sollten. Vor dem Parlamentsgebäude kam es zu Protesten. Zudem äußerte die Opposition erneute Kritik an der Legitimität der Wahl und an den Verhaftungen von Regierungskritikern in den vergangenen Wochen. Die hohe unabhängige Behörde für audiovisuelle Kommunikation (Haute Autorité Indépendante de la Communication Audiovisuelle, HAICA) und die tunesische Journalismusgewerkschaft (Syndicat National de Journalistes Tunisiens, SNJT) protestierten gegen die Medienzensur (BAMF 20.3.2023).
Obwohl Präsident Kaïs Saïed Anfang Feber 2023 noch ein hartes Durchgreifen gegen Migranten ankündigte, beschlossen die EU und Tunesien eine noch stärkere Zusammenarbeit beim Thema Migration. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Regierungschefs der Niederlande und Italiens sowie Tunesiens Präsident Kaïs Saïed verkündeten am Sonntag, den 16.7.2023 in Tunis die Unterzeichnung einer entsprechenden Absichtserklärung. Die EU-Kommission kann somit auch Finanzhilfen in Höhe von bis zu 900 Millionen Euro dafür aufbringen. Im Gegenzug soll Tunesien zukünftig stärker gegen Schlepper und illegale Überfahrten vorgehen (ZDF 16.7.2023; vgl. Standard 16.7.2023).
Allerdings schloss Saïed auch aus, Tunesien zu einer Grenzpolizei für Europa werden zu lassen. Tunesiens Regierung sieht eine langfristige Ansiedlung von Migranten im Land zudem kritisch. Viele Tunesier fürchten, dass genau dies das Ergebnis des EU-Deals sein könnte. Die Absichtserklärung ist in den Verhandlungen ein wichtiger Schritt nach vorne. Davor braucht es aber auch noch einen Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) in der Höhe von 1,9 Milliarden Dollar. Dieser hängt jedoch noch in der Luft, weil Präsident Saïed keine verbindliche Zusage zu den dafür verlangten Reformen machen will (ZDF 16.7.2023; vgl. der Standard 16.7.2023).
Aktuell kann Tunesien somit nicht als Demokratie im klassischen Sinne gelten, sondern als Autokratie mit verbleibenden demokratisch-rechtstaatlichen Elementen. In der vorläufigen öffentlichen Ordnung wurden fast alle Grundrechtsartikel quasi wortgleich aus der Verfassung von 2014 übernommen. Allerdings ist unklar, inwieweit diese Rechte tatsächlich gewährleistet werden, da z. B. keine Unabhängigkeit der Justiz mehr gegeben ist und es kein einem Verfassungsgericht vergleichbares Organ gibt. Die Zustimmungswerte von Staatspräsident Saïed haben sich gegenüber ihrem Höchststand unmittelbar nach dem 25.7.2021 mehr als halbiert (AA 22.6.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (20.3.2023): Briefing Notes https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/EN/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2023/briefingnotes-kw12-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 27.6.2023
BMEIA - Bundesministerium Europäische und internationale Angelegenheiten [Österreich] (5.6.2023): Tunesien (Tunesische Republik), https://www.bmeia.gv.at/reise-services/reiseinformation/land/tunesien/ , Zugriff 7.6.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
Standard (16.7.2023): EU und Tunesien erzielen Einigung beim Thema Migration, https://www.derstandard.at/story/3000000179200/eu-und-tunesien-erzielen-einigung-beim-thema-migration , Zugriff 17.7.2023
TI - Transparency International (31.1.2023): CPI 2022 for Middle East & North Africa: Corruption fuels ongoing conflict, Tunisia, https://www.transparency.org/en/news/cpi-2022-middle-east-north-africa-corruption-fuels-ongoing-conflict , Zugriff 25.5.2023
ZDF - Zweites Deutsches Fernsehen (16.7.2023): Engere Zusammenarbeit vereinbart: Migration: EU und Tunesien erzielen Einigung, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/migration-abkommen-tunesien-eu-100.html , Zugriff 17.7.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Tunesien ist vor allem in den südlichen Wüstengebieten (Grenze zu Libyen und Algerien) angespannt, sowie entlang der Grenze zu Algerien im Westen des Landes, dort vor allem im Gebiet um den Jebel Chaambi westlich von Kasserine. Das Risiko von terroristischen Anschlägen ist weiterhin gegeben, es ist aber eine spürbare Verringerung in den letzten Jahren feststellbar. Das Jahr 2015 bildete mit drei großen Anschlägen einen Höhepunkt, seitdem und vor allem 2021 und 2022 kam es zu einer deutlichen Reduktion terroristischer Aktivitäten. Gefahr geht dabei vorwiegend von Rückkehrern aus, v. a. aus Libyen. Die Terrorismusbekämpfung und die Sicherheit an den Grenzen gehören somit weiterhin zu den wichtigsten Prioritäten der tunesischen Regierung. Die tunesischen Behörden haben eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um Terrorzellen zu zerschlagen, insbesondere wurde die Präsenz der Sicherheitskräfte im Land erhöht. Die Zahl der Terroranschläge in Tunesien ist in der Folge in den letzten Jahren zurückgegangen, da sich die Sicherheitsstrukturen des Landes erheblich verbessert haben, was zu einer Stabilisierung der Lage geführt hat. Dies ist auch an statistischen Auswertungen des Global Terrorism Index der Jahre 2021 und 2022 ersichtlich (STDOK 11.4.2023).
Die von den bisherigen Regierungen angestrebte Verbesserung der Sicherheitslage im Inneren und der Kampf gegen den Terrorismus bleiben trotz vermehrter Anstrengungen und zahlreichen Verhaftungs- und Durchsuchungsaktionen weiter eine Herausforderung. Nach mehreren Anschlägen 2015 und einem schweren Angriff von IS-Milizen auf die Grenzstadt Ben Guerdane im März 2016 hat sich die Sicherheitslage zwar verbessert (AA 22.6.2023), bleibt jedoch besonders angespannt (AA 13.7.2023) und es kommt immer wieder zu Anschlägen (AA 22.6.2023). Mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz in diesen Regionen ist zu rechnen (AA 13.7.2023). Zuletzt im Mai 2023, verübte ein Angehöriger der maritimen Nationalgarde einen Anschlag während einer jüdischen Wallfahrt an der La Ghriba-Synagoge und tötet 5 Menschen (AA 22.6.2023).
Im Westen des Landes ist mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz zu rechnen, es kommt zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Terroristengruppen (BMEIA 5.6.2023).
Laut österreichischem Außenministerium gilt (für österreichische Staatsbürger) eine partielle Reisewarnung (Sicherheitsstufe 5) für die Saharagebiete, das Grenzgebiet zu Algerien und die westlichen Landesteile. Reisewarnungen bestehen für die Region südlich der Orte Tozeur – Douz – Ksar Ghilane – Tataouine – Zarzis. Mit gewaltsamen Aktionen terroristischer Organisationen ist zu rechnen. Das militärische Sperrgebiet an der Grenze zu Algerien in der Nähe des Berges Chaambi ist teilweise vermint und kann von den Sicherheitskräften kurzfristig ausgedehnt werden. Im Westen des Landes ist mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz zu rechnen; es finden bewaffnete Auseinandersetzungen mit Terroristengruppen statt (BMEIA 5.6.2023). Die Behörden haben insbesondere die Präsenz der Sicherheitskräfte im Land erhöht, vor allem in den Touristenorten (EDA 9.5.2023; vgl. BMEIA 5.6.2023).
Im Juni 2022 wurden zwei Sicherheitskräfte bei einem Messerangriff im Zentrum von Tunis verletzt und bereits im Jänner kam es zu einem Messerangriff in einem Tram bei Tunis (EDA 9.5.2023).
Der nach der Attentatsserie von 2015 verhängte Ausnahmezustand ist nach wie vor in Kraft, wird regelmäßig verlängert und gilt im ganzen Land (AA 24.5.2023). Er gewährt den Sicherheitsbehörden einen erweiterten Handlungsspielraum, der von der Zivilgesellschaft kritisch beobachtet wird (ÖB 10.2022; vgl. FH 13.4.2023). Die Behörden verfügen somit über eine weitreichende Erlaubnis, die Bewegungsfreiheit von Einzelpersonen einzuschränken, und Tausende von Menschen sind von solchen Verfügungen betroffen (FH 13.4.2023). Mit vermehrten Polizeikontrollen ist landesweit zu rechnen (AA 13.7.2023).
Landesweit kommt es regelmäßig zu vor allem wirtschaftlich und sozial motivierten, oftmals spontanen Protesten, die nicht selten auch in Gewalt umschlagen. Gegen den Staatsumbau von Staatspräsident Saïed kam es im Laufe des Jahres 2022 und rund um die Parlamentswahlen zu Jahresbeginn 2023 zu regelmäßigen Protesten von Ennahdha und anderen Oppositionsparteien/-bündnissen, die jedoch friedlich blieben und derzeit merklich abgeflaut sind (AA 22.6.2023). Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften können dabei nicht ausgeschlossen werden (AA 13.7.2023).
Ferner besteht südlich, bzw. südöstlich in den Sperrzonen der Grenzgebiete zu Algerien und Libyen sowie abseits der Touristenzentren am Rande der Sahara ein erhöhtes Entführungsrisiko (BMEIA 5.6.2023; vgl. AA 13.7.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.7.2023): Tunesien: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tunesiensicherheit/219024 , Zugriff 13.7.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
BMEIA - Bundesministerium Europäische und internationale Angelegenheiten [Österreich] (5.6.2023): Tunesien (Tunesische Republik), https://www.bmeia.gv.at/reise-services/reiseinformation/land/tunesien/ , Zugriff 7.6.2023
EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (9.5.2023): Reisehinweise für Tunesien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tunesien/reisehinweise-fuertunesien.html#eda931a7d , Zugriff 7.6.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
STDOK - Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (11.4.2023): Themenbericht intern: Nordafrika - Terrorismus in Ägypten, Libyen, Marokko und Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2090998/NAFR_THEM_Terrorismus_2023_04_11_KE.pdf , Zugriff 13.7.2023
Rechtsschutz / Justizwesen
Das Gesetz sieht eine unabhängige Justiz vor, aber die Regierung respektiert die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz nicht (USDOS 22.3.2023). Im September 2021 setzte Präsident Saïed die Verfassung von 2014 größtenteils außer Kraft und erteilte sich selbst nahezu unbegrenzte Befugnisse, um per Dekret zu regieren. Er nutzte diese Befugnis zur Konsolidierung der Macht im Jahr 2022, indem er eine Reihe von regressiven Reformen einführte und die Unabhängigkeit der Justiz untergrub (HRW 12.1.2023). Die nur langsam voranschreitende Justizreform war und ist eine der wichtigsten Säulen des tunesischen Transitionsprozesses. Das Programm zur Unterstützung der Justizreform (PARJ) dessen Finanzierungsvereinbarung den Reformprozess der Regierung erleichtern und die Rechtsstaatlichkeit in Tunesien stärken sollte, ist zum Stillstand gekommen. Zwischen den Prinzipien der Verfassung und den Gesetzen, die in Tunesien tatsächlich in Kraft sind, gibt es noch große Diskrepanzen (ÖB 10.2022). In der neuen Verfassung sind zwar viele Rechte verankert, doch wurden die für ihren Schutz erforderlichen Kontrollmechanismen ausgehebelt. Die Unabhängigkeit der Justiz und des Verfassungsgerichts wird nicht vollständig gewährleistet (HRW 12.1.2023).
Bereits im September 2021 setzte Präsident Saied die Verfassung von 2014 größtenteils außer Kraft und erteilte sich selbst nahezu unbegrenzte Befugnisse, um per Dekret zu regieren (HRW 12.1.2023). Ferner nutze Saïed diese Befugnisse und führte eine Reihe von regressiven Reformen ein, welche die Unabhängigkeit der Justiz untergruben. In der neuen Verfassung sind zwar viele Rechte verankert, doch werden die für ihren Schutz erforderlichen Kontrollmechanismen ausgehebelt. Die Unabhängigkeit der Justiz und des Verfassungsgerichts, das Tunesien erst noch einrichten muss, wird nicht vollständig gewährleistet (HRW 12.1.2023; vgl. AI 27.3.2023). Aktivisten der Zivilgesellschaft erklärten, dass das Versäumnis der Regierung, ein Verfassungsgericht einzurichten, das Land ohne Kontrolle der Exekutivgewalt und ohne eine unabhängige Instanz zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen, insbesondere in Bezug auf die Grundfreiheiten und die Rechte des Einzelnen, dastehen lässt (USDOS 20.3.2023). Die neue im August 2022 in Kraft getretene Verfassung stellt einen weiteren Schritt des Präsidenten Richtung Autoritarismus dar. Darüber hinaus untersagt die Verfassung Richtern zu streiken und schränkt damit ihr Recht auf friedliche Versammlung und Protest erheblich ein (ÖB 10.2022).
Die Regierungen und Gesetzgeber haben es jedoch wiederholt versäumt, den Verfassungsgerichtshof einzurichten, wie es die Verfassung von 2014 vorsieht; seine Aufgabe wäre es gewesen, die Verfassungsmäßigkeit von Verordnungen und Gesetzen zu bewerten. Das Fehlen eines solchen Gerichts wurde 2021 besonders problematisch, da es keinen maßgeblichen Mechanismus gab, um die Verfassungsmäßigkeit der Notstandsmaßnahmen von Saïed zu beurteilen (FH 13.4.2023). Die neue Verfassung enthält zwar Bestimmungen zur Schaffung eines solchen Gerichts, räumt aber dem Präsidenten das letzte Wort bei der Ernennung der Mitglieder ein (AI 27.3.2023).
Am 12.2.2022 löste Saïed den Obersten Justizrat (High Judicial Council- HJC) auf (USDOS 20.3.2023; vgl. HRW 12.1.2023, FH 13.4.2023). Der Oberste Justizrat war das höchste Gremium der tunesischen Justiz und überwachte die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten, ihre Disziplin und ihre berufliche Entwicklung. Präsident Saïed ersetzte den Obersten Justizrat durch ein provisorisches Gremium, das zum Teil vom Präsidenten ernannt wurde, und erteilte sich selbst die Befugnis, in die Ernennung, Laufbahn und Entlassung von Richtern und Staatsanwälten einzugreifen (HRW 12.1.2023). Präsident Kaïs Saïed hat sich dadurch weitgehende Einflussmöglichkeiten auf die Justiz gesichert (AA 22.6.2023).
Während die neue Verfassung sowohl den Obersten Justizrat als auch das Verfassungsgericht dem Namen nach beibehält, räumt sie dem Präsidenten die endgültige Befugnis zur Ernennung von Richtern auf Vorschlag des Obersten Justizrates ein, während die Charta von 2014 die Ernennungsempfehlungen des Obersten Justizrates für die Exekutive verbindlich gemacht hatte. Darüber hinaus wurde in der neuen Verfassung eine Klausel der Verfassung von 2014 gestrichen, die dem Verfassungsgerichtshof die Befugnis einräumte, über den Umfang der Befugnisse des Präsidenten zu entscheiden (FH 13.4.2023).
Am 1.7.2022 erließ Saïed ein Dekret, das die Unabhängigkeit der Justiz weiter aushöhlte (HRW 12.1.2023; vgl. AA 22.6.2023) und entließ einseitig 57 Richter, darunter den ehemaligen Präsidenten des Obersten Justizrats, nachdem er Korruptions- und andere Fehlverhaltensvorwürfe erhoben hatte, von denen Kritiker bezweifelten, dass sie tatsächlich begründet seien. Zivilgesellschaftliche Organisationen wiesen weitgehend Behauptungen zurück, die Entlassungen hätten irgendetwas mit Antikorruptionsbemühungen zu tun und behaupteten, die Entlassungen seien ein Vorwand gewesen, um freie Stellen in der Justiz mit Richtern zu besetzen, die den Präsidenten eindeutig unterstützen würden. Ab dem 6.6.2022 startete die Vereinigung tunesischer Richter (AMT) einen vierwöchigen landesweiten Streik aus Protest gegen die Entlassungen. Während des Streiks setzte das AMT Gerichtsverfahren außer in Fällen im Zusammenhang mit Terrorismus und Bestattungsgenehmigungen aus (USDOS 20.3.2023).
Am 25.7.2022 ordnete Präsident Saïed ein nationales Referendum über einen neuen Verfassungsentwurf an, der die Verfassung von 2014 ersetzen soll. Saïeds Verfassungsentwurf wurde von einem Gremium ausgearbeitet, dessen Mitglieder der Präsident selbst ernannte und das hinter verschlossenen Türen arbeitete und kaum oder gar keine Beiträge von anderen einholte. Der Entwurf wurde nur drei Wochen vor dem Referendum veröffentlicht, sodass praktisch keine Zeit für eine öffentliche Debatte blieb. Die neue Verfassung wurde am 26.7.2022 von 94,6 % der Wahlberechtigten angenommen, bei einer Wahlbeteiligung von nur 30,5 %. Sie trat am 17.8.2022 nach Bekanntgabe der endgültigen Ergebnisse in Kraft (HRW 12.1.2023).
Allerdings setzte das Verwaltungsgericht Tunis am 10.8.2022 die Entscheidung des Präsidenten in Bezug auf 49 der 57 Richter aus und ordnete ihre Wiedereinstellung an. Aber das Justizministerium weigerte sich, die Richter wieder einzustellen (HRW 12.1.2023; vgl. AI 27.3.2023).
Am 22.9.2022 fällte der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker ein wichtiges Urteil, in dem er feststellte, dass die von Saïed getroffenen außergewöhnlichen Maßnahmen unverhältnismäßig waren. Das Gericht ordnete die Aufhebung mehrerer Dekrete an, einschließlich des Dekrets, mit dem der größte Teil der Verfassung von 2014 außer Kraft gesetzt wurde, und ordnete die Einrichtung des Verfassungsgerichts innerhalb von zwei Jahren an (HRW 12.1.2023).
Dem Justizsystem mangelt es an Effizienz und Unabhängigkeit; lange Verfahrensdauer, mangelnde Beachtung der Prozedere und Kapazität haben einen Vertrauensverlust in der Bevölkerung zur Folge. Die heikle Sanierung in Richtung einer unabhängigen und professionellen Justiz ist dringend geboten, um Korruption und Steuerflucht effizient zu bekämpfen. Das Fehlen eines Verfassungsgerichtshofs wird auch international angeprangert (ÖB 10.2022).
Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist gesetzlich verankert, und die unabhängige Justiz setzt dieses Recht im Allgemeinen durch, obwohl sich Angeklagte darüber beschweren, dass die Behörden die gesetzlichen Bestimmungen über die Gerichtsverfahren nicht konsequent befolgen. Vor zivilen Gerichten haben Angeklagte das Recht auf die Unschuldsvermutung. Sie haben auch das Recht, einen Anwalt zu konsultieren oder auf öffentliche Kosten einen Anwalt stellen zu lassen, Zeugen und Beweise vorzulegen und Urteile gegen sie anzufechten. Das Gesetz schreibt vor, dass Angeklagte unverzüglich und detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe informiert werden müssen, gegebenenfalls mit freier Auslegung. Sie müssen auch ausreichend Zeit und Gelegenheit erhalten, ihre Verteidigung vorzubereiten, und dürfen nicht gezwungen werden, auszusagen oder Schuld zu bekennen (USDOS 20.3.2023).
Die Militärgerichte verfolgten weiterhin Zivilisten, allerdings seltener als im Jahr 2021 (AI 27.3.2023). Militärgerichte sind befugt, Fälle zu verhandeln, in denen es um Angehörige der Sicherheits- oder Streitkräfte und Zivilisten geht, denen nationale Sicherheitsverbrechen oder Straftaten wie die Beleidigung des Präsidenten (als Oberbefehlshaber der Streitkräfte) oder anderer Militärangehöriger vorgeworfen werden. Berufungen gegen Entscheidungen der Militärgerichte, an denen Zivilisten beteiligt sind, werden vom Kassationsgericht, dem höchsten Berufungsgericht des Landes, verhandelt und sind Teil des zivilen Justizsystems (USDOS 20.3.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
AI - Amnesty International (27.6.2023): The Human Rights Council should address the rapidly growing human rights crisis in Tunisia, https://www.amnesty.org/en/wp-content/uploads/2023/06/MDE3069262023ENGLISH.pdf , Zugriff 9.7.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085505.html , Zugriff 30.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
Sicherheitsbehörden
Dem Innenministerium untersteht die Nationalpolizei und übt die Exekutivfunktion bzw. Strafverfolgung in Großstädten aus. Die Nationalgarde bzw. Gendarmerie übt die Exekutivfunktion in ländlichen Gebieten und kleineren Städten aus, patrouilliert dort und übernimmt die Grenzsicherung. Zivile Behörden kontrollieren den Sicherheitsapparat, wiewohl es weiterhin regelmäßig zu ungestraften Übergriffen durch die Sicherheitskräfte kommt (USDOS 20.3.2023; vgl. AI 27.3.2023, CIA 16.5.2023). Die Behörden haben es weitgehend versäumt, Angehörige der Sicherheitskräfte, denen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, zur Rechenschaft zu ziehen (AI 27.3.2023). Es gibt seit langem Beschwerden über Brutalität seitens der Polizei, wobei die Beamten beschuldigt werden, Zivilisten und Inhaftierte ungestraft zu misshandeln (FH 13.4.2023). Die Sicherheitskräfte unterbinden regelmäßig Demonstrationen, indem sie den Zugang zu bestimmten Orten blockieren und übermäßige Gewalt anwenden, um Demonstranten zu vertreiben (HRW 12.1.2023). Die Polizeigewerkschaften haben sich einer Reform widersetzt, mit der das Problem angegangen werden sollte (FH 13.4.2023). Die Regierung unternimmt Schritte, um gegen Beamte zu ermitteln, die mutmaßlich Übergriffe begangen haben, aber die diesbezüglichen Untersuchungen sind nicht transparent und es kommt häufig zu langen Verzögerungen und verfahrenstechnischen Hindernissen (USDOS 20.3.2023).
Der Sicherheitsapparat war unter dem Ben-Ali-Regime allgegenwärtig und sicherte dessen Machterhalt. Die Rolle der Sicherheitskräfte während des Umsturzes aber teilweise auch bei gewaltsam aufgelösten Demonstrationen gegen die ersten beiden Interimsregierungen im Frühjahr 2011 vertieften den Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber den Sicherheitsorganen, insbesondere der Polizei und den Sondereinheiten des Innenministeriums. Zwar wurde die Geheimpolizei („police politique“) aufgelöst, allerdings steht eine umfassende Reform des Innenministeriums und der nachgeordneten Behörden bis heute aus. Die Sicherheitskräfte stehen immer wieder in der Kritik; es mangelt an Transparenz, zudem hält die Straflosigkeit für Vergehen der Sicherheitskräfte an (AA 22.6.2023).
Das Militär genießt aufgrund seiner zurückhaltenden Rolle während der Revolution 2011 ein sehr hohes Ansehen in der Bevölkerung, welches bis dato anhält. Durch die derzeit starke Einbindung des Militärs in den Antiterrorkampf als auch bei der Sicherung der Grenzen (so ist z. B. der Süden Tunesiens militärische Sperrzone) ist das Militär nach wie vor wichtiger Stützpfeiler der äußeren, aber auch der inneren Sicherheit (AA 22.6.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
AI - Amnesty International (27.3.2023): Amnesty International Report 2022/23; The State of the World's Human Rights; Tunisia 2022, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089657.html , Zugriff 9.7.2023
CIA - Central Intelligence Agency [USA] (21.6.2023): The World Factbook, Tunisia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/tunisia/ , Zugriff 30.6.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085505.html , Zugriff 30.5.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
Folter und unmenschliche Behandlung
Artikel 25 der tunesischen Verfassung garantiert den Schutz der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit, verbietet seelische oder körperliche Folter und schließt eine Verjährung des Verbrechens der Folter aus. Mit der Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe am 29.6.2011 hat sich Tunesien zur Einrichtung eines nationalen Präventionsmechanismus verpflichtet. Eine innerstaatliche gesetzliche Grundlage wurde 2013 geschaffen. 2016 schließlich wählte das Parlament die Mitglieder der neuen Nationalen Instanz zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung. Zu ihren Hauptaufgaben gehören unangemeldete Besuche an allen Orten des Freiheitsentzugs, das Entgegennehmen und Weiterleiten von Beschwerden an die Justizbehörden sowie die Abgabe von Empfehlungen zur Behebung von Missständen (AA 22.6.2023). Im Juni 2011 ist Tunesien als erster nordafrikanischer Staat auch dem Fakultativprotokoll zur UN-Anti-Folter-Konvention beigetreten, das vorsieht, dass durch Besuche und Kontrollen nationaler und internationaler Gremien in Gefängnissen und Anstalten der Schutz vor Folter verstärkt wird (ÖB 10.2022). Vorwürfe wegen willkürlicher Inhaftierung, Folter und unmenschlicher Behandlung, vor allem gegenüber den Innenbehörden (seltener gegenüber der Justizvollzugsbehörde) werden in Einzelfällen immer wieder erhoben. 2016 wurde zur Umsetzung des Zusatzprotokolls der UN-Antifolterkonvention die Nationale Instanz zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung (INPT) eingerichtet (AA 22.6.2023).
Zur Überwachung des verfassungsmäßig verankerten Verbots der Folter wurde 2015 die Instance Nationale de Prévention de la Torture - INPT – eingerichtet, welche jüngst wieder bestätigt hat, dass für Folter keine Verjährung gilt. Im Oktober 2020 hat die INPT den unter Artikel 230 immer noch legalisierten Anal-Test bei Verdacht auf Homosexualität als Akt der Folter deklariert (ÖB 10.2022). Dem INPT gehören 16 Mitglieder an, die eine gestaffelte Amtszeit von sechs Jahren haben. Im Juni 2021 wurden acht neue Mitglieder ins Parlament gewählt, ihre Bestätigung verzögerte sich jedoch Berichten zufolge aus politischen Gründen. Zu diesen Mitgliedern gehören pensionierte Richter, Ärzte und Vertreter der Zivilgesellschaft. Am 26.8.2022 vereidigte Premierministerin Najla Bouden acht Mitglieder des 16-köpfigen INPT (USDOS 20.3.2023).
Regelmäßig erhobene Foltervorwürfe insbesondere in Polizeihaft lassen auf das Überleben alter Gewohnheit in den Rängen der Sicherheitskräfte schließen und bleiben häufig straflos. Immer noch führen Fälle von Missbrauch und Folter in Polizei- und Militärgewahrsam zum Tode (ÖB 10.2022). Das INPT hat seit 2020 keinen Jahresbericht mehr herausgegeben. Menschenrechtsorganisationen stellten fest, dass das INPT ein effektiver staatlicher Akteur war, der sich für die Menschenrechte einsetzte und Missbrauchsvorwürfe dokumentierte. Es bestehen jedoch auch Bedenken hinsichtlich der fehlenden Strafverfolgung von Missbräuchen durch die Regierung (USDOS 20.3.2023). Nationale und internationale Medien sowie spezialisierte NGOs wie die Organisation Mondiale contre la Torture (OMCT) oder die Organisation contre la Torture en Tunisie (OCTT) berichten bislang ungehindert über entsprechende Einzelfälle sowie Bestrebungen, rechtliche Schritte gegen die Verantwortlichen einzuleiten. Bislang ist es Berichten zufolge jedoch nur sehr selten gelungen, eine Verurteilung von Amtspersonen oder ehemaligen Amtspersonen wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung zu bewirken (AA 22.6.2023).
Beschwerden wegen Folter oder unmenschlicher Behandlung betreffen weiterhin meistens die Innenbehörden. Die Polizei sieht sich seit Langem mit Vorwürfen konfrontiert, wonach Beamte ungestraft Zivilisten und Inhaftierte misshandeln. Die Polizeigewerkschaften haben sich gegen Reformbemühungen gewehrt, die auf eine Problemlösung abzielen (FH 13.4.2023). Das Gesetz Nr. 05/2016 sieht strengere Regelungen für den Polizeigewahrsam vor. Die Umsetzung bleibt defizitär. Insbesondere erfolgt regelmäßig keine Aufklärung über Rechte (inkl. Rechtsbeistand) (AA 22.6.2023).
Die Polizei geht routinemäßig mit Gewalt gegen öffentliche Demonstrationen vor (FH 13.4.2023). Die Sicherheitskräfte haben wiederholt Demonstrationen unterbunden und exzessive Gewalt anwandten, um Demonstranten zu vertreiben, darunter am 14.1.2022, dem Jahrestag der Revolution von 2011, als die Behörden öffentliche Versammlungen aus gesundheitlichen Gründen verboten (HRW 12.1.2023; vgl. AI 27.3.2023). Am 4.6.2022 hinderte die Polizei mit Metallbarrikaden und chemischem Reizstoffspray Demonstranten daran, sich in der Innenstadt von Tunis vor dem Büro der Wahlkommission zu versammeln und gegen den Präsidenten zu protestieren (AI 27.3.2023; vgl. FH 13.4.2023). Am 22.7.2022, während einer Demonstration gegen das Verfassungsreferendum (HRW 12.1.2023; vgl. FH 13.4.2023), nachdem mehrere Demonstranten versucht hatten, die Absperrungen zu entfernen, kam es zum Einsatz von chemischen Reizstoffe durch die Polizei. Einige Demonstranten wurden mit Schlagstöcken geschlagen und mindestens 11 Personen wurden festgenommen. Die Festgenommenen berichteten Amnesty International von Schlägen durch Polizeibeamte in Gewahrsam. Die Behörden versäumten es weitgehend, Angehörige der Sicherheitskräfte, denen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden, zur Rechenschaft zu ziehen (AI 30.3.2023). Journalisten fotografierten, wie Beamte Schlagstöcke, Tränengas und gepanzerte Fahrzeuge gegen Demonstranten eingesetzt haben (FH 13.4.2023).
Berichten aus erster Hand zufolge, die nationalen und internationalen Organisationen vorgelegt wurden, kam es zu harter körperlicher Misshandlung einiger Häftlinge durch die Nationalpolizei. Mehrere prominente örtliche Menschenrechtsaktivisten verurteilten die von ihnen als Folter bezeichnete Praxis in Polizeistationen und Haftanstalten. Die Tunesische Liga zur Verteidigung der Menschenrechte (LTDH) verzeichnete im Laufe des Jahres 21 mutmaßliche Todesfälle und andere Menschenrechtsverletzungen von Häftlingen in Haftanstalten und Gefängnissen (USDOS 20.3.2023).
Behörden haben Aktivisten, Journalisten, politische Gegner und Nutzer sozialer Medien wegen angeblicher Meinungsdelikte schikaniert, verhaftet und strafrechtlich verfolgt, unter anderem wegen Kritik an Präsident Saied, den Sicherheitskräften oder der Armee. Einige wurden vor Militärgerichte gestellt (HRW 12.1.2023). Am 13.1.2022 wurde der Prozess gegen 14 Polizisten eröffnet, denen vorgeworfen wird, den Tod eines jungen Mannes verursacht zu haben, der laut Zeugenaussagen ertrank, nachdem die Polizei ihn trotz seiner Beteuerungen, er könne nicht schwimmen, in einen Kanal gestoßen hatte. Am 3.11.2022 verurteilte das Gericht zwölf von ihnen wegen Totschlags zu zwei Jahren Gefängnis und sprach zwei von ihnen frei (AI 27.3.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
AI - Amnesty International (27.3.2023): Amnesty International Report 2022/23; The State of the World's Human Rights; Tunisia 2022, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089657.html , Zugriff 9.7.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085505.html , Zugriff 30.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
Korruption
Laut Freedom House herrscht in Tunesien endemische Korruption (FH 13.4.2023). Tunesien ist seit letztem Jahr um vier Punkte zurückgefallen und kommt im Jahr 2022 auf 40 von 100 Punkte (TI 31.1.2023). Auf dem Corruption Perceptions Index von Transparency International (2022) nimmt Tunesien Platz 85 von 180 ein (TI 2023).
Die Nationale Kommission zur Korruptionsbekämpfung (INLUCC) wurde 2011 gegründet und sollte nach der Verfassung von 2014 durch ein ständiges Gremium, die Kommission für gute Regierungsführung und Korruptionsbekämpfung (IBGLCC), ersetzt werden. Obwohl 2017 ein Gesetz zur Einrichtung der IBGLCC verabschiedet wurde, blieb das neue Gremium inaktiv. Das INLUCC setzte seine Tätigkeit mit unzureichender Finanzierung und wenig Befugnissen zur Durchsetzung von Rechtsmitteln fort. Präsident Saïed rechtfertigte seine Machtergreifung im Juli 2021 zum Teil mit dem Argument, dass sie notwendig sei, um die Korruption im politischen Establishment zu beseitigen, aber die nachfolgenden Schritte seiner Regierung veranlassten Kritiker dazu, den Präsidenten zu beschuldigen, die Korruptionsbekämpfung zu instrumentalisieren, um seine politischen Feinde auszuschalten (FH 13.4.2023). So wurde bereits im Juli 2021 der ehemaliger Leiter des von Präsident Saïed aufgelösten Parlaments und Führer der islamistisch inspirierten Ennahda-Partei, Rached Ghannouchi, aufgrund des Verdachts auf Korruption und Geldwäsche in Zusammenhang mit Überweisungen aus dem Ausland an eine mit Ennahda verbundene Wohltätigkeitsorganisation befragt (ÖB 10.2022). Im August 2021 schloss die Polizei die INLUCC-Zentrale (FH 13.4.2023; vgl. USDOS 20.3.2023), und im März 2022 organisierten die INLUCC-Beschäftigten einen Sitzstreik, um gegen die Nichtauszahlung ihrer Gehälter und das Einfrieren ihrer Arbeit zu protestieren. Im Oktober 2022 setzte der Präsident per Dekret Nadia Saadi als vorläufige Leiterin von INLUCC ein, doch die Zukunft der Organisation blieb ungewiss (FH 13.4.2023).
Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen für Korruption durch Beamte vor, aber die Regierung setzt im Allgemeinen das Gesetz nicht effektiv um. Im Laufe des Jahres 2022 gab es zahlreiche Berichte über Korruption in der Regierung, insbesondere das Fordern von Bestechungsgeldern, und einige Parlamentsabgeordnete wurden wegen Korruptionsvorwürfen angeklagt und festgenommen. Im Juni 2022 entließ Präsident Saïed 57 Richter aufgrund von Korruptionsvorwürfen und anderen Anschuldigungen. Die neue Verfassung enthält, anders als die vorherige, keinen Verweis auf die Antikorruptionsbehörde (USDOS 20.3.2023). Die Antikorruptionsgesetzgebung gilt seit jeher als schwach (FH 13.4.2023).
Im März 2022 erließ Präsident Saïed ein Dekret, das das Konzept der "strafrechtlichen Versöhnung" ausweitete und es Geschäftsleuten, die wegen Korruption angeklagt waren, ermöglichte, einer Bestrafung zu entgehen, indem sie Geld für staatliche Projekte bereitstellen. In dieser Ankündigung erklärte der Präsident, 460 Personen hätten dem Land rund 14 Milliarden tunesische Dinar (4,8 Milliarden Dollar) gestohlen (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 13.4.2023). Das Verfahren sollte von einer vom Präsidenten ernannten Kommission geleitet werden (FH 13.4.2023).
Im Juli 2022 erhoben sich Demonstranten als Reaktion auf Saieds Missbräuche im Vorfeld einer geplanten Abstimmung zur Annahme einer neuen Verfassung, die die Exekutivbefugnisse erheblich erweitern würde. Doch der Präsident nutzte die Gelegenheit, um seine Macht weiter zu festigen, indem er Demonstranten verhaftete, den Premierminister entließ und das Parlament einfror. Trotz des weitverbreiteten Wahlboykotts stimmten etwas mehr als 30 % der Bevölkerung für die neue Verfassung (TI 31.1.2023).
Quellen:
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx Zugriff 27.7.2023
TI - Transparency International (31.1.2023): CPI 2022 for Middle East & North Africa: Corruption fuels ongoing conflict, Tunisia, https://www.transparency.org/en/news/cpi-2022-middle-east-north-africa-corruption-fuels-ongoing-conflict , Zugriff 25.5.2023
TI - Transparency International (2023): Corruption Perception Index, Tunisia, https://www.transparency.org/en/countries/tunisia , Zugriff 25.5.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Eine Vielzahl nationaler und internationaler NGOs untersucht Menschenrechtsfälle und publiziert ihre Ergebnisse ohne staatliche Restriktionen. Diese Organisationen berichten, dass Regierungsbeamte selten kooperativ sind und auf ihre Ansichten eingehen (USDOS 20.3.2023; vgl. AA 22.6.2023). Internationale Organisationen wie Amnesty International, Organisation Mondiale contre la Torture oder Human Rights Watch können weitgehend ohne Einschränkungen in Tunesien arbeiten. Aufgrund der Sondermaßnahmen seit dem 25.7.2021 beklagen Menschenrechtsorganisationen allerdings erschwerte Arbeitsbedingungen (AA 22.6.2023). Ein Dekret aus dem Jahr 2011 garantiert die Handlungsfreiheit von NGOs und legt die Verfahren für die Gründung neuer Gruppen fest. Zehntausende neuer NGOs nahmen nach der Revolution ihre Arbeit auf und veranstalteten in den Folgejahren Konferenzen, Schulungen, Bildungsprogramme und andere Veranstaltungen in ganz Tunesien (FH 13.4.2023).
Die wichtigste Behörde der Regierung zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen und zur Bekämpfung von Menschenrechtsbedrohungen ist das Justizministerium. Menschenrechtsorganisationen bemängeln allerdings, dass das Ministerium mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen nicht nachgeht oder sie nicht angemessen untersucht. Innerhalb des Präsidialamtes wurde das Hohe Komitee für Menschenrechte und Grundfreiheiten mit der Überwachung der Menschenrechte und der Beratung des Präsidenten in damit zusammenhängenden Fragen beauftragt. Darüber hinaus befasst sich das unabhängige INPT (The National Authority for the Prevention of Torture) mit Folter- und Misshandlungsvorwürfen (USDOS 20.3.2023).
Ein Gesetz aus dem Jahr 2018 stellt NGOs jedoch faktisch mit Unternehmen gleich und verpflichtet sie zu einer strengen Berichterstattung, die über die im Dekret von 2011 kodifizierten Anforderungen hinausgeht. Die Organisationen müssen Angaben zu Mitarbeitern, Vermögenswerten, Fusions- oder Auflösungsentscheidungen und Tätigkeiten machen. Die Nichtregistrierung kann zu einem Jahr Haft und einer Geldstrafe führen. Kritiker der Vorschriften argumentieren, dass sie die staatliche Überwachung und Kontrolle der Zivilgesellschaft verstärken. Registrierungsanträge können nach dem Ermessen des Rates des Nationalen Registers abgelehnt werden (FH 13.4.2023).
Im Feber 2022 veröffentlichten tunesische Medien durchgesickerte Änderungsvorschläge zu den Gesetzen über zivilgesellschaftliche Organisationen. Diese Änderungsentwürfe räumen den Behörden einen größeren Spielraum bei der Blockade oder Auflösung von Vereinigungen ein und schränken ihren Zugang zu ausländischen Finanzmitteln ein (FH 13.4.2023). Es gibt besorgniserregende Anzeichen dafür, dass die Behörden unter Präsident Saïed Schritte unternehmen könnten, um die Möglichkeiten tunesischer und internationaler Organisationen der Zivilgesellschaft, in Tunesien frei zu agieren, weiter einzuschränken. Ein durchgesickerter Gesetzentwurf würde den Behörden erhebliche Befugnisse einräumen, um über die Existenz dieser Gruppen zu entscheiden und ihre Aktivitäten zu kontrollieren. Der Gesetzentwurf sieht auch vor, dass die Aktivitäten und die von den Gruppen veröffentlichten Dokumente vage Anforderungen an "Integrität" und "Professionalität" erfüllen müssen und "die Einheit des Staates nicht gefährden" dürfen. Schließlich würde es den Behörden gestattet, Gruppen, die über einen bestimmten Zeitraum hinaus inaktiv bleiben, kurzerhand aufzulösen (EMHRN 26.5.2023). Seit seiner Machtübernahme am 25.7.2021 im Rahmen des Ausnahmezustands hat Präsident Saïed zahlreiche Dekrete erlassen, insbesondere der Erlass des Präsidialdekrets Gesetzesdekret 2022-54 zur "Bekämpfung von Straftaten im Zusammenhang mit dem Informations- und Kommunikationssystem und Kommunikationssystems" vom 13.9.2022 ("Dekret 54"). Das ohne jegliche Konsultation oder öffentliche Debatte erlassene Dekret 54 bedroht das Recht auf freie Meinungsäußerung, einschließlich der Medienfreiheit, die Ausübung der Menschenrechte im digitalen Bereich und das Recht auf Privatsphäre in Tunesien (ICJ 7.2023). Seit der Einführung des Dekrets 54 und dem Deckmantel der "Bekämpfung von Straftaten im Zusammenhang mit Informations- und Kommunikationssystemen", die nach dem Gesetzesdekret 54 mit bis zu zehn Jahren Haft und einer hohen Geldstrafe geahndet werden können (EMHRN 26.5.2023; vgl. HRW 27.6.2023), zögert die für seine Durchsetzung zuständige Behörde nicht, Stimmen einzuschüchtern, die sich gegen die Politik der Regierung oder des Präsidenten der Republik wenden. Die Behörden nutzen Artikel 24 des Dekrets 54, um jeden zu verfolgen und zu verhaften, der die Geschehnisse in Tunesien kritisiert (EMHRN 26.5.2023; vgl. ICJ 7.2023). Zusätzlich zu den regulatorischen und legislativen Drohungen nehmen die Schikanen und Einschüchterungen von Aktivisten und Verteidigern weiter zu (EMHRN 26.5.2023). Bis heute werden u. a. Dutzende von Menschenrechtsaktivisten aufgrund von Dekret 54 polizeiliche oder gerichtliche Ermittlungen eingeleitet, die zu einer strafrechtlichen Verfolgung führen (EMHRN 26.5.2023; vgl. HRW 27.6.2023). So wurde der Vorsitzenden der Tunesischen Liga für Menschenrechte, Bassem Trifi, am 28.4.2023 von der Sonderermittlungsbrigade für terroristische Straftaten geladen (EMHRN 26.5.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
ICJ - International Commission of Jurists (7.2023): Tunisia: Silencing Free Voices A briefing paper on the enforcement of Decree 54 on Cybercrime, https://icj2.wpenginepowered.com/wp-content/uploads/2023/07/Tunisia-Silencing-Free-Voices-_compressed-1.pdf , Zugriff 21.7.2023
EMHRN - EuroMed Rights (ehemals: Euro-Mediterranean Human Rights Network, EMHRN) (26.5.2023): Human rights and the rule of law in Tunisia: the slide continues, https://euromedrights.org/publication/human-rights-and-the-rule-of-law-in-tunisia-the-slide-continues/ , Zugriff 21.7.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
HRW - Human Rights Watch (27.6.2023): The UN Human Rights Council Should Address the Rapidly Growing Human Rights Crisis in Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2094195.html , Zugriff 21.7.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
Haftbedingungen
Die Haftbedingungen in den Haftanstalten bzw. Justizvollzugsanstalten entsprechen zumeist nicht internationalen Standards, primär aufgrund von Überbelegung und mangelhafter Infrastruktur und unzureichende Ressourcen (USDOS 20.3.2023; vgl. AA 22.6.2023). Laut „Anwälte ohne Grenzen“ waren in Tunesien im Jahr 2020 23.000 Inhaftierte auf 18.000 Gefängnisplätzen untergebracht; bei einer Bevölkerung von 11,1 Mio. zählt Tunesien zu den Ländern mit den vergleichsweise höchsten Häftlingszahlen (ÖB 10.2022). Die 27 bzw. 28 tunesischen Haftanstalten (plus sechs Zentren für Minderjährige) sind chronisch überbelegt, es mangelt an Hygiene (AA 22.6.2023; vgl. ÖB 10.2022). Die tunesische Regierung ist bestrebt, die Situation durch Neu- und Umbauten von Gefängnissen sowie rechtspolitische Reformen zu verbessern (AA 22.6.2023). Die Reform des Haftsystems insbesondere auch im Hinblick auf Deradikalisierung scheitert bislang an mangelnden finanziellen und personellen Ressourcen sowie der prekären Sicherheitslage (ÖB 10.2022). NGOs berichten von einzelnen dubiosen Todesfällen in Polizeigewahrsam oder Haft, bei denen eine Fremdeinwirkung nicht auszuschließen, oder sogar wahrscheinlich ist (AA 22.6.2023).
Seit 2005 besteht eine Vereinbarung zwischen der Regierung und dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK), die es dem IKRK ermöglicht, Haftanstalten zu besuchen und der Regierung periodisch zu berichten. Diese Möglichkeit wird seither auch regelmäßig genutzt (AA 22.6.2023). Neben dem IKRK gewährt die Regierung auch anderen unabhängigen nicht-staatlichen Beobachtern, darunter lokalen und internationalen Menschenrechtsgruppen, NGOs, lokalen Medien, dem UN-Unterausschuss zur Verhütung von Folter, der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) und der unabhängigen tunesischen Organisation gegen Folter (INPT), Zugang zu den Gefängnissen (USDOS 20.3.2023).
Das Gesetz verlangt, dass Untersuchungshäftlinge getrennt von verurteilten Häftlingen festgehalten werden, aber das Justizministerium hat berichtet, dass dies wegen Überbelegung nicht möglich ist (USDOS 20.3.2023). Die Untersuchungshaft kann bis zu 6 Monate, infolge des überlasteten Justizsystems auch länger dauern. Auch wenn das Gesetz den Schutz von Häftlingen vorsieht und deren Rechte definiert, sind repressive und die Menschenrechte missachtende Praktiken durchaus noch üblich (ÖB 10.2022).
Im Juni 2021 kündigte die Instance Nationale de Lutte contre la Traite des Personnes (INTP), ein unabhängiges Untersuchungsorgan, das 2013 eingerichtet wurde, um auf Vorwürfe von Folter und Misshandlung zu reagieren (USDOS 20.3.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
Religionsfreiheit
98-99 % der Bevölkerung sind Muslime – mehr oder weniger praktizierend. Die meisten sind Sunniten. Neben Muslimen leben in Tunesien rund 25.000 Christen (zum Großteil Katholiken), wobei die Gemeinden zum Großteil aus ausländischen Bürgern bestehen, und 1.500 Juden (CIA 13.7.2023; vgl. USDOS 20.3.2023, AA 22.6.2023). Des Weiteren gibt es noch Schiiten und Baha’i (CIA 13.7.2023; vgl. USDOS 15.5.2023). Bis zur Revolution im Jänner 2011 konnte der Islam über die Befolgung der grundlegenden muslimischen Riten hinaus kaum gesellschaftliche und politische Aktivitäten entfalten. Außerhalb der Gebetszeiten blieben die Moscheen geschlossen. Zudem wurden die Freitagspredigten sowie alle religiösen Gemeinschaften vom Staat überwacht. Mit der Revolution ist der Islam im gesellschaftlichen und politischen Leben des Landes allmählich immer sichtbarer geworden (AA 22.6.2023).
Der Islam ist offizielle Religion Tunesiens und der Staatspräsident muss laut Verfassung von 2022 Muslim sein. Die neue Verfassung, die in einem Referendum am 25.7.2022 angenommen wurde und im August in Kraft trat, verlangt vom Staat, die Ziele des Islam zu unterstützen und voranzutreiben, und sieht vor, dass „Tunesien Teil der islamischen Umma [Gemeinschaft oder Nation] ist“. Der Staat muss daran arbeiten, die Ziele des Islam zu erreichen und Leben, Ehre, Eigentum, Religion und Freiheit zu bewahren. In der Verfassung heißt es außerdem, dass dies im Rahmen eines demokratischen Systems geschehen wird. Die Verfassung besagt, dass sie Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Freiheit der Religionsausübung garantiert (USDOS 15.5.2023). Mit der neuen Verfassung von 2022 kam es zu einigen Änderungen. Dabei wurde beispielsweise Tunesien nicht mehr, als ein Staat dessen Religion der Islam ist genannt, sondern als zugehörig zu einer Umma, deren Religion der Islam ist. Zur Erklärung, die Umma ist die Weltgemeinschaft der Muslime. Dieser Bezug auf die Religion und die Ziele des Islams in der Verfassung, gepaart mit der Streichung des Hinweises auf den zivilen Charakter des Staates stellen eine Gefahr für die Freiheiten dar, argumentieren viele NGOs (ÖB 10.2022).
Religions- und Weltanschauungsfreiheit wird in Tunesien mit gewissen Einschränkungen gewährt (AA 22.6.2023). Die Verfassung reflektiert das herrschende Gleichgewicht zwischen religiösem und säkularem Lager in Gesellschaft und Politik: Der Islam ist als Religion des Landes anerkannt, aber die islamische Scharia wurde nicht in der Verfassung verankert. Ein ziviler Staat ist die Grundlage der Verfassung, in der ausdrücklich auf die universellen Menschenrechte Bezug genommen wird (AA 22.6.2023; vgl. USDOS 15.5.2023).
Juden und Christen werden als gleichberechtigte Bürger akzeptiert (BS 2022). Medienberichten zufolge wurden am 9.5.2023 mehrere jüdische Personen bei einem Angriff auf die El Ghriba-Synagoge in Djerba getötet, weitere verletzt (BAMF 15.5.2023; vgl. DW 14.5.2023). Staatspräsident Kaïs Saïed betonte trotz anderslautender Vorwürfe, sein Land sei weiterhin sicher für Menschen jüdischen Glaubens und der Fall werde untersucht (BAMF 15.5.2023).
Es ist rechtlich möglich, vom Islam zum Christentum zu konvertieren. Missionierung und das Verteilen religiösen Materials sind der katholischen Kirche jedoch verboten (AA 22.6.2023). Es gibt erheblichen gesellschaftlichen Druck gegen die Konversion vom Islam zu einer anderen Religion (USDOS 15.5.2023). Tunesische Konvertiten (einige hundert im Land) werden innerhalb ihres sozialen und familiären Umfelds zwar zunächst häufig geächtet, mittelfristig aber gesellschaftlich wieder akzeptiert und integriert (AA 22.6.2023); Konvertiten werden häufig schikaniert und diskriminiert (FH 13.4.2023; vgl. USDOS 15.5.2023). Laut NGO Minority Rights Group International (MRGI) berichten Organisationen der Zivilgesellschaft, dass die Zahl muslimischer Konvertiten zum Christentum zunimmt, die gesellschaftlichen Tabus jedoch nach wie vor so stark und weit verbreitet seien, dass diese Personen ihre Konvertierungen im Allgemeinen lieber geheim hielten. Ferner berichten Christen, dass Familienmitglieder Konvertiten häufig beschuldigen, „Schande“ über die Familie zu bringen (USDOS 15.5.2023).
Religiöse Minderheitengruppen berichteten im Laufe des Jahres von extremen Verwaltungsverzögerungen und mangelnder Reaktion der Regierung bei der Bearbeitung ihrer Anträge auf eine Rechtsvereinigung; einige Anträge reichen bis ins Jahr 2017 zurück (USDOS 20.3.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (15.5.2023): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2023/briefingnotes-kw20-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=2 , Zugriff 7.6.2023
BS - Bertelsmann Stiftung (2022): Tunesien Country Report 2022, https://bti-project.org/de/reports/country-report/TUN , Zugriff 27.7.20 23
CIA - Central Intelligence Agency [USA] (13.7.2023): The World Factbook, Tunisia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/tunisia/ , Zugriff 21.7.2023
DW - Deutsche Welle (14.5.2023): Tunesien: Djerba: Die tödlichen Schüsse vor der Synagoge, https://www.dw.com/de/djerba-die-t%C3%B6dlichen-sch%C3%Bcsse-vor-der-synagoge/a-65604859 , Zugriff 30.5.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.20 23
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
USDOS - US Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2091916.html , Zugriff 30.5.2023
Allgemeine Menschenrechtslage
Seit Beginn des von Präsident Kaïs Saïed vorangetriebenen Staatsumbaus („Prozess des 25. Juli“) ist beim Menschenrechtsschutz eine Trendumkehr zu verzeichnen. Insbesondere seit Jahresbeginn 2023 hat sich die Lage nochmals deutlich verschlechtert (AA 22.6.2023). Die Bedrohung der Meinungsfreiheit, die Schwächung der Zivilgesellschaft, die Schikanierung von Menschenrechtsaktivisten, die offenkundige Einmischung der Exekutive in Gerichtsverfahren, deren Instrumentalisierung mit dem Ziel, dem politischen Pluralismus ein Ende zu setzen, und die Umsetzung mehrerer Initiativen, die einseitig im Rahmen von Ausnahmemaßnahmen ergriffen wurden, verzerren den demokratischen Prozess zusätzlich. Das autoritäre Regime von Präsident Kais Saïed hat sich in eine Paranoia verwandelt, die bisher nur verbal war und von ihm in zahlreichen öffentlichen Reden verbreitet wurde. Es kommt zu einer Zunahme von Verhaftungen und der Schweigepflicht für die Opposition, ferner kommt es auch zu einem schrumpfenden Spielraum für die Zivilgesellschaft und die Einführung von Gesetzen, die jegliche Kritik verbieten (EMHRN 26.5.2023).
Die neue Verfassung vom 25.7.2022 hat die seit 2011 hart errungene, aber seit Jahren krisengeplagte parlamentarische Demokratie Tunesiens in ein hyper-präsidentielles System umgebaut: nahezu vollständige Machtkonzentration auf den Staatspräsidenten, Schwächung des Parlaments, Fehlen institutioneller „checks and balances“ zur Einhegung der Macht des Präsidenten, zudem zahlreiche mögliche Einfallstore für die Einschränkung von Grundrechten, obgleich diese weitgehend wortgleich aus der Verfassung von 2014 in die übernommen wurden. Dies ist jedoch nur die Papierform, in der Praxis sind die Menschenrechte und insbesondere die politischen und bürgerlichen Rechte und Freiheiten in Tunesien immer stärker unter Druck (AA 22.6.2023).
Tunesien hat somit die meisten Konventionen der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrechte einschließlich der entsprechenden Zusatzprotokolle ratifiziert und bestehende Vorbehalte größtenteils zurückgezogen. Die Umsetzung der Konventionen in nationales Recht dauern weiterhin an. Das zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe (OP2-ICCPR) wurde bislang nicht signiert (AA 22.6.2023).
Der zur Erleichterung der Terrorabwehr seit November 2015 immer wieder verlängerte Ausnahmezustand (auf Grundlage eines Dekrets von 1978) gestattet den Sicherheitsbehörden nicht nur weitreichende Eingriffe in die Bewegungsfreiheit, sondern dadurch auch mittelbar in weitere Grundrechte. Zuletzt wurde der Ausnahmezustand am 1.2.2023 durch Präsidialdekret bis Jahresende 2023 verlängert (AA 22.6.2023).
Am 17.8.2022 trat eine neue Verfassung in Kraft, die nach dem Referendum am 25.7.2022 von den Wählern angenommen worden war. Die Verfassung spricht Präsident Kaïs Saïed zunehmend autoritäre Entscheidungskraft zu, schränkt die Gewaltentrennung substanziell ein und wurde so gut wie im Alleingang vom Präsidenten erstellt. Der Vorgang zeichnete sich durch Intransparenz und Missachtung des Rechts der Öffentlichkeit, Informationen darüber einzuholen, aus. Die Einschränkungen bei der Durchsetzung von Menschenrechten seit dem Ausrufen des Ausnahmezustands als Antwort auf die Terroranschläge 2015 werden nun durch die neue Verfassung weiter vertieft. Die Verfassung beinhaltet zwar unterschiedlichste Menschenrechtsbestimmungen im Kapitel „Rechte und Freiheiten“, hat jedoch jegliche Referenz zu universellen Menschenrechten in der Präambel verloren und schränkt die institutionelle Garantie für Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Menschenrechte im Vergleich zur Verfassung von 2014 erheblich ein. Die neue Verfassung räumt dem Präsidenten weitreichende Notstandsbefugnisse ohne den erforderlichen Kontrollmechanismus ein, die zur Beschneidung der Menschenrechte und zur Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit genutzt werden können. Darüber hinaus untergräbt die neue Verfassung die Garantien für die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts, einer wichtigen Institution für den Schutz der Menschenrechte, und schränkt dessen Mandat ein, indem sie ihm die Kontrolle über die Verfassungsmäßigkeit der Verlängerung des Ausnahmezustands entzieht. Die Rechte auf persönliche Freiheit, auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit sind aufgrund von Verlängerungen des Ausnahmezustands teilweise noch immer eingeschränkt. Der Tatbestand der "Gefährdung der öffentlichen Moral" gilt weiterhin, ebenso wie immer wieder Fälle von Folter angeprangert werden. Zudem fehlt ein verfassungsrechtliches Höchstgericht (ÖB 10.2022).
Zu den wesentlichen Menschenrechtsproblemen gehören glaubwürdige Berichte über Folter durch Regierungsagenten; willkürliche Festnahmen oder Inhaftierungen; schwerwiegende Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs- und Medienfreiheit, einschließlich Verhaftungen oder strafrechtlicher Verfolgung von Journalisten, Zensur oder Durchsetzung oder Androhung der Durchsetzung von strafrechtlichen Verleumdungsgesetzen zur Einschränkung der Meinungsäußerung; Korruption in der Regierung; Diskriminierung und gesellschaftlicher Missbrauch; Straftaten mit Gewalt oder Androhung von Gewalt gegen sexuelle Minderheiten; wie auch Gesetze, die einvernehmliches gleichgeschlechtliches Sexualverhalten zwischen Erwachsenen unter Strafe stellen, und die Durchsetzung dieser Gesetze; und die schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Die Regierung ergriff Schritte, um gegen Beamte zu ermitteln, die mutmaßlich Missbräuche begangen haben. Den Ermittlungen zu Missbräuchen durch Polizei, Sicherheitskräfte und Beamte der Haftanstalten mangelte es jedoch an Transparenz und es kommt häufig zu langen Verzögerungen und verfahrenstechnischen Hindernissen. Auch den hochkarätigen Ermittlungen gegen ehemalige Regierungsbeamte, Parlamentsabgeordnete und Geschäftsleute wegen Korruptionsvorwürfen mangelte es an Transparenz (USDOS 20.3.2023).
Menschenrechtsorganisationen konstatieren in vielen Bereichen wie der Normsetzung, Respekt für und Durchsetzung von Menschenrechten sowie der Offenheit der Regierung für Konsultationen mit der Zivilgesellschaft und den Opfern von Menschenrechtsverletzungen einen negativen Trend, der schon vor der politischen Krise im Sommer 2021 spürbar war, sich seither aber merklich verstärkt hat (AA 22.6.2023).
2014 richtete Tunesien eine Kommission für Wahrheit und Würde (IVD) ein, um die seit 1956 begangenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verbrechen zu untersuchen. Anfang 2018 stimmte das Parlament gegen eine Verlängerung des Mandats der Kommission, eine Entscheidung, die von Rechtsaktivisten als Schwächung der Bemühungen um eine Übergangsjustiz kritisiert wurde. Die Kommission legte ihren Abschlussbericht 2019 vor und veröffentlichte ihn offiziell 2020. Er stützt sich auf mehr als 62 000 Beschwerden tunesischer Bürger gegen den Staat wegen Menschenrechtsverletzungen. Tunesische Gerichte begannen mit der Prüfung von 69 Anklagen und 131 Verweisen der IVD, aber die Notstandsmaßnahmen des Präsidenten im Jahr 2021 schufen Unsicherheit über die Zukunft des Prozesses der Übergangsjustiz (FH 13.4.2023). Die Empfehlungen der IVD zur Umsetzung wichtiger institutioneller Reformen bleiben unerfüllt. Nichtsdestotrotz war sie eine relevante Instanz bei der Sichtbarmachung der Rolle der ehemaligen Präsidenten sowie anderer hochrangiger Beamter bei Folter, willkürlichen Inhaftierung und vielen anderen Misshandlungen. Am 31.12.2021 endete das Mandat der Kommission (ÖB 10.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
EMHRN - EuroMed Rights (ehemals: Euro-Mediterranean Human Rights Network, EMHRN) (26.5.2023): Human rights and the rule of law in Tunisia: the slide continues, https://euromedrights.org/publication/human-rights-and-the-rule-of-law-in-tunisia-the-slide-continues/ , Zugriff 21.7.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
Frauen
Frauen sind seit der Unabhängigkeit Tunesiens mit der Einführung des fortschrittlichen Personenstandsgesetzes von 1957 Männern rechtlich weitgehend gleichgestellt (AA 22.6.2023; vgl. ÖB 10.2022), wobei jedoch keine vollständige Gleichheit vor dem Gesetz gegeben ist (ÖB 10.2022). Eine dieser Ausnahmen stellt das Erbrecht dar (AA 22.6.2023; vgl. ÖB 10.2022).
Unter Beibehaltung einiger Bestimmungen der Verfassung von 2014 legt die Verfassung von 2022 fest, dass Frauen und Männer "in Bezug auf Rechte und Pflichten gleich sind und ohne jegliche Diskriminierung vor dem Gesetz gleich sind", und verpflichtet den Staat, Maßnahmen zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen zu ergreifen. Mit der Verfassung von 2022 wurde jedoch eine neue Bestimmung eingeführt, die besagt, dass "Tunesien Teil der islamischen Umma [Gemeinschaft/Nation] ist" und dass die Verwirklichung der Ziele des Islams eine Aufgabe des Staates ist (Artikel 5). Solche Bestimmungen könnten dazu dienen, die Einschränkung von Rechten, insbesondere der Rechte von Frauen, auf der Grundlage der Auslegung religiöser Gebote zu rechtfertigen, wie es auch andere Staaten in der Region getan haben (HRW 12.1.2023). Obwohl die Verfassung die Gleichstellung der Geschlechter garantiert, werden Frauen in der Arbeitswelt diskriminiert, und sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum ist weiterhin weit verbreitet (FH 13.4.2023).
Das tunesische Recht diskriminiert Frauen bei Erbschaftsangelegenheiten (USDOS 20.3.2023). Nach geltendem Recht erhalten Frauen nur die Hälfte des Anteils an der Erbschaft, den Männer erhalten, und die Bemühungen um eine Gleichstellung der Geschlechter bei den Erbschaftsrechten sind im Parlament nicht vorangekommen (FH 13.4.2023). Der für Konservativismus bekannte Präsident Kaïs Saïed sendet hinsichtlich seiner Einstellung zu Frauenrechten widersprüchliche Signale aus. Einerseits spricht er sich ausdrücklich gegen eine Gleichstellung im Erbrecht aus, andererseits ernannte er die erste Regierungschefin im arabischen Raum und besetzte ein Drittel der Ministerposten mit Frauen (ÖB 10.2022).
Dennoch ist die neue Verfassung Tunesiens im Vergleich zu anderen arabischen oder muslimischen Ländern in Bezug auf Frauenrechte ein Musterbeispiel. Die Gleichstellung der Frau sowie eine Mindestquote im Parlament wurden sichergestellt (ÖB 10.2022). Es gibt keine Gesetze, das die Beteiligung von Frauen am politischen Prozess einschränkt, und sie beteiligen sich (USDOS 20.3.2023). Mit dem am 15.9.2022 erlassenen Gesetzesdekret 2022-55 wurde das tunesische Wahlgesetz geändert, um Bestimmungen aufzuheben, die unter anderem die Vertretung von Frauen im Parlament fördern sollten. Zuvor sah das Gesetz vor, dass die Kandidatenlisten für die Parlamentswahlen eine gleiche Anzahl von Männern und Frauen enthalten mussten. Nach dem geänderten Gesetz werden die Tunesier die Abgeordneten einzeln wählen, ohne dass eine paritätische Vertretung der Geschlechter unter den Kandidaten gewährleistet ist (AI 27.3.2023).
Mit dem Wahlgesetz vom September 2022 wurde die Quote von 2017 für weibliche und junge Kandidaten abgeschafft, was zu einem deutlichen Rückgang der weiblichen Kandidaten bei den Parlamentswahlen im Dezember 2022 führte. Nach Angaben der International Foundation for Electoral Systems wurden im ersten Wahlgang 23 Kandidaten gewählt, davon drei Frauen. Für die zweite Runde waren 262 Kandidaten vorgesehen, darunter 34 Frauen (13 %) und 228 Männer (87 %) (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 13.4.2023), 4 % waren 35 Jahre oder jünger, und zwei waren Menschen mit Behinderungen (FH 13.4.2023).
Das Gesetz gegen gewalttätige Übergriffe in der Ehe und Familie wurde Ende Juli 2017 einstimmig verabschiedet. Zudem wurde die Verpflichtung des Staates zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen ausdrücklich hinzugefügt. Erstmals werden die Opfer von häuslicher Gewalt unter Schutz gestellt. Das neue Gesetz erkennt körperliche, moralische und sexuelle Gewalt gleichermaßen an (ÖB 10.2022). Die Behörden sind jedoch weiterhin nicht in der Lage angemessene Ressourcen und Schulungen bereitzustellen, um Meldungen von Missbrauch zu untersuchen und gefährdeten Frauen Schutz zu bieten (AI 27.3.2023). Dieses 2018 in Kraft getretene Gesetz zur Verhütung von Gewalt, einschließlich politischer Gewalt, gegen Frauen und Mädchen verpflichtet den Staat zu umfangreichen Maßnahmen in den Bereichen Prävention, Schutz und Nachsorge für Opfer sowie Bestrafung von Tätern (AA 22.6.2023). Die Umsetzung des Gesetzes wurde durch Unzulänglichkeiten behindert, darunter mangelndes Bewusstsein für seine Bestimmungen, ein Mangel an geschulten Beauftragten für die Bearbeitung von Beschwerden, Druck auf Frauen durch einige Beauftragte, misshandelnde Ehemänner nicht vor Gericht zu bringen, und logistische Hindernisse für die Anzeige von Missbrauch. Im Jahr 2022 wurden weiterhin aufsehenerregende Fälle von Femizid im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt gemeldet (FH 13.4.2023). Frauen bleiben somit weiterhin häuslicher Gewalt und anderen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Frauenrechtsgruppen berichteten, dass es keine aktuellen offiziellen Statistiken über gemeldete Tötungen und andere Gewalt gegen Frauen gibt (AI 27.3.2023; vgl. USDOS 20.3.2023). Oft scheitert man immer noch an einer effektiven Gewaltprävention und an ausreichend Schutz für besonders vulnerable Frauen (ÖB 10.2022).
Das Ministerium für Frauen, Familie und Senioren ging Beschwerden über häusliche Gewalt nach und arbeitet auch mit der Zivilgesellschaft zusammen, um das Bewusstsein für das Gesetz zu schärfen und die Zivilgesellschaft dabei zu unterstützen, Frauen an Unterstützungsdienste zu vermitteln. Die Nationale Beobachtungsstelle für Gewalt gegen Frauen betrieb eine Hotline, die Opfer von Gewalt in der Familie weitervermittelt und unterstützt. Das Ministerium für Frauenangelegenheiten entwickelte eine digitale Plattform mit Ressourcen für die Unterstützung und verstärkte die Nachverfolgung und Intervention für die Opfer (USDOS 20.3.2023).
Das Innenministerium betreibt 127 Spezialeinheiten in Polizeistationen im ganzen Land, die mit der Untersuchung von Gewaltverbrechen gegen Frauen betraut sind. Das Justizministerium verfolgte Fälle von Gewalt gegen Frauen und sammelte Informationen über die Fälle in den einzelnen Gerichten, veröffentlichte diese Informationen jedoch nicht. Im August 2022 gab die Frauenministerin Amel Moussa bekannt, dass die Zahl der gemeldeten Fälle von Gewalt gegen Frauen von 15.000 im Jahr 2021 auf 7.500 im gleichen Zeitraum dieses Jahres zurückgegangen sei. Die Ministerin bewertete den Rückgang als Folge des ihrer Meinung nach beispiellosen Anstiegs der Fälle von Gewalt gegen Frauen während der COVID-19-Maßnahman im Jahr 2021 (USDOS 20.3.2023).
Obwohl Vergewaltigung, auch innerhalb der Ehe, gesetzlich verboten ist, bleibt dieses Vergehen ein ernstes Problem. Gewalt gegen Frauen bleibt weit verbreitet und systemisch. Opfer von Vergewaltigungen werden oft durch das herrschende Tabu und sozialen Druck davon abgehalten, Übergriffe zu melden. Frauen können jedoch eine einstweilige Verfügung erwirken, ohne ein Strafverfahren einleiten oder die Scheidung einreichen zu müssen. Das Ministerium für Frauen, Familie und Senioren verfolgt Beschwerden über häusliche Gewalt und arbeitet mit der Zivilgesellschaft zusammen, um das Bewusstsein für das Gesetz zu schärfen und die Frauen mit verfügbaren Unterstützungsdiensten in Kontakt zu bringen. Das Ministerium betreibt eine nationale Hotline für Opfer von Gewalt in der Familie (USDOS 20.3.2023).
2019 wurde unter dem Hashtag „EnaZeda“ durch die tunesische MeToo-Bewegung zunehmend auf Fälle von sexueller Belästigung, insbesondere durch Politiker, aufmerksam gemacht. Auch Fälle von sexueller Belästigung in Schulen wurden öffentlich diskutiert (AA 22.6.2023). Das Gesetz stellt sexuelle Belästigung unter Strafe und sieht für eine Verurteilung eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren und eine hohe Geldstrafe vor (USDOS 20.3.2023).
Das für die arabische Welt als sehr progressiv geltende Personenstandsgesetz vom 13.8.1956 (Code du Statut Personal CSP), gewährt weitreichende jedoch keine vollständige Gleichheit vor dem Gesetz. Der einseitige Verstoß aus dem Familienverband ist durch die richterliche Scheidung ersetzt und die Polygamie abgeschafft, aber innerhalb des Familienverbandes bleibt die patriarchale Struktur bestehen, wie z. B. die elterliche Autorität, die Wahl des Wohnsitzes durch den Ehemann oder die Ungleichheiten im Erbrecht etc. (ÖB 10.2022).
Frauen können die Scheidung einreichen und Unterhaltsansprüche gerichtlich geltend machen (AA 22.6.2023). Weitere gesetzliche Reformen betrafen u.a. Ungleichstellung zwischen Mann und Frau in Bezug auf die elterliche Obsorge: Seit 2015 wird es Frauen ermöglicht, ohne väterliche Genehmigung mit ihren minderjährigen Kindern ins Ausland zu reisen. Es wird jedoch zwischen Sorgerecht und gesetzlicher Vormundschaft unterschieden, Letztere obliegt allein dem Vater als Familienoberhaupt (Art.23(4) CPS) und muss nach dessen Ableben von einem männlichen Familienmitglied übernommen werden (Art.154 CPS) (ÖB 10.2022).
Die Stimme einer Frau als Zeugin in einem Gerichtsverfahren hat dasselbe Gewicht wie die eines Mannes. Eine vom ehemaligen Staatspräsidenten eingesetzte Expertenkommission für Gleichheit und individuelle Freiheiten (COLIBE) hat 2018 umfassende Vorschläge zur vollständigen rechtlichen Gleichstellung von Frauen und Männern erarbeitet. Seither gab es in der Frage mangels politischen Konsenses aber keine Fortschritte. Vor allem das Erbrecht bleibt umstritten: Während progressive Kräfte grundsätzlich gleiche Erbteile für Söhne und Töchter fordern und in der Praxis Erblasserinnen und Erblassern die Möglichkeit lassen, testamentarisch abweichende Regelungen zu treffen, setzen sich islamisch-konservative Kreise für eine Umkehrung dieses Grundsatzes ein. Weitere von der Expertenkommission vorgeschlagene familienrechtliche Reformen zur Förderung der Geschlechtergerechtigkeit, wie z.B. die Abschaffung der hergebrachten Definition des Ehemannes als Familienoberhaupt, haben bislang noch keinen Eingang in konkrete Gesetzesinitiativen gefunden (AA 22.6.2023). Ferner hob das Justizministerium im September 2017 ein Dekret auf, das tunesischen Frauen verboten hatte, nicht-muslimische Männer zu heiraten (ÖB 10.2022).
Die Verfassung verbietet jede Form von Diskriminierung am Arbeitsplatz. Gesellschaftliche, rechtliche und kulturelle Barrieren verringern jedoch die Beteiligung von Frauen am formellen Arbeitsmarkt, insbesondere in Führungspositionen, erheblich. Das Gesetz zur geschlechtsspezifischen Gewalt enthält Bestimmungen zur Beseitigung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles. Das Gesetz schreibt ausdrücklich gleichen Lohn für gleiche Arbeit vor und die Regierung setzte dies im Allgemeinen durch Geldstrafen durch (USDOS 20.3.2023). Obwohl die Verfassung die Gleichstellung der Geschlechter garantiert, werden Frauen in der Arbeitswelt diskriminiert, und sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum ist nach wie vor weit verbreitet. Frauen arbeiten oft lange, ohne Verträge, Sozialleistungen oder Rechtsmittel, und viele sind am Weg zur Arbeit Berichten zufolge gefährlichen Bedingungen ausgesetzt. Fälle von Ausbeutung in der Landwirtschaft und im Textilsektor sind weit verbreitet; Frauen arbeiten oft in langem Ausmaß ohne Verträge, Leistungen oder Rechtsmittel (FH 13.4.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
AI - Amnesty International (27.3.2023): Amnesty International Report 2022/23; The State of the World's Human Rights; Tunisia 2022, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089657.html , Zugriff 30.5.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085505.html , Zugriff 30.5.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
Bewegungsfreiheit
Das Gesetz gewährleistet Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes, Auslandsreisen (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 13.4.202), Emigration sowie Wiedereinbürgerung. Die Regierung respektiert im Allgemeinen diese Rechte auch in der Praxis (USDOS 20.3.2023). Bereits im Jahr 2021 genehmigte Präsident Saïed Berichten zufolge die Anwendung von Reiseverboten für Einzelpersonen, gegen die ein Gerichtsverfahren anhängig war (USDOS 20.3.2023)
Allerdings haben die Behörden im Rahmen des Ausnahmezustands weitreichende Befugnisse, die Bewegungsfreiheit von Personen einzuschränken, ohne formale Anklagen zu erheben, und Tausende von Menschen sind von solchen Anordnungen betroffen (FH 13.4.2023; vgl. HRW 16.1.2023). Die Behörden verhängten willkürliche Reiseverbote gegen mindestens drei Personen (AI 27.3.2023); so wurden beispielsweise die ehemaligen Parlamentarierinnen Saida Ounissi und Jamila Ksiksi daran gehindert, Tunesien zu verlassen (HRW 12.1.2023), wie auch Parlamentsmitglieder, die sich öffentlich gegen Präsident Saïed gestellt hatten (AI 27.3.2023). Menschenrechtsgruppen kritisierten die Reiseverbote, die nach der Ergreifung außerordentlicher Vollmachten durch den Präsidenten im Juli 2021 verhängt wurden, als willkürliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit (FH 13.4.2023). Zudem stellen diese fest, dass die Behörden das Gesetz nicht konsequent anwenden und dass die Sicherheitskräfte Gerichtsentscheidungen zur Aufhebung von Reisebeschränkungen nicht immer respektieren (USDOS 20.3.2023).
Zivilgesellschaftliche Gruppen berichten, dass das Innenministerium weiterhin eine informelle Liste mit Reiseverboten, namens „S17“-Beobachtungsliste nützt, um eine zusätzliche Kontrolle durch Beamte an den Grenzkontrollpunkten zu ermöglichen. Mehrere ehemalige Parlamentsmitglieder und Politiker gaben öffentlich bekannt, dass sie daran gehindert wurden, ins Ausland zu reisen, obwohl gegen sie kein Gerichtsverfahren eingeleitet wurde (USDOS 20.3.2023).
Das Gesetz schreibt vor, dass die Behörden diejenigen, die von Reisebeschränkungen betroffen sind oder deren Reisepass beschlagnahmt wurde, unverzüglich über die Gründe für diese Entscheidungen informieren. Darüber hinaus haben die betroffenen Personen gesetzlich das Recht, die Entscheidung anzufechten, und das Gesetz sieht eine maximale Frist von 14 Monaten vor, in der ihre Reise eingeschränkt werden kann, bevor eine erneute gerichtliche Anordnung erforderlich ist (USDOS 20.3.2023).
Einer Flucht innerhalb Tunesiens werden durch die geringe Größe des Landes enge Grenzen gesetzt. Ein Verlassen besonders gefährdeter Gebiete in den Grenzregionen ist grundsätzlich möglich (AA 22.6.2023).
Quellen:
AA- Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf Zugriff 28.6.2023,
AI - Amnesty International (27.3.2023): Amnesty International Report 2022/23; The State of the World's Human Rights; Tunisia 2022, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089657.html , Zugriff 30.5.2023
FH - Freedom House (13.4.2023): Freedom in the World 2023 - Tunisia, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2090194.html , Zugriff 25.5.2023
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085505.html , Zugriff 30.5.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089227.html , Zugriff 30.5.2023
Grundversorgung und Wirtschaft
Elf Jahre nach der Jasminrevolution konnten die hohen Erwartungen hinsichtlich eines besseren und gerechteren Lebens in wirtschaftlicher Hinsicht nicht realisiert werden. Großen Fortschritten im Bereich Meinungsfreiheit und Parteienvielfalt stehen eine schwere Wirtschaftsrezession und eine Verarmung weiter Bevölkerungsschichten gegenüber. Keiner der zahlreichen Regierungen seit 2011 ist es gelungen, substanzielle und für die Bevölkerung spürbare Verbesserungen ihrer Lebensumstände herbeizuführen; das Gegenteil war der Fall. Auslöser der Jasminrevolution von 2011 waren Armut, sozialer Ausschluss, Ungerechtigkeit und Mangel an Perspektiven. Elf Jahre später hat sich die Lage keineswegs verbessert, es haben sich die Lebensumstände für viele Tunesier zum Teil dramatisch verschlechtert und die Korruption alle Lebensbereiche erfasst (ÖB 10.2022). Tunesien erlebt derzeit einen Zustand des Aufruhrs und der Spannungen, da die meisten Preise für Grundnahrungsmittel von den Märkten ausgegangen sind, insbesondere Zucker und Speiseöl. Parallel dazu heizten die hohen Preise und die steigenden Steuern und Treibstoffkosten, parallel zur verspäteten Zahlung der Gehälter, die Situation an (MW 11.3.2022). Waren die Herausforderungen in wirtschaftlicher, sozialer, moralischer und kultureller Hinsicht bereits bisher enorm, sind sie nun seit Ausbruch der COVID-19-Krise Mitte März 2020 nochmals um ein Vielfaches angewachsen (ÖB 10.2022).
So erlebte Tunesien 2022 einen Zustand des Aufruhrs und der Spannungen, da die meisten Grundnahrungsmittel nicht mehr auf den Märkten erhältlich waren, insbesondere Zucker und Speiseöl. Parallel dazu heizten die hohen Preise und die steigenden Steuern und Treibstoffkosten, parallel zu verspäteten Auszahlungen der Gehälter, die Situation weiter an (MW 11.3.2022).
Trotz Beruhigung der COVID-19-Situation bekommt Tunesien die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine zu spüren. Die ukrainischen Weizenlieferungen blieben lange Zeit aus und die Preise für Erdöl und Erdgas haben stark angezogen (WKO 4.2023). Traditionell importiert Tunesien über 50 % seines Getreidebedarfs aus der Ukraine (WKO 4.2023; DFK 14.3.2023), was eine sehr hohe Inflation zur Folge hat. Laut dem tunesischen Institut für Statistik lag die nationale Inflationsrate im Feber 2023 bei 10,4 % – Tendenz steigend. Zusätzlich zu den steigenden Preisen komme es ständig zu Engpässen bei Gütern des Grundbedarfs; Grundnahrungsmittel wie Milch und Butter werden knapp, der Preis für Speiseöl verdoppelte sich zuletzt (DFK 14.3.2023). Die Knappheit gewisser Rohstoffe und Energieträger und die daraus induzierten Preissteigerungen führten zu einem Anstieg der Inflation. Die Folge ist, dass die Kaufkraft der Tunesier weiter sinkt. Zudem stieg COVID-bedingt die Arbeitslosigkeit 2020 auf 15,9 %. Im Jahresverlauf 2022 war diese wiederum leicht rückläufig aufgrund des langsam wieder anlaufenden Tourismus und belief sich auf 15,5 %. Die tunesischen Exporte entwickeln sich ebenfalls positiv (WKO 4.2023).
Generell hat sich die wirtschaftliche Lage im Land und damit die Situation der Menschen in den vergangenen Jahren konstant verschlechtert. Laut tunesischem Jurist und Politikexperte Hamadi Redissi ist die wirtschaftliche Lage des Landes „dramatisch“. Die Rating-Agentur Moody's stufte Tunesien bereits Ende Jänner 2023 auf die schlechteste Klasse herab (DFK 14.3.2023).
Somit bleibt Tunesien auch finanziell in einer Schieflage. Die Regierung hofft auf einen Milliarden-Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF), um einen Staatsbankrott abwenden zu können. Der IWF fordert im Gegenzug die Aufhebung von Subventionen unter anderem für Kraftstoffe und Nahrungsmittel sowie weitere Reformen. Das wiederum lehnen die Gewerkschaften ab (DFK 14.3.2023; vgl. WKO 4.2023).
Die Weltbank erklärte, dass die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise auf den internationalen Märkten zu einem höheren tunesischen Haushaltsdefizit führen werden, welches für 2023 auf -6,1 % und für 2024 auf -5,2 % des BIP geschätzt wird. Im Jahr 2021 betrug die Staatsverschuldung Tunesiens 81,8 % des BIP und Ende 2022 betrug die Schuldenquote bereits 88,8 % des BIP. Ein Finanzierungsbedarf von 19,9 Mrd. TND (d.s. 13,7 % des BIP) ist nötig, um das Budgetdefizit auszugleichen, doch die steigende Inflation und die Situation in der Ukraine werden wohl höhere Zuschüsse erforderlich machen. Die Weltbank merkt auch an, dass Tunesiens Schwierigkeiten beim Zugang zu internationalen Finanzmitteln zunehmen werden, um die Defizite auch künftig finanzieren zu können. Die tunesische Wirtschaft bleibt somit weiterhin unter Druck. Die Regierung hofft auf ein Darlehen in Höhe von 1,9 Mrd. USD des Internationalen Währungsfonds (IWF), um einen Staatsbankrott abwenden zu können. Ohne rasche Umsetzung von Strukturreformen, den Verkauf von staatlichen Unternehmen und Grundbesitz, einer grundlegenden Reform des Subventionssystems und der Kontrolle des Anstiegs der Gehälter aller öffentlich Bediensteten, um den Haushalt zu sanieren (WKO 4.2023; vgl. HBS 7.3.2023). Es ist allerdings wohl kein neues Abkommen mit dem IWF zu erwarten (WKO 4.2023).
Tunesiens Präsident lehnte die Bedingungen des IWF Rettungspakets am 6.4.2023 deutlich ab (AN 6.4.2023). Vergangenen September (2022) hatte sich Tunesien mit dem IWF im Grundsatz auf einen Kredit über 1,9 Milliarden Dollar (1,74 Mrd Euro) geeinigt (NTV 6.4.2023; SRF 16.6.2023). Dessen Bewilligung liegt jedoch in weiter Ferne, da Tunesien die vom IWF formulierten Voraussetzungen dafür nicht erfüllt. Im Zentrum steht eine Übereinkunft zwischen der landesweit größten Gewerkschaft UGTT, der Regierung, dem Präsidenten und dem Arbeitgeberverband UTICA (HBS 7.3.2023). Da Tunesien bereits wichtige Verpflichtungen versäumt hat, und die Geber davon ausgehen, dass die Finanzen des Staates zunehmend von den Zahlen abweichen werden, die zur Berechnung der Vereinbarung herangezogen wurden. Ohne einen Kredit steht Tunesien vor einer ausgewachsenen Zahlungsbilanzkrise und der Zahlungsunfähigkeit (AN 6.4.2023) bzw. einem Staatsbankrott (HBS 7.3.2023).
Die Rettungsgespräche mit dem IWF sind seit Monaten ins Stocken geraten. Zudem haben die drei großen internationalen Ratingagenturen das Fehlen eines IWF-Darlehens als Hauptgrund für die Herabstufung der Bonitätsbewertungen tunesischer Staatsanleihen in den letzten Monaten angegeben. Diese schlechten Bonitätsbewertungen haben den Import von lebenswichtigen Gütern wie Weizen behindert (AN 6.4.2023). Gleichzeitig hängt die Industrieproduktion von der Konjunktur in Europa ab. Die Prognosen für das Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) liegen für 2023 bei knapp unter 2 %. Welche Reformen auf den Weg gebracht werden, ist nach wie vor unklar. Die Verzögerung der Entscheidung des IWF zeigt, dass Klärungsbedarf besteht. Währenddessen nehmen die Spannungen zwischen Regierung, Zentralbank und Gewerkschaften zu. Einige der zu erwartenden Maßnahmen, wie die Reform von Staatsunternehmen und die weitere Senkung von Subventionen, bergen Zündstoff (GTAI 15.4.2023).
Gemäß Weltbankstatistiken leben mehr als 2,5 Mio. Tunesier (bei einer Bevölkerung von 12 Mio.) unter der Armutsgrenze. Allein aufgrund der COVID-19-Krise kamen über 600.000 dazu. Somit ist deren Zahl von 15,5 % vor der Krise auf 21 % angestiegen. Es bestehen regional große Unterschiede. In einigen Regionen im Landesinneren beträgt der Armutsanteile über 50 %. Die Regierung lässt den Ärmsten unregelmäßig – von der Weltbank finanzierte – direkte Unterstützungen zukommen, ohne allerdings die zugrunde liegenden Ursachen zu bekämpfen. Ein flächendeckendes direktes Unterstützungsprogramm für bedürftige Familien ist in Ausarbeitung und soll – wie vom IWF gefordert – das bisherige produktorientierte Subventionssystem ablösen (ÖB 10.2022).
Die Kaufkraft der Tunesier sinkt, jedoch war die Arbeitslosigkeit im Jahresverlauf 2022 mit 15,5 % leicht rückläufig. Grund dafür ist die positive Entwicklung bzw. Erholung des Tourismus und der tunesischen Exporte (WKO 14.4.2023; vgl. WKO 4.2023). Mit Stand März 2023 lag die Arbeitslosenquote bei 14,7 % (WKO 4.2023). Zu dem hohen Anteil an jungen und diplomierten Arbeitslosen kommen die Schulabbrecher (jährlich ca. 100.000), die vom privaten Sektor und vor allem auch im Tourismus krisenbedingt Entlassenen sowie das Heer an Beschäftigten des informellen Sektors (der auf 50 % der Wirtschaftsleistung geschätzt wird), welchen ihre Existenzgrundlage entzogen wurde (ÖB 10.2022). Aufgrund der relativ hohen Inflation müssen Gehälter fortwährend angepasst werden. So variiert die Beschäftigungsquote je nach Region innerhalb Tunesiens. Tendenziell ist die Lage an der Küste und im Norden des Landes besser, was auf die Tourismusbranche sowie die dort angesiedelte Industrie zurückzuführen ist (ABG 2.2023).
Tunesien ist ein Niedriglohnland. Die durchschnittlichen Monatslöhne im produzierenden Gewerbe liegen zwischen 500 und 800 Dinar [160-250 Euro]. Arbeiter im öffentlichen Sektor verdienen rund 900 Dinar, Beamte 1.000-1.600 Dinar [310-500 Euro]. Der staatliche Mindestlohn (sogenannter SMIG), liegt bei 403 Dinar [ca. 120 Euro]. Etwa 25,4 % der Bevölkerung leben in Armut, d. h. sie leben von weniger als dem staatlichen Mindestlohn (sogenannter SMIG), der umgerechnet bei ca. 140 Euro liegt. Auch für die bisherige Mittelschicht wird die Diskrepanz zwischen Verdienst und Deckung der tatsächlichen Bedürfnisse immer größer und die Verschuldung der Privathaushalte hat stark zugenommen. Die Kaufkraft der tunesischen Bevölkerung ist seit der Revolution 2011 um 30 % zurückgegangen. Grund für die dramatische Verschlechterung der Einkommenssituation sind Jahrelanges (so gut wie) Nullwachstum, im Jahr 2020 eine schwere Rezession bedingt durch COVID-19, hohe Inflation, der stets zunehmende Mangel an Arbeitsplätzen für die z. T. schlecht bzw. nicht den Bedürfnissen entsprechend ausgebildeten Arbeitskräfte, ein Niedergang des in Tunesien sehr bedeutenden staatlichen Industriesektors, Misswirtschaft sowie Korruption. Der Wegbruch des Tourismus traf Tunesien besonders hart, er trägt 11 % zum BNP bei (ÖB 10.2022).
Laut Weltbank führen die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise auf den internationalen Märkten zu einem höheren tunesischen Haushaltsdefizit (WKO 4.2023). Immerhin gibt es in einigen Bereichen Erfolgsmeldungen. Die Einnahmen aus dem Tourismus stiegen bereits 2022 wieder stark an, für 2023 haben mehrere Fluglinien ihre Verbindungen nach Tunesien ausgebaut (GTAI 15.3.2023). Der tunesische Tourismussektor erholt sich langsam von der COVID-Pandemie. Die Einnahmen beliefen sich im Jahr 2022 auf 1,2 Mrd. Euro. Aufgrund der Situation in der Ukraine kommt es zu einem Ausbleiben der Touristen aus dieser Region, was etwa 7 % der Gesamteinnahmen dieses Tourismus-Sektors ausmacht. Das Wirtschaftswachstum für das Jahr 2022 betrug +2,5 % (WKO 4.2023).
Der Agrarsektor kam vergleichsweise gut durch das Corona-Jahr 2020. Und auch zu Beginn 2020 lief die Produktion von Phosphat gut. Die Pharmaindustrie gilt weiterhin als Hoffnungsträger und bietet Exportchancen. Nachdem es 2019 gute Aussichten für die Textilbranche gab, ist die Produktion im letzten Jahr um circa 20 % zurückgegangen. Mit mehr als 100.000 Beschäftigten ist Tunesien ein etablierter IT-Standort. Zudem etabliert sich das Land als Start-up-Hub für die Region. E-Commerce und Digitalisierung profitieren auch in Pandemiezeiten. Wegen niedriger Gehälter wandern jährlich allerdings etwa 2.500 Informatiker ins Ausland ab (ABG 2.2023).
Bei einer in drei tunesischen Städten (Great Tunis, Sousse und Sfax) durchgeführten Umfrage zu sozio-ökonomischen Faktoren wurden, mittels Computer Assisted Telephone Interviewing (CATI)-Methode und Quotenstichproben auf der Grundlage der neuesten verfügbaren offiziellen Bevölkerungsdaten im Zeitraum 5.-8.1.2022 in jeder der genannten Zielstädte, Einwohner, bzw. eine Stichprobe von 300 Personen zwischen 16 und 35 Jahren, von One to One for Research and Polling befragt. Dort geben 42 % der Befragten an, dass sie ihren Haushalt kaum oder gar nicht mit Lebensmitteln versorgen können, was eine schwierige Situation für den Großteil der Befragten darstellt. Problematischer ist es, wenn es um den Kauf von grundlegenden Konsumgütern wie Kleidung oder Schuhe geht, denn nur 16 % schaffen es, ihren Haushalt mit diesen Gütern zu versorgen, 28 % schaffen es gerade so, und 53 % können diese Art von Gütern entweder kaum oder gar nicht für ihren Haushalt besorgen. Dennoch geben 44 % der Befragten an, eher zufrieden zu sein mit ihrem Leben. Unter den Einwohner mit niedrigen Einkommen sind 37,3 % der Befragten eher zufrieden, 28,2 % sind gar nicht zufrieden und 16,7 % sind sehr zufrieden mit ihrem Leben. Die für dieses Ergebnis ausschlaggebende demografische Variable ist das Einkommensniveau (BFA 5.2.2022).
Die Grundversorgung der Bevölkerung ist zwar vor allem dank staatlicher Subventions- und Interventionspolitik bis auf saisonale Versorgungsengpässe einigermaßen gesichert, hingegen besteht ein eklatantes Einkommensgefälle zwischen wohlhabenderer Küstenregion sowie dem Großraum Tunis (mit allein ca. 50 % der Bevölkerung) und den benachteiligten ruralen Gebieten im Hinterland (ÖB 10.2022).
Es existiert ein an ein sozialversichertes Beschäftigungsverhältnis geknüpftes Kranken- und Rentenversicherungssystem (CNAM und CNSS) (AA 22.6.2023). Das tunesische Sozialsystem bietet zwar keine großzügigen Leistungen, stellt aber dennoch einen gewissen Grundschutz für Bedürftige, Alte und Kranke dar. Der Deckungsgrad beträgt 95 % (ÖB 10.2022). Nahezu alle Bürger finden Zugang zum Gesundheitssystem. Die Regelungen der Familienmitversicherung sind großzügig und umfassen sowohl Ehepartner als auch Kinder und sogar Eltern der Versicherten. Allerdings gibt es keine allgemeine Grundversorgung oder Sozialhilfe. Die mit Arbeitslosigkeit verbundenen Lasten müssen überwiegend durch den traditionellen Verband der Großfamilie aufgefangen werden, deren Zusammenhalt allerdings schwindet (AA 22.6.2023). Folgende staatlichen Hilfen werden angeboten: Rente, Arbeitslosengeld, Kindergeld, Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Sterbegeld, Witwenrente, Waisenrente, Invalidenrente, Hilfen für arme Familien, Erstattung der Sach- und Personalkosten bei Krankenbehandlung, Kredite für Familien (ÖB 10.2022).
Eine Arbeitslosenunterstützung wird für maximal ein Jahr ausbezahlt – allerdings unter der Voraussetzung, dass man vorab sozialversichert war. Gemäß Nationalem Statistikinstitut INS zählt der informelle Sektor rund 1,5 Mio. Beschäftigte, die nicht mit einer Finanzhilfe rechnen können. Laut tunesischem Industrieverband UTICA wurden alleine während der ersten COVID-19-Welle 165.000 Arbeitsplätze vernichtet. Während der COVID-Lockdowns kam es zu zahlreichen Protesten, da sich viele ihrer Einkommensgrundlage beraubt sahen. Die früher relativ breite, weit definierte Mittelschicht Tunesiens aus selbstständigen Kleinunternehmern, Angestellten und Beamten sieht ihre Kaufkraft zunehmend schwinden und droht, in die Prekarität abzugleiten. Die schmale Oberschicht aus traditionell einige Wirtschaftszweige beherrschenden Familien ist mehr an Machterhalt als an Beschäftigung zusätzlicher Arbeitskräfte interessiert. Die allmächtige traditionelle Gewerkschaft UGTT lehnt bisher jede Änderung des Status quo rigoros ab und behindert so eine Umstrukturierung des ineffizienten auf Nepotismus und Rentenmentalität beruhenden öffentlichen Sektors. Es gibt folgende Arbeitsvermittlungsinstitutionen: Nationale Arbeitsagentur (ANETI), Berufsbildungsagentur (ATFP), Zentrum für die Ausbildung der Ausbilder und die Entwicklung von Lehrplänen (CENAFFIF), Zentrum für die Weiterbildung und Förderung der beruflichen Bildung (CNFCPP) (ÖB 10.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
ABG - Africa Business Guide (2.2023): Länderprofil Wirtschaft in Tunesien: Etablierter Produktionsstandort mit Blick auf Europa, https://www.africa-business-guide.de/de/maerkte/tunesien , Zugriff 21.7.2023
AN - Arab News (6.4.2023): Tunisia president rejects IMF ‘diktats’, casting doubt on bailout, https://www.arabnews.com/node/2282506/middle-east , Zugriff 23.6.2023
BFA Staatendokumentation (Herausgeber) [Österreich], ONE TO ONE for Research and Polling (Autor) (5.4.2022): Dossier Tunisia; Socio-Economic Survey 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2071025/TUNISIA_Socio-Economic+Survey+2022.pdf , Zugriff 25.7.2023
DFK- Deutschlandfunk Kultur (14.3.2023): Verhaftungswelle und Proteste Tunesien kämpft gegen einen Frontalangriff auf die Demokratie, https://www.deutschlandfunkkultur.de/tunesien-innenpolitische-lage-proteste-100.html , Zugriff 22.6.2023
GTAI - Germany Trade & Invest (15.4.2023): Politische Lähmung dämpft wirtschaftliche Aussichten, https://www.gtai.de/de/trade/tunesien/wirtschaftsumfeld/politische-laehmung-daempft-wirtschaftliche-aussichten-241246 , Zugriff 12.6.2023
HBS - Heinrich Böll Stiftung (7.3.2023): Verschwörungstheorien und Gewalt: Tunesien rutscht tiefer in die Krise, https://www.boell.de/de/2023/03/07/verschwoerungstheorien-und-gewalt-tunesien-rutscht-tiefer-die-krise , Zugriff 23.6.2023
MW - MideastWire (11.3.2022): Experts to Arabi 21: Confusing social tension in Tunisia foreshadows explosion, https://mideastwire.com/page/articleFree.php?id=77461 , Zugriff 25.7.2023
NTV- ntv Nachrichtenfernsehen GmbH (6.4.2023): Hilfe nur gegen Reformen Tunesien überwirft sich mit Internationalem Währungsfonds, https://www.n-tv.de/ticker/Tunesien-ueberwirft-sich-mit-Internationalem-Waehrungsfonds-article24038669.html , 12.6.2023
SRF- Schweizer Radio und Fernsehen (16.6.2023): Staatsverschuldung Tunesiens-Der IWF fordert Wirtschaftsreformen in Tunesien, https://www.srf.ch/news/international/staatsverschuldung-tunesiens-der-iwf-fordert-wirtschaftsreformen-in-tunesien , Zugriff 23.6.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
WKO [Österreich] (14.4.2023): Tunesien: Neuer Wirtschaftsbericht, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-tunesische-wirtschaft.html , Zugriff 12.6.2023
WKO [Österreich] (4.2023): Wirtschaftsbericht Tunesien – Außenwirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/tunesien-wirtschaftsbericht.pdf , Zugriff 12.6.2023
Medizinische Versorgung
Die medizinische Versorgung (einschließlich eines akzeptabel funktionierenden staatlichen Gesundheitswesens) hat das für ein Schwellenland übliche Niveau (AA 22.6.2023) - es ist zumindest in Tunis gut. Außerhalb der Hauptstadt ist mit einigen Einschränkungen zu rechnen (AA 13.7.2023). Tunesien hat lange Zeit in das Gesundheitswesen investiert, es gibt in allen Landesteilen staatliche Gesundheitseinrichtungen. Allerdings sind die rund 2.200 Einrichtungen trotz guter medizinischer Ausbildung der Beschäftigten oft in desolatem Zustand. Gerade die COVID-19-Pandemie zeigte die starken Defizite auf (ÖB 10.2022). Üblicherweise ist eine weitreichende Versorgung in den Ballungsräumen (Tunis, Sfax, Sousse) gewährleistet; Probleme gibt es dagegen in den entlegenen Landesteilen (AA 22.6.2023).
Bei einer in drei tunesischen Städten (Great Tunis, Sousse und Sfax) durchgeführten Umfrage zu sozioökonomischen Faktoren wurden, mittels Computer Assisted Telephone Interviewing (CATI)-Methode und Quotenstichproben auf der Grundlage der neuesten verfügbaren offiziellen Bevölkerungsdaten zwischen 5. und 8.1.2022 in jeder der genannten Zielstädte, Einwohner, bzw. eine Stichprobe von 300 Personen zwischen 16 und 35 Jahren, von One to One for Research and Polling befragt. Demnach ist die Verfügbarkeit von Fachärzten insbesondere in Sfax nicht mehr so einfach wie früher. Etwa 34,7 % der befragten Einwohner gaben an, dass sie immer Zugang zu Fachärzten haben, wogegen in Groß-Tunis und Sousse etwa 44 % der befragten Einwohner angaben, immer Zugang zu Fachärzten zu haben. Grundsätzlich ist für Frauen die Verfügbarkeit zu Fachärzten höher als jene für Männer. 44,7 % der befragten Frauen gaben an, immer Zugang zu haben, wogegen 22 % angaben, nur eingeschränkten Zugang zu haben (BFA 5.2.2022).
Eine stark angestiegene Anzahl an gut ausgestatteten Privatkliniken bedient meist Ausländer, u. a. zahlungskräftige Libyer und Algerier (ÖB 10.2022; vgl. AA 13.7.2023). Außerhalb der Hauptstadt ist mit einigen Einschränkungen zu rechnen (AA 13.7.2023).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen ist möglich. Die medizinische Behandlung von HIV-Infizierten bzw. AIDS-Kranken ist sichergestellt; es handelt sich jedoch um ein gesellschaftlich tabuisiertes Thema (AA 22.6.2023).
2005 wurden die beiden Krankenkassen (CNSS: Caisse nationale de sécurité sociale und CNRPS: Caisse nationale de retraite et de prévoyance sociale) zur Caisse Nationale d’Assurance Maladie (CNAM) zusammengelegt. Allerdings ist diese Kasse mit ca. 1 Milliarden Dinar hoch verschuldet – fehlende Beitragszahlungen und verteuerte Medikamente sind nur einige der Gründe (ÖB 10.2022).
In Einzelfällen kann es - insbesondere bei der Behandlung mit speziellen Medikamenten - Versorgungsprobleme geben (BMEIA 5.6.2023; vgl. EDA 9.5.2023). Krankenhäuser verlangen in der Regel vor der Behandlung eine finanzielle Garantie (schriftlich garantierte Kostenübernahme oder Vorschusszahlung) (EDA 9.5.2023). Ein Import dieser Medikamente ist grundsätzlich möglich, wenn auch nur auf eigene Kosten der Patienten. In Einzelfällen ist also eine konkrete Nachfrage bezüglich der Verfügbarkeit der benötigten Medikamente erforderlich, in den allermeisten Fällen sind sie vor Ort problemlos erhältlich (AA 22.6.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.7.2023): Tunesien: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tunesiensicherheit/219024 , Zugriff 21.7.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
BFA Staatendokumentation (Herausgeber) [Österreich], ONE TO ONE for Research and Polling (Autor) (5.4.2022): Dossier Tunisia; Socio-Economic Survey 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2071025/TUNISIA_Socio-Economic+Survey+2022.pdf , Zugriff 25.7.2023
BMEIA - Bundesministerium Europäische und Internationale Angelegenheiten [Österreich] (5.6.2023): Reiseinformationen Tunesien, http://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/ , Zugriff 7.6.2023
EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (9.5.2023): Reisehinweise für Tunesien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tunesien/reisehinweise-fuertunesien.html#eda931a7d , Zugriff 7.6.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 29.12.2022
Rückkehr
Es gibt keine speziellen Hilfsangebote für Rückkehrer. Soweit bekannt, werden zurückgeführte tunesische Staatsangehörige nach Übernahme durch die tunesische Grenzpolizei einzeln befragt und es erfolgt ein Abgleich mit den örtlichen erkennungsdienstlichen Registern. Sofern keine innerstaatlichen strafrechtlich relevanten Erkenntnisse vorliegen, erfolgt anschließend eine reguläre Einreise. Hinweise darauf, dass, wie früher üblich, den Rückgeführten nach Einreise der Pass entzogen und erst nach langer Wartezeit wieder ausgehändigt wird, liegen nicht vor. An der zugrunde liegenden Gesetzeslage für die strafrechtliche Behandlung von Rückkehrern hat sich indes nichts geändert. Sollte ein zurückgeführter tunesischer Staatsangehöriger sein Land illegal verlassen haben, ist mit einer Anwendung der Strafbestimmung in § 35 des Gesetzes Nr. 40 vom 14.5.1975 zu rechnen: „Jeder Tunesier, der beabsichtigt, ohne offizielles Reisedokument das tunesische Territorium zu verlassen oder zu betreten, wird mit einer Gefängnisstrafe zwischen 15 Tagen und sechs Monaten sowie einer Geldstrafe zwischen 30 und 120 DT (ca. 15 bis 60 Euro) oder zu einer der beiden Strafarten verurteilt. Bei Wiederholung der Tat (Rückfälligkeit) kann sich das im vorhergehenden Absatz aufgeführte Strafmaß für den Täter verdoppeln.“ Soweit bekannt, wurden im vergangenen Jahr ausschließlich Geldstrafen verhängt. Die im Gesetz aufgeführten Strafen kommen dann nicht zur Anwendung, wenn Personen das tunesische Territorium aufgrund höherer Gewalt oder besonderer Umstände ohne Reisedokument betreten (AA 22.6.2023).
Eine „Bescheinigung des Genusses der Generalamnestie“ wird auf Antrag vom Justizministerium ausgestellt und gilt als Nachweis, dass die in dieser Bescheinigung ausdrücklich aufgeführten Verurteilungen - kraft Gesetz - erloschen sind. Eventuelle andere, nicht aufgeführte zivil- oder strafrechtliche Verurteilungen bleiben unberührt. Um zweifelsfrei festzustellen, ob gegen eine Person weitere Strafverfahren oder Verurteilungen vorliegen, kann ein Führungszeugnis (das sog. „Bulletin Numéro 3“) beantragt werden (AA 22.6.2023).
Seit der Revolution 2011 sind tausende Tunesier illegal emigriert. Vor allem junge Tunesier haben nach der Revolution das Land verlassen, kehren nun teilweise zurück und finden so gut wie keine staatliche Unterstützung zur Reintegration. Eine kontinuierliche Quelle der Spannung ist die Diskrepanz zwischen starkem Migrationsdruck und eingeschränkten legalen Migrationskanälen. Die Reintegration tunesischer Migranten wird durch eine Reihe von Projekten von IOM unterstützt. Finanzielle Hilfe dafür kommt hauptsächlich von der EU, sowie aus humanitären Programmen u. a. der Schweiz und Norwegens (Programm AVRR). Rückkehrprojekte umfassen z. B. Unterstützung beim Aufbau von Mikrobetrieben oder im Bereich der Landwirtschaft, haben jedoch gem. Beobachtungen bislang kaum Erfolg gezeigt (ÖB 10.2022).
Als zweite Institution ist das ICMPD seit 10. Juni 2015 offizieller Partner in Tunesien im Rahmen des sog. „Dialog Süd“ – Programms (EUROMED Migrationsprogramm). Neben Ländern wie Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko und Syrien wird Tunesien dabei als „Plattform“ (interaktiv zu verfolgen unter: www.eurotun-migr.net ) für folgende Arbeitsbereiche gesehen:
• IBM: Integrated Border Management (IBM): technische und operative Unterstützung der nationalen Institutionen im Bereich grüne und blaue Grenzsicherung
• MIEUX: Migration EU Expertise: eine gemeinsame EU-ICMPD Initiative zur Stärkung der Nationalen Migrationsstrategie, insbesondere des Nationalen Migrationsobservatoriums (ONM)
Im Dezember 2020 hat die UGTT, der tunesischen Gewerkschaft, ein Büro für ausländische Arbeiter zum Schutz gegen Ausbeute, Rassismus und Verletzung ihrer sozialen - wie wirtschaftlichen Rechte eröffnet (ÖB 10.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf , Zugriff 28.6.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2084785/2022_10_00_%C3%96B_Asyll%C3%A4nderbericht_2022_Tunesien.docx , Zugriff 27.7.2023
2. Beweiswürdigung:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der Angaben des Beschwerdeführers vor dieser und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz, in die zitierten Länderberichte zu Tunesien sowie in die seitens des Beschwerdeführers vorgelegten Beweismittel.
Auszüge aus dem Informationsverbund zentrales Fremdenregister, dem zentralen Melderegister, dem Hauptverband österreichischer Sozialversicherungsträger und dem Strafregister wurden ergänzend zum vorgelegten Verwaltungsakt eingeholt.
Der unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichts.
2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Da der Beschwerdeführer vor den österreichischen Behörden keine identitätsbezeugenden Dokumente im Original in Vorlage brachte, steht seine Identität nicht fest. In seiner Erstbefragung behauptete er, die serbische Grenzpolizei habe ihm seinen tunesischen Reisepass abgenommen.
Die Feststellungen zu seiner Volljährigkeit, seiner Herkunft, seinen Lebensumständen, seinen Familienverhältnissen, seiner Bildung und Berufserfahrung, seiner Staatsangehörigkeit, seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seiner Konfession und seiner Ausreise nach Europa ergeben sich aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren sowie aus dem Umstand, dass den insoweit im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen in der Beschwerde auch nicht entgegengetreten wurde.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers gründen auf seinen Angaben im Verfahren sowie vorgelegten medizinischen Befunden. Einem im Verwaltungsakt einliegenden Ambulanzblatt des XXXX vom 21.08.2024, wo der Beschwerdeführer an jenem Tag vorstellig geworden war, ist zu entnehmen, dass er über rezidivierende Magenschmerzen und dunkles Blut am Stuhl, häufige und rasch nach dem Essen auftretende Stuhlgänge, sowie gelegentliche Übelkeit und Refluxbeschwerden geklagt habe. Miktionsbeschwerden bestünden keine, ebenfalls nehme er keine regelmäßige Medikation ein. Ein – ebenfalls im Akt einliegender und seitens der Ambulanz veranlasster – Laborbefund gestaltete sich vollkommen unauffällig. Vor dem BFA hatte der Beschwerdeführer im Übrigen ausdrücklich eingeräumt, bereits in der Apotheke in Tunesien als auch später in Serbien Medikamente für seine Magen-Darmprobleme erhalten zu haben. Das Beschwerdevorbringen, wonach er sich in einem schlechten, in Tunesien nicht behandelbaren Gesundheitszustand befinde, erweist sich vor diesem Hintergrund als unsubstantiiert. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers ist nicht ersichtlich und wurde auch niemals vorgebracht, vielmehr hatte er bereits in seiner Erstbefragung angegeben, dass er in Europa arbeiten und Geld in seine Heimat schicken wolle, während er vor dem BFA ausdrücklich zu Protokoll gab, er wolle arbeiten und würde auch jede Arbeit annehmen, die er finde.
Die Feststellungen zum Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich seit 22.07.2024 ergeben sich aus dem Verwaltungsakt in Zusammenschau mit eingeholten Auskünften aus dem zentralen Melderegister sowie dem Informationsverbund zentrales Fremdenregister. Aus letzteren gehen überdies ebenso die Feststellungen bezüglich des Inlandsaufenthaltes der Freundin des Beschwerdeführers, A.I., hervor.
Dass der Beschwerdeführer keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher oder gesellschaftlicher Hinsicht aufweist, ergibt sich aus dem Umstand, dass er solche im Verfahren weder darzulegen geschweige denn formell nachzuweisen vermochte. Einen Nachweis über einen besuchten Deutschkurs oder eine erfolgreich abgelegte Sprachprüfung hat er nie erbracht und die Mitgliedschaft in einem Verein oder einer sonstigen Organisation vor dem BFA ausdrücklich verneint. Eine Abfrage im Hauptverband österreichischer Sozialversicherungsträger belegt zudem, dass er im Bundesgebiet nie einer angemeldeten Erwerbstätigkeit nachging, während eine Abfrage in der Applikation Betreuungsinformation (Grundversorgung) bescheinigt, dass er zum Entscheidungszeitpunkt keine Grundversorgungsleistungen bezieht.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ist durch eine Abfrage im Strafregister der Republik belegt.
2.2. Zum Fluchtvorbringen und einer Rückkehrgefährdung des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer begründete seinen verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Wesentlichen damit, dass er Atheist sei und aufgrund dessen bzw. seiner Nichtzugehörigkeit zum Islam in seinem Herkunftsstaat Tunesien gesellschaftlich ausgegrenzt und auch von Privatpersonen geschlagen worden sei.
Das Bundesverwaltungsgericht tritt der belangten Behörde in ihren beweiswürdigenden Erwägungen, wonach der Beschwerdeführer keine Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung seiner Person in Tunesien darzulegen vermochte, bei.
So ist in Bezug auf dieses Fluchtvorbringen eingangs zu betonen, dass aus den einschlägigen, aktuellen Länderberichten in Tunesien - wenngleich 98-99 % der Bevölkerung Muslime sind - keine systematische, landesweite Verfolgung von Atheisten oder Nicht-Moslems stattfindet (vgl. etwa VwGH 22.12.2022, Ra 2022/14/0293). Juden und Christen werden etwa als gleichberechtigte Bürger akzeptiert und ist es sogar rechtlich möglich, vom Islam zum Christentum zu konvertieren. Zwar gibt es erheblichen gesellschaftlichen Druck gegen die Konversion vom Islam zu einer anderen Religion und werden tunesische Konvertiten häufig schikaniert und diskriminiert sowie innerhalb ihres sozialen und familiären Umfelds zunächst geächtet – was durchaus mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers in Einklang zu bringen ist - mittelfristig aber gesellschaftlich wieder akzeptiert und integriert (vgl. Punkt II.1.3.).
Sofern der Beschwerdeführer im Verfahren einräumte, niemals Verfolgung durch den tunesischen Staat, jedoch Übergriffe durch Privatpersonen erlebt zu haben, ist eingangs zu betonen, dass sich die betreffenden Angaben des Beschwerdeführers in Bezug auf konkrete Vorfälle äußerst vage und oberflächlich erwiesen und den höchstgerichtlichen Vorgaben, wonach das Vorbringen eines Asylwerbers, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen muss (vgl. VwGH 19.04.2023, Ra 2022/14/0056, mwN), nicht einmal im Ansatz gerecht wurden. So erschöpften sich die Schilderungen des Beschwerdeführers durchwegs in allgemein gehaltenen, vagen Stehsätzen, die er auch auf konkrete Nachfragen durch den Einvernahmeleiter nicht näher zu substantiieren vermochte. Exemplarisch führte er zunächst – befragt nach seiner konkreten Rückkehrbefürchtung – an: „Die Leute hassen mich, schlagen mich und ich bin von der Gesellschaft ausgeschlossen.“ Auf den Vorhalt, dass er unmittelbar davor noch zu Protokoll gegeben habe, nie persönlich bedroht worden zu sein und plötzlich behaupte, er sei geschlagen worden, replizierte der Beschwerdeführer: „Ich habe gemeint, dass ich geschlagen wurde. Die Sunniten haben mich oft geschlagen.“ Auf neuerliche Nachfrage, wer konkret ihn denn geschlagen habe, entgegnete er nur: „Leute mit Bärten und die haben mich mehrmals geschlagen.“ Auf weitere Nachfrage ergänzte er, dass es sich um Personen aus seiner Nachbarschaft gehandelt habe und sei es „mehr als 10 Mal“ passiert, jedoch habe er sich nicht an die Polizei gewandt, da diese nichts machen könne. In Anbetracht dieser überaus oberflächlichen Angaben ist darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung betont, dass die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen wird (vgl. VwGH 19.04.2023, Ra 2022/14/0056, mwN).
Auch wenn es vor dem Hintergrund der einschlägigen Länderberichte nachvollziehbar erscheint, dass der Beschwerdeführer als Nicht-Moslem Diskriminierungen oder Spannungen in Alltagssituationen erfahren haben und auch fallweise Opfer von körperlichen Übergriffen geworden sein mag, ist seinem Gesamtvorbringen auch keine Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie zu entnehmen, worunter - unter anderem - Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 MRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Art. 2 MRK geschützte Recht auf Leben und das in Art. 3 MRK niedergelegte Verbot der Folter (vgl. VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/0182, mwN).
Darüber hinaus ist in Bezug auf das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers festzuhalten, dass eine von Privatpersonen ausgehende Verfolgung nur dann Asylrelevanz entfalten kann, wenn der Herkunftsstaat generell nicht schutzfähig und -willig ist. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. VwGH 29.01.2020, Ra 2019/18/0228, mwN). Die Schutzfähigkeit und -willigkeit der staatlichen Behörden ist grundsätzlich daran zu messen, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei muss auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden, ob die revisionswerbenden Parteien unter Berücksichtigung ihrer besonderen Umstände in der Lage sind, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben (vgl. VwGH 29.06.2023, Ra 2022/01/0285, mwN). Die Festlegung eines Staates als sicherer Herkunftsstaat spricht für die Annahme einer grundsätzlich bestehenden staatlichen Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit der Behörden dieses Staates. Es bleibt aber diesfalls einem Fremden unbenommen, fallbezogen spezifische Umstände aufzuzeigen, die ungeachtet dessen dazu führen können, dass - hier: nach Art 3 MRK - geschützte Rechte im Fall seiner Rückführung in nach dem AsylG 2005 maßgeblicher Weise verletzt würden (vgl. VwGH 10.10.2022, Ra 2022/18/0076, mwN).
Gegenständlich handelt es sich bei Tunesien gemäß § 1 Z 11 HStV um einen sicheren Herkunftsstaat, der ausweislich der einschlägigen Länderberichte über einen grundsätzlich funktionierenden Sicherheits- und Justizapparat verfügt. Auch ergeben sich aus den Länderinformationen keinerlei Anhaltspunkte, wonach gewalttätige Übergriffe gegen Atheisten oder Nicht-Moslems seitens der tunesischen Behörden nicht ordnungsgemäß verfolgt würden, beispielsweise wird im aktuellen Länderinformationsblatt auf Medienberichte verwiesen, wonach am 09.05.2023 mehrere jüdische Personen bei einem Angriff auf eine Synagoge getötet und weitere verletzt worden seien, während Staatspräsident Kaïs Saïed im gegebenen Zusammenhang betonte, sein Land sei weiterhin sicher für Menschen jüdischen Glaubens und dass der Fall untersucht werde (vgl. Punkt II.1.3.). Der Beschwerdeführer, der vor dem BFA ausdrücklich einräumte, gar nicht erst den Versuch unternommen zu haben, von ihm erfahrene Übergriffe in Tunesien polizeilich zur Anzeige zu bringen, hat im Verfahren somit letztlich nichts dargetan, um in seinem konkreten Fall die Annahme einer grundsätzlich bestehenden Schutzfähigkeit und -willigkeit der Behörden des sicheren Herkunftsstaates Tunesien zu widerlegen.
Das Beschwerdevorbringen, wonach der Beschwerdeführer in Tunesien aus konfessionellen Gründen keine Beschäftigung finde, erweist sich ebenfalls als unsubstantiiert. Ungeachtet dessen, dass Schwierigkeiten eines Asylwerbers, im Heimatland einen seiner Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz zu erlangen, nicht als Verfolgung im Sinne der Genfer Konvention gewertet werden können (vgl. VwGH 17.06.1993, 93/01/0348, mwN) und allein wirtschaftliche Gründe eine Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu rechtfertigen vermögen (vgl. VwGH 20.02.1985, 85/01/0052), ergibt sich aus den einschlägigen Länderberichten kein genereller Ausschluss von Atheisten oder Nicht-Moslems vom tunesischen Arbeitsmarkt und stünde eine solche Annahme sogar in diametralem Widerspruch zur persönlichen Historie des Beschwerdeführers, der in seinem Herkunftsstaat selbst seinen Lebensunterhalt in Bars als Kellner sowie durch diverse Hilfsarbeiten bestritten hat.
Ebenso unsubstantiiert gestaltet sich die Behauptung in der Beschwerde, wonach des dem Beschwerdeführer aus konfessionellen Gründen nicht möglich sei, staatliche Akte wie die Verehelichung in Anspruch zu nehmen. Abgesehen davon, dass auch darin keine Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie zu erblicken ist (vgl. VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/0182, mwN), weist das aktuelle Länderinformationsblatt ausdrücklich darauf hin, dass bereits im September 2017 seitens des tunesischen Justizministeriums ein Dekret aufgehoben wurde, das tunesischen Frauen verboten hatte, nicht-muslimische Männer zu heiraten (vgl. Punkt II.1.3.).
Sofern in der Beschwerde insofern eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens moniert wird, als der Beschwerdeführer im Zuge seiner niederschriftlichen Einvernahme noch eine zweiwöchige Frist für die Erstattung einer Stellungnahme beantragt habe, die ihm jedoch verwehrt worden und seine umfassende Stellungnahme vom 23.09.2024 im bereits zuvor erlassenen Bescheid nicht mehr berücksichtigt worden sei, ist zu betonen, dass allfällige Verfahrensmängel im Verfahren vor der belangten Behörde durch ein mängelfreies Verfahren vor dem VwG saniert werden (vgl. VwGH 28.02.2022, Ra 2021/09/0251, mwN). Die Ausführungen in dieser im Verwaltungsakt einliegenden Stellungnahme vom 23.09.2024 (AS 291ff) erweisen sich im Wesentlichen wortident mit jenen in der eine Woche später eingebrachten Beschwerdeschrift vom 30.09.2024 (AS 315ff).
In einer Gesamtbetrachtung ist es dem Beschwerdeführer somit nicht gelungen, eine aktuelle, gegen seine Person gerichtete Verfolgungsgefahr, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen.
Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich auch den tragenden Erwägungen des BFA hinsichtlich der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an. Der Beschwerdeführer ist jung und erwerbsfähig, überdies ledig und ohne Sorgepflichten. Er hat in Tunesien eine dreizehnjährige Schulbildung mit einem Schwerpunkt für Wirtschaftsmanagement durchlaufen und seinen Lebensunterhalt in Bars als Kellner sowie durch diverse Hilfsarbeiten bestritten. Auch wenn er seine wirtschaftliche Situation als unbefriedigend empfunden haben mag, sind keinerlei Gründe ersichtlich, weshalb er nicht in der Lage sein sollte, sich in seinem Herkunftsstaat durch die neuerliche Aufnahme einer Tätigkeit, selbst wenn es sich dabei um eine Hilfstätigkeit handelt, eine Lebensgrundlage zu schaffen. Selbst wenn ihm infolge der Krebserkrankung seiner Mutter keine maßgebliche familiäre Unterstützung zu Teil würde, ist zu betonen, dass die Grundversorgung der Bevölkerung in Tunesien insbesondere dank staatlicher Subventions- und Interventionspolitik weitgehend gewährleistet ist. Das tunesische Sozialsystem bietet zwar keine großzügigen Leistungen, stellt aber dennoch einen gewissen Grundschutz für Bedürftige, Alte und Kranke dar. Der Deckungsgrad beträgt 95% (vgl. Punkt II.1.3.). In Anbetracht dieser Umstände kann letztlich nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat automatisch in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde.
Auch ist der Beschwerdeführer angesichts der weitgehend stabilen Sicherheitslage in seinem Heimatgouvernement XXXX im Norden des Landes nicht von willkürlicher Gewalt infolge eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes bedroht. Die Sicherheitslage in Tunesien ist vor allem in den südlichen Wüstengebieten (Grenze zu Libyen und Algerien) angespannt, sowie entlang der Grenze zu Algerien im Westen des Landes, dort vor allem im Gebiet um den Jebel Chaambi westlich von Kasserine. Das Risiko von terroristischen Anschlägen ist weiterhin gegeben, es ist aber eine spürbare Verringerung in den letzten Jahren feststellbar. Das Jahr 2015 bildete mit drei großen Anschlägen einen Höhepunkt, seitdem und vor allem 2021 und 2022 kam es zu einer deutlichen Reduktion terroristischer Aktivitäten. Laut österreichischem Außenministerium gilt eine partielle Reisewarnung (Sicherheitsstufe 5) für die Saharagebiete, das Grenzgebiet zu Algerien und die westlichen Landesteile, überdies bestehen Reisewarnungen für die Region südlich der Orte Tozeur – Douz – Ksar Ghilane – Tataouine – Zarzis (vgl. Punkt II.1.3.). XXXX ist hiervon jedoch nicht betroffen. Nicht zuletzt gilt Tunesien gemäß § 1 Z 11 HStV als sicherer Herkunftsstaat.
Es waren daher die entsprechenden Feststellungen zu treffen.
2.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Zu den zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat ausgewählten Quellen wird angeführt, dass es sich hierbei um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen, sowohl staatlichen als auch nicht-staatlichen Ursprungs handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Zur Aussagekraft der einzelnen Quellen wird angeführt, dass zwar in nationalen Quellen rechtsstaatlich-demokratisch strukturierter Staaten, von denen der Staat der Veröffentlichung davon ausgehen muss, dass sie den Behörden jenes Staates, über den berichtet wird, zur Kenntnis gelangen, diplomatische Zurückhaltung geübt wird, wenn es um kritische Sachverhalte geht, doch andererseits sind gerade diese Quellen aufgrund der nationalen Vorschriften vielfach zu besonderer Objektivität verpflichtet, weshalb diesen Quellen keine einseitige Parteinahme unterstellt werden kann. Zudem werden auch Quellen verschiedener Menschenrechtsorganisationen herangezogen, welche oftmals das gegenteilige Verhalten aufweisen und so gemeinsam mit den staatlich-diplomatischen Quellen ein abgerundetes Bild ergeben. Bei Berücksichtigung dieser Überlegungen hinsichtlich des Inhaltes der Quellen, ihrer Natur und der Intention der Verfasser handelt es sich nach Ansicht des erkennenden Richters bei den Feststellungen um ausreichend ausgewogenes und aktuelles Material (vgl. VwGH 04.04.2001, 2000/01/0348, mwN).
Der Beschwerdeführer trat den Quellen und deren Kernaussagen im Beschwerdeverfahren auch nicht substantiiert entgegen.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde:
3.1. Zum Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1, Abschnitt A, Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Wie in der Beweiswürdigung unter Punkt II.2.2. dargelegt, konnte der Beschwerdeführer im gegenständlichen Fall keine Gründe glaubhaft machen, die für eine asylrelevante Verfolgung sprächen. Er ist in Tunesien nicht der Gefahr einer individuellen Verfolgung oder Bedrohung aufgrund seines Atheismus bzw. seiner Nichtzugehörigkeit zum islamischen Glauben ausgesetzt.
Eine darüberhinausgehende Verfolgung wurde weder von Seiten des Beschwerdeführers behauptet, noch war eine solche für das Bundesverwaltungsgericht erkennbar.
Dem Beschwerdeführer ist es damit nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung von maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen.
Aus diesen Gründen ist festzustellen, dass dem Beschwerdeführer im Herkunftsstaat Tunesien keine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht und war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG als unbegründet abzuweisen.
3.2. Zum Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK (ZPERMRK) bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Gemäß Art. 2 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf Leben geschützt. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Die Protokolle Nr. 6 und Nr. 13 zur Konvention betreffen die Abschaffung der Todesstrafe.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 01.07.2024, Ra 2024/20/0347, mwN).
Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrscht, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (vgl. erneut VwGH Ra 2024/20/0347, mwN).
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung für sich genommen selbst ein Leben im Herkunftsstaat in ärmlichen Verhältnissen nicht dazu führt, dass eine Verletzung des Art. 3 EMRK gegeben sein könnte (vgl. erneut VwGH Ra 2024/20/0347, mwN).
Dem Beschwerdeführer droht in Tunesien keine Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung. Es droht ihm auch keine reale Gefahr, im Falle seiner Rückkehr entgegen Art. 3 EMRK behandelt zu werden. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK – was in Tunesien aufgrund der Sicherheitslage grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann – ist hingegen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht ausreichend. Diese Lebensumstände betreffen sämtliche Personen, die in Tunesien leben und können daher nicht als Grund für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten herangezogen werden. So liegt hinsichtlich des Beschwerdeführers kein stichhaltiger Grund dafür vor, anzunehmen, dass er bei seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat tatsächlich Gefahr liefe, die Todesstrafe oder Hinrichtung, die Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung zu erleiden oder einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes ausgesetzt zu sein.
Nachdem keine Gründe ersichtlich sind, die auf den Vorwurf einer Straftat, welche zur Verhängung der Todesstrafe, der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat hindeuten könnten, ist ein "ernsthafter Schaden" im Sinne des Art. 15 der Statusrichtlinie auszuschließen.
Ein bewaffneter Konflikt besteht in Tunesien ebenfalls nicht. Zwar ist die Sicherheitslage nicht mit jener in Österreich vergleichbar, jedoch erreichen die nach den einschlägigen Länderberichten vorgekommenen sicherheitsrelevanten Vorfälle nicht ein derart hohes Niveau, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen würden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Tunesien alleine durch seine Anwesenheit im Staatsgebiet und insbesondere in seiner Heimatprovinz Tunis tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. Punkt II.1.3.). Risikoerhöhende Umstände im Hinblick auf den Beschwerdeführer wurden im Verfahren ebenfalls nicht substantiiert vorgebracht und wurde nicht dargelegt, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation in Tunesien und den hiermit verbundenen Umständen spezifisch von willkürlicher Gewalt betroffen wäre. Solche Umstände sind im Verfahren auch nicht hervorgekommen. Nicht zuletzt gilt Tunesien gemäß § 1 Z 11 HStV als sicherer Herkunftsstaat.
Hinweise auf eine allgemeine existenzbedrohende Notlage in Tunesien (allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse) liegen ebenfalls nicht vor, weshalb aus diesem Blickwinkel bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Vorliegen eines Sachverhaltes gemäß Art. 2 oder 3 EMRK abgeleitet werden kann. Es kann auf Basis der Länderfeststellungen nicht davon ausgegangen werden, dass generell jede Person im Falle einer Rückkehr in nach Tunesien mit existentiellen Nöten konfrontiert ist.
Es wurden im Verfahren auch unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Beschwerdeführers keine exzeptionellen Umstände aufgezeigt, wonach im Falle seiner Rückkehr nach Tunesien die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz im konkreten Fall nicht gedeckt werden könnten (vgl. Punkt II.2.2.). Der Umstand, dass sein Lebensunterhalt in Tunesien möglicherweise bescheidener ausfallen mag, als er in Österreich sein könnte, rechtfertigt nicht die Annahme, ihm wäre im Falle der Rückkehr die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten (vgl. VfGH 24.02.2020, E 3683/2019; zur "Schwelle" des Art. 3 EMRK vgl. VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059).
In Bezug auf die seitens des Beschwerdeführers im Verfahren geltend gemachte Gesundheitsbeeinträchtigung in Gestalt von niederschwelligen, rezidivierenden Problemen in Zusammenhang mit dem Verdauungstrakt ist zu betonen, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch im Hinblick auf eine mögliche Verletzung von Art. 3 EMRK ein Fremder im Allgemeinen kein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und der Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. VwGH 15.06.2021, Ra 2021/19/0071, mwN und unter Hinweis auf EGMR 13.12.2016, Paposhvili/Belgien, 41738/10).
Hinsichtlich schwerer Erkrankungen hat der EGMR im Urteil (der Großen Kammer) vom 07.12.2021, Savran/Dänemark, 57467/15, neuerlich (unter Hinweis auf EGMR [Große Kammer] 13.12.2016, Paposhvili/Belgien, 41738/10) betont, dass es Sache des Fremden ist, Beweise vorzulegen, die zeigen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, er würde im Fall der Durchführung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme einem realen Risiko einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung unterzogen. Erst wenn solche Beweise erbracht werden, ist es Sache der Behörden des ausweisenden Staats, im Zuge der innerstaatlichen Verfahren jeden dadurch aufgeworfenen Zweifel zu zerstreuen und die behauptete Gefahr einer genauen Prüfung zu unterziehen, im Zuge derer die Behörden im ausweisenden Staat die vorhersehbaren Konsequenzen der Ausweisung auf die betroffene Person im Empfangsstaat im Lichte der dort herrschenden allgemeinen Lage und der persönlichen Umstände des Betroffenen erwägen müssen. Die Verpflichtungen des ausweisenden Staats zur näheren Prüfung werden somit erst dann ausgelöst, wenn die oben genannte (hohe) Schwelle überwunden wurde und infolge dessen der Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK eröffnet ist (Rn. 135; vom EGMR in der Rn. 140 auch als "Schwellentest" ["threshold test"] bezeichnet, der bestanden werden muss, damit die weiteren Fragen, wie etwa nach der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit einer angemessenen Behandlung, Relevanz erlangen) (vgl. VwGH 06.05.2022, Ra 2022/20/0108, mwN).
Umstände, welche die Annahme rechtfertigen würden, dass im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach Tunesien in Anbetracht seiner niederschwelligen, rezidivierenden Probleme in Zusammenhang mit dem Verdauungstrakt die (hohe) Eingriffsschwelle, bei deren Überschreitung im Lichte der Judikatur des EGMR von einer Verletzung des Art. 3 EMRK ausgegangen werden kann, fallgegenständlich überschritten wäre (zur "Schwelle" des Art. 3 EMRK vgl. VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059), wurden zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens substantiiert dargelegt und sind auch nicht hervorgekommen. Aus den gegenständlich vorliegenden Befunden und dem Gesamtvorbringen im Verfahren ergaben sich keinerlei Hinweise auf eine schwere Erkrankung des Beschwerdeführers. Die medizinische Grundversorgung ist insbesondere in Tunis – der Heimatstadt des Beschwerdeführers – gut (vgl. Punkt II.1.3.) und hatte er im Verfahren explizit darauf hingewiesen, dass er sich bereits in seinem Herkunftsstaat aufgrund seiner Verdauungsprobleme in medikamentöser Behandlung befand. Eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers ergab sich im Verfahren ebenfalls nicht einmal andeutungsweise, sodass er auch die Möglichkeit hat, sich neuerlich auf dem tunesischen Arbeitsmarkt zu integrieren, wobei im Hinblick auf eine mögliche Verletzung von Art. 3 EMRK ein Fremder im Allgemeinen kein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, sofern der Betroffene Zugang zur notwendigen Behandlung hat (vgl. VwGH 15.06.2021, Ra 2021/19/0071, mwN und unter Hinweis auf EGMR 13.12.2016, Paposhvili/Belgien, 41738/10).
Aus den dargestellten Umständen ergibt sich somit, dass eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Tunesien nicht automatisch dazu führt, dass er in eine unmenschliche Lage bzw. eine existenzielle Notlage geraten und in seinen durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechten verletzt würde.
Die Beschwerde war daher auch hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen.
3.3. Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß § 58 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird. Die formellen Voraussetzungen des § 57 AsylG 2005 sind allerdings nicht gegeben und werden in der Beschwerde auch nicht behauptet. Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz war dem Beschwerdeführer daher nicht zuzuerkennen.
Die Beschwerde war daher auch hinsichtlich Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen.
3.4. Zur Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 hat das Bundesamt einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen, wenn eine Rückkehrentscheidung rechtskräftig auf Dauer unzulässig erklärt wurde. Es ist daher zu prüfen, ob eine Rückkehrentscheidung auf Basis des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG für unzulässig zu erklären ist.
Der mit "Schutz des Privat- und Familienlebens" betitelte § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet wie folgt:
„(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.“
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sowie des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes und verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Im gegenständlichen Fall verfügt der Beschwerdeführer über kein im Sinne des Art. 8 EMRK geschütztes Familienleben in Österreich sowie auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten. Zwar wird nicht verkannt, dass er seit seiner Einreise vor knapp drei Monaten bei seiner im Bundesgebiet niedergelassenen Freundin lebt und von dieser finanziell unterstützt wird, ob außerhalb des Bereiches des insbesondere zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern ipso iure zu bejahenden Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK ein Familienleben vorliegt, hängt jedoch nach der Rechtsprechung des EGMR jeweils von den konkreten Umständen ab, wobei für die Prüfung einer hinreichend stark ausgeprägten persönlichen Nahebeziehung gegebenenfalls auch die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung sind. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 09.09.2021, Ra 2020/22/0174, mwN). Gegenständlich ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer seine Freundin A.R. zunächst im Juli 2023 während seines Serbien-Aufenthaltes auf einem Technofestival in XXXX kennengelernt und das gesamte darauffolgende Jahr jedoch nur telefonischen Kontakt zu ihr hatte, während er sie erst jetzt - nach seiner Einreise in Österreich im Juli 2024 vor etwa drei Monaten – persönlich wiedergesehen hat. Die Dauer des Zusammenlebens ist demnach im konkreten Fall als überaus kurz zu bewerten. Auch wenn A.R. dem Beschwerdeführer Unterkunft gewährt und er derzeit finanziell von ihr unterstütz wird, steht er in keinem wirtschaftlichen oder sonstigen Abhängigkeitsverhältnis zu ihr, da es dem volljährigen und erwerbsfähigen Beschwerdeführer – der in Tunesien weder eine asylrelevante Verfolgung noch sonstige Rückkehrbefürchtung zu gewärtigen hat (vgl. Punkt II.3.1 und II.3.2.) - jederzeit offensteht, in seinen Herkunftsstaat zurückzukehren und dort seinen Lebensunterhalt aus eigenem zu bestreiten, überdies hätte er als Asylwerber in Österreich Anspruch auf Grundversorgungsleistungen. Mangels des Bestehens eines finanziellen oder anderweitig gearteten Abhängigkeitsverhältnisses ist das Vorliegen eines im Sinne des Art. 8 EMRK schützenswerten Familienlebens des Beschwerdeführers in Bezug auf seine in Österreich lebende Freundin daher vor dem Hintergrund der einschlägigen Judikatur zu verneinen. Der Vollständigkeit halber ist im gegebenen Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass bei der Gewichtung der für den Fremden sprechenden Umstände im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend einbezogen werden darf, dass er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Diese Überlegungen gelten insbesondere auch für eine Eheschließung mit einer in Österreich aufenthaltsberechtigten Person, wenn dem Fremden zum Zeitpunkt des Eingehens der Ehe die Unsicherheit eines gemeinsamen Familienlebens in Österreich in evidenter Weise klar sein musste und daher umso mehr für eine in einer solchen Situation begründeten Lebensgemeinschaft. Nach der Rechtsprechung des EGMR kann sich ein Beschwerdeführer im Kontext des Art. 8 MRK nicht auf eine Beziehung zu einer neuen Freundin und die Geburt eines Kindes aus dieser Beziehung berufen, wenn sie zu einem Zeitpunkt zustande kam, als der Aufenthalt unsicher war (vgl. VwGH 31.01.2022, Ra 2021/20/0486, mwN). Nachdem dem Beschwerdeführer – abgesehen von seiner temporären Aufenthaltsberechtigung als Asylwerber ab Ende Juli 2024 – zu keinem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht zukam, durften somit weder er noch in gleicher Weise A.R. je darauf vertrauen, in Österreich dauerhaft eine Beziehung führen zu können. Es ist dem Beschwerdeführer und A.R. im konkreten Fall somit ohne Weiteres zumutbar, den Kontakt zumindest temporär – für die Dauer eines ordnungsgemäßen Niederlassungsverfahrens – (abermals) über moderne Kommunikationsmittel oder allenfalls Besuchsaufenthalte außerhalb des Schengen-Raumes aufrecht zu erhalten, zumal gegen ihn gegenständlich auch kein Einreiseverbot verhängt wurde.
Zu prüfen wäre darüber hinaus ein weiterer Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers. Unter "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva u.a. gg Lettland, EuGRZ 2006, 554).
Unter Berücksichtigung der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. etwa Erkenntnis vom 26.06.2007, 2007/01/0479 zu einem dreijährigen Aufenthalt im Bundesgebiet oder auch Erkenntnis vom 15.12.2015, Ra 2015/19/0247 zu einem zweijährigem Aufenthalt in Verbindung mit dem Umstand, dass der Beschwerdeführer mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet war), des Verfassungsgerichtshofes (29.11.2007, B 1958/07, wonach im Fall eines sich seit zwei Jahren im Bundesgebiet aufhältigen Berufungswerbers die Behandlung der Beschwerde wegen Verletzung des Art. 8 EMRK abgelehnt wurde; ebenso 26.04.2010, U 493/10-5 im Falle eines fünfjährigen Aufenthaltes) und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (siehe etwa EGMR, 08.04.2008, Nnyanzi v. UK, 21878/06) vermag der lediglich knapp drei Monate andauernde Inlandsaufenthalt des Beschwerdeführers sein Interesse an einem Verbleib in Österreich nicht maßgeblich aufzuwerten.
Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht alleine maßgeblich, sondern ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 05.10.2020, Ra 2020/19/0330, mwN). Liegt eine relativ kurze Aufenthaltsdauer eines Fremden in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. VwGH 03.12.2019, Ra 2019/18/0471, mwN), wobei nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes selbst die Kombination aus Fleiß, Arbeitswille, Unbescholtenheit, dem Bestehen sozialer Kontakte in Österreich, dem verhältnismäßig guten Erlernen der deutschen Sprache sowie der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vor dem Hintergrund einer Aufenthaltsdauer von knapp vier Jahren keine "außergewöhnliche Integration" darstellt (vgl. VwGH 18.09.2019, Ra 2019/18/0212).
Fallgegenständlich beruhte der bisherige Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet als Asylwerber lediglich auf einer temporären, nicht endgültig gesicherten rechtlichen Grundlage, weshalb er während der gesamten Dauer seines Aufenthaltes auch nicht darauf vertrauen durfte, dass er sich in Österreich auf rechtlich gesicherte Weise bleibend verfestigen kann. Der seitens des Verwaltungsgerichtshofes in ständiger Rechtsprechung ins Treffen geführte Aspekt, es müsse unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK nicht akzeptiert werden, dass ein Fremder mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen (vgl. VwGH 29.06.2022, Ra 2021/20/0403, mwN), trifft insoweit auch auf den vorliegenden Beschwerdefall zu.
Wenngleich das Bundesverwaltungsgericht nicht verkennt, dass der Beschwerdeführer zum Entscheidungszeitpunkt keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung bezieht, konnte er auch keine maßgeblichen Integrationsbemühungen nachweisen. Er besuchte bisher keinen Deutschkurs, hat keine Sprachprüfung erfolgreich abgelegt und ging in Österreich zu keinem Zeitpunkt einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nach. Ohnedies würde das Gewicht seiner privaten Interessen letztlich maßgeblich dadurch relativiert werden, dass sie allesamt über einen Zeitraum entstanden, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 31.01.2022, Ra 2021/20/0486, mwN). Seine Integration kann vor dem Hintergrund seines knapp dreimonatigen Inlandsaufenthalts im Lichte der vorzitierten, höchstgerichtlichen Judikatur somit keineswegs als "außergewöhnlich" bezeichnet werden. Auch etwaige maßgebliche gesellschaftliche Anknüpfungspunkte – etwa ein nachhaltiger Freundeskreis, eine Vereinsmitgliedschaft oder ein ehrenamtliches Engagement – kamen nicht einmal andeutungsweise hervor. Sollte es der Beschwerdeführer verabsäumt haben, im Verfahren konkrete Angaben zu seiner privaten und familiären Situation zu machen, die erst eine Abwägung daraus allenfalls erwachsender Interessen mit den gegenläufigen öffentlichen Interessen im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK ermöglicht hätten, ist die Behörde bzw. das VwG zu einer Interessenabwägung auch nicht verpflichtet und jedenfalls nicht gehalten, von sich aus an den Fremden heranzutreten, um ihn zur Bekanntgabe allenfalls bedeutsamer, seiner persönlichen Sphäre zugehöriger und damit von einer erhöhten Mitwirkungspflicht umfasster Umstände zu veranlassen (vgl. VwGH 14.02.2002, 99/18/0199, mwN).
Dementgegen kann nach wie vor von einem Bestehen von Bindungen des Beschwerdeführers zu seinem Herkunftsstaat Tunesien ausgegangen werden, zumal er dort den weit überwiegenden Teil seines Lebens verbracht hat, hauptsozialisiert wurde und seine Enkulturation erfahren hat. Er hat in Tunesien seine Schulbildung durchlaufen und Berufserfahrung gesammelt. Er spricht nach wie vor seine Muttersprache und ist mit den regionalen Sitten und Gebräuchen der tunesischen Kultur weiterhin vertraut. Auch verfügt er in seiner Heimatstadt Tunis über familiäre Anknüpfungspunkte, insbesondere in Gestalt seiner Mutter, bei der er bis zu seiner Ausreise gelebt hat. Raum für die Annahme, dass der Beschwerdeführer im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG gar keine Bindungen zu seinem Herkunftsstaat mehr hat, besteht sohin nicht.
Es sind – unter der Schwelle des Art. 2 und 3 EMRK – aber auch die Verhältnisse im Herkunftsstaat unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens zu berücksichtigen, so sind etwa Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder auch Behandlungsmöglichkeiten bei medizinischen Problemen bzw. eine etwaige wegen der dort herrschenden Verhältnisse bewirkte maßgebliche Verschlechterung psychischer Probleme in die bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorzunehmende Interessensabwägung nach § 9 BFA-VG miteinzubeziehen (vgl. VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119). Eine diesbezüglich besonders zu berücksichtigende Situation liegt jedoch im Fall des volljährigen und erwerbsfähigen Beschwerdeführers, welcher zudem über eine umfassende Schulbildung und Berufserfahrung in seinem Herkunftsstaat verfügt, ebenfalls nicht vor. In Bezug auf seine im Verfahren geltend gemachte Gesundheitsbeeinträchtigung in Gestalt von niederschwelligen, rezidivierenden Problemen in Zusammenhang mit dem Verdauungstrakt ist darauf hinzuweisen, dass die medizinische Grundversorgung insbesondere in seiner Heimatstadt Tunis gut ist (vgl. Punkt II.1.3.) und hatte der Beschwerdeführer im Verfahren explizit darauf hingewiesen, dass er sich bereits in seinem Herkunftsstaat aufgrund seiner Verdauungsprobleme in medikamentöser Behandlung befand. Nach der - vom Verwaltungsgerichtshof übernommenen - Rechtsprechung des EGMR hat im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in seinem aktuellen Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielstaat nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, fällt nicht entscheidend ins Gewicht, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielland gibt. Es obliegt einem Fremden, substantiiert darzulegen, auf Grund welcher Umstände eine bestimmte medizinische Behandlung für ihn notwendig ist und dass diese nur in Österreich erfolgen kann. Denn nur dann ist ein sich daraus (allenfalls) ergebendes privates Interesse im Sinne des Art. 8 EMRK an einem Verbleib in Österreich - auch in seinem Gewicht – beurteilbar (vgl. VwGH 17.03.2021, Ra 2021/14/0052, mwN). Derartige Umstände wurden seitens des Beschwerdeführers jedoch zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens auch nur ansatzweise dargelegt.
Auch die strafgerichtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers stellt keine Stärkung seiner persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich dar, da der Verwaltungsgerichtshof davon ausgeht, dass es von einem Fremden, welcher sich im Bundesgebiet aufhält, als selbstverständlich anzunehmen ist, dass er die geltenden Rechtsvorschriften einhält (vgl. VwGH 26.04.2005, 2005/21/0063, mwN).
Den persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an einem weiteren Aufenthalt in Österreich steht somit das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens gegenüber. Diesem gewichtigen öffentlichen Interesse kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu (vgl. VwGH 29.01.2021, Ra 2021/17/0014, mwN).
Würde sich ein Fremder nunmehr generell in einer solchen Situation wie der Beschwerdeführer erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen können, so würde dies dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen. Überdies würde dies dazu führen, dass Fremde, die die fremdenrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen beachten, letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, die ihren Aufenthalt im Bundesgebiet lediglich durch ihre illegale Einreise und die Stellung eines unbegründeten oder sogar rechtsmissbräuchlichen Asylantrags erzwingen, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (zum allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen, vgl. VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007; überdies VfSlg. 19.086/2010, wo der Verfassungsgerichtshof auf dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes Bezug nimmt und in diesem Zusammenhang erklärt, dass „eine andere Auffassung sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen würde“).
Aus dem Gesagten schlägt die im vorliegenden Beschwerdefall vorzunehmende Interessensabwägung im Rahmen einer Gesamtschau zuungunsten des Beschwerdeführers und zugunsten des öffentlichen Interesses an seiner Ausreise aus. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts ergibt eine individuelle Abwägung der berührten Interessen, dass ein Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers durch seine Ausreise als im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK verhältnismäßig angesehen werden kann und war die von der belangten Behörde erlassene Rückkehrentscheidung daher im Ergebnis nicht zu beanstanden, weshalb auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 nicht in Betracht kommt.
Die sonstigen Voraussetzungen einer Rückkehrentscheidung nach § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 und § 52 Abs. 2 Z 2 FPG sind ebenso erfüllt. Sie ist auch sonst nicht (etwa vorübergehend nach Art. 8 EMRK, vgl. § 9 Abs. 3 BFA-VG und VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119) unzulässig. Der Beschwerdeführer verfügt auch über kein sonstiges Aufenthaltsrecht.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, sodass sie auch hinsichtlich Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen war.
3.5. Zur Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides):
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde zudem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Tunesien zulässig ist.
Diesbezüglich ist darauf zu hinzuweisen, dass ein inhaltliches Auseinanderfallen der Entscheidungen nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (zur Frage der Gewährung von subsidiärem Schutz) und nach § 52 Abs. 9 FPG (zur Frage der Zulässigkeit der Abschiebung) ausgeschlossen ist. Damit ist es unmöglich, die Frage der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat im Rahmen der von Amts wegen zu treffenden Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG neu aufzurollen und entgegen der getroffenen Entscheidung über die Versagung von Asyl und subsidiärem Schutz anders zu beurteilen (vgl. VwGH 27.04.2021, Ra 2021/19/0082, mwN).
Die Abschiebung ist auch nicht unzulässig im Sinne des § 50 Abs. 2 FPG, da dem Beschwerdeführer keine Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Weiters steht der Abschiebung keine Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den EGMR im Sinne des § 50 Abs. 3 FPG entgegen.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, sodass sie auch hinsichtlich Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen war.
3.6. Zur Frist für die freiwillige Ausreise und zur Aberkennung der aufschiebenden Wirkung (Spruchpunkte VI. und VII. des angefochtenen Bescheides):
Einer Beschwerde gegen eine abweisende Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz kann das BFA die aufschiebende Wirkung aberkennen, wenn der Asylwerber aus einem sicheren Herkunftsstaat (§ 19) stammt (Z 1). Gegenständlich stammt der Beschwerdeführer aus Tunesien, was gemäß § 1 Z 11 HStV als sicherer Herkunftsstaat gilt. Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung erfolgte daher dem Grunde nach zu Recht.
Dass eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht besteht, wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß § 18 BFA-VG durchführbar wird, ergibt sich bereits unmittelbar aus § 55 Abs. 1a FPG, sodass es hierfür keiner normativen Anordnung im Spruch des angefochtenen Bescheides bedarf. Insoweit kann der Beschwerdeführer auch nicht in Rechten verletzt sein.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, sodass sie auch hinsichtlich der Spruchpunkte VI. und VII. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen war.
4. Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht.
Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungsrelevante Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Ferner muss die Verwaltungsbehörde die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht diese tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung in seiner Entscheidung teilen. Auch darf im Rahmen der Beschwerde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten ebenso außer Betracht zu bleiben hat, wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. VwGH 28.05.2014, 2014/20/0017). Eine mündliche Verhandlung ist bei konkretem sachverhaltsbezogenem Vorbringen des Revisionswerbers vor dem VwG durchzuführen (vgl. VwGH 30.06.2015, Ra 2015/06/0050, mwN). Eine mündliche Verhandlung ist ebenfalls durchzuführen zur mündlichen Erörterung von nach der Aktenlage strittigen Rechtsfragen zwischen den Parteien und dem Gericht (vgl. VwGH 30.09.2015, Ra 2015/06/0007, mwN) sowie auch vor einer ergänzenden Beweiswürdigung durch das VwG (vgl. VwGH 16.02.2017, Ra 2016/05/0038). § 21 Abs. 7 BFA-VG 2014 erlaubt andererseits das Unterbleiben einer Verhandlung, wenn - wie im vorliegenden Fall - deren Durchführung in der Beschwerde ausdrücklich beantragt wurde, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint (vgl. VwGH 23.11.2016, Ra 2016/04/0085; 22.01.2015, Ra 2014/21/0052 ua). Diese Regelung steht im Einklang mit Art. 47 Abs. 2 GRC (vgl. VwGH 25.02.2016, Ra 2016/21/0022).
Die vorgenannten Kriterien treffen in diesem Fall zu. Der Sachverhalt ist durch die belangte Behörde vollständig erhoben und weist - aufgrund des Umstandes, dass zwischen der Entscheidung durch die belangte Behörde und jener durch das Bundesverwaltungsgericht lediglich etwa ein Monat liegt - die gebotene Aktualität auf. Der Beweiswürdigung durch die belangte Behörde hat sich das Bundesverwaltungsgericht in den entscheidungswesentlichen Punkten zur Gänze angeschlossen. Die wesentlichen Feststellungen, insbesondere zu den persönlichen Verhältnissen des Beschwerdeführers, sind unbestritten geblieben und wurde in der Beschwerde auch in Bezug auf eine etwaige Rückkehrgefährdung kein sachbezogenes Vorbringen erstattet, dass den beweiswürdigenden Erwägungen und getroffenen Feststellungen der belangten Behörde in substantiierter Weise entgegentreten würde, sodass sich der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt erweist. Das Gericht musste sich auch keinen persönlichen Eindruck vom Beschwerdeführer verschaffen, da es sich um einen eindeutigen Fall in dem Sinne handelt, dass auch bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn der persönliche Eindruck ein positiver ist (vgl. VwGH 24.01.2023, Ra 2022/14/0236, mwN).
Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte sohin gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 VwGVG unterbleiben.
Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.
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